vonSchröder & Kalender 24.09.2007

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert heftig in nördlicher Richtung.

Von Tibet, diesem Evergreen der Desinformation, der heute immer noch fröhliche Urständ feiert, handelt bereits ein Kapitel in Felix Greenes Buch, ›A Curtain of Ignorance‹, das ich 1966 im Melzer Verlag mit dem Titel ›Listen Lügen Lobbies‹ verlegte.

Es ging um die »chinesischen Aggression«, Text und Musik: der Dalai Lama. Seit 1959 tingelt er durch die Welt und redet vor Staatsoberhäuptern, Parlamenten und Friedensuniversitäten über Massensterilisation tibetischer Frauen, Massendeportation tibetischer Kinder, Massenumsiedlung von fünf Millionen Chinesen in sein Land. Nach seiner Rechnung müßten inzwischen hundert Millionen Chinesen in Tibet leben. Jetzt kennt er überhaupt keine Skrupel mehr und scheut sich nicht, von »kulturellem Völkermord« zu reden.

Vor den Fakten eine kleine Vorspeise: Wenn Klaus Kinkel sich bei laufender ›Tagesschau‹-Kamera keinen Gebetsschal vom Dalai Lama umlegen ließ, beweist das zwar noch nicht viel, zeigt aber, daß wenigstens ein Referent im Auswärtigen Amt die Dossiers gelesen hatte. Und nun zu dem, was mit »Om mani padme hum« und gewaltfreiem Buddhismus wenig zu tun hat: Bis zur chinesischen ›Invasion‹ herrschte in Tibet Leibeigenschaft, die nicht weniger absolut war als die des europäischen Mittelalters. Mit die ersten ›Bräuche‹ des Lamaismus, die die Chinesen abschafften, waren Strafen wie Augen ausstechen, Zunge herausreißen und andere Verstümmelungen. Die ersten Krankenhäuser wurden 1951 von der Volksrepublik gebaut, und sie beendeten das System der Leibeigenschaft. So verloren die Klöster und Großgrundbesitzer ihre unbezahlten Arbeitskräfte – für die Mönchskaste und Feudalherren also in der Tat eine Katastrophe. Ihre Entrüstungsschreie waren es, die der Westen vernahm. Sie begannen nun das Märchen zu verbreiten, die Chinesen wollten Steuern auf Buddhastatuen erheben, um die Klöster und letztlich den Buddhismus auszurotten, und zettelten mit solcher Propaganda den Volksaufstand an, der 1959 zur Flucht des Dalai Lama und der kleinen feudalen Oberschicht nach Indien führte. Für keine der anschließend vorgebrachten Behauptungen von Sterilisationen und Deportationen gibt es irgendeinen Beweis. Der Journalist Stewart Gelder, der für die ›Daily Mail‹ Tibet bereiste, berichtete, daß er keinerlei Anzeichen für Völkermord oder Religionsunterdrückung gefunden habe.

Zeitsprung ins Jahr 2007: Es gibt in Tibet eintausendsechshundertdreiundvierzig Tempel – mehr als Dörfer und Städte –, und die Zahl der Mönche und Nonnen, die regelmäßig gegen Völkermord demonstrieren, liegt mit vierzigtausend über der Zahl der Hochschulabsolventen. Wir waren nicht in Lhasa, aber wir können lesen, und wer sich nur ein bißchen Mühe gibt und nicht nur dem Friedensgesäusel des Dalai Lama oder dem Feldgeschrei des Tibetfaschisten Heinrich Harrer lauschte, kommt doch sehr ins Grübeln.

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Also zur ›Invasion‹: Solange China von Tschiangkaischek regiert wurde, bestand in den Vereinigten Staaten kein Zweifel daran, daß Tibet ein Teil Chinas ist. Erst nach dem Zusammenbruch der Nationalregierung im Jahre 1949 begannen die USA ihre Doktrin durchzusetzen, Tibet sei ein »souveräner Staat«. Edgar Snow, auf dessen 1962 erschienenes Buch ›The Other Side of the River‹ ich durch Felix Greene aufmerksam wurde, weist darauf hin, daß sich die amerikanische Regierung während des Zweiten Weltkriegs ausdrücklich gegen einen Vorstoß der Briten verwahrte, Lhasa völkerrechtliche Souveränität zu verleihen. Im Gegenteil, sie schrieb auf die Demarche hin: »Die Regierung der Vereinigten Staaten ist der Tatsache eingedenk, daß die chinesische Regierung die Suzeränität über Tibet schon seit langem geltend macht und Tibet in der chinesischen Verfassung unter den Gebieten aufgeführt ist, aus denen sich das Territorium der Republik China zusammensetzt. Die amerikanische Regierung hat zu keiner Zeit diese Forderungen in Zweifel gezogen.«

Übrigens – o Wunder in der Lotusblüte – brauchten wir gar nicht nach Tibet zu pilgern, uns reichte Andechs, das dauerte nur wenige Minuten, um etwas über Lhasa zu erfahren: Ein ›heiliger Berg‹ heckt nämlich den anderen. Mal abgesehen vom Biergulasch und den besten Lammhaxen, die wir außerhalb Griechenlands gegessen haben, gab es dort oben noch einen Grenznutzen, nämlich die von Barbara in Sachen meiner Herzkranzgefäße getestete, also empirisch nachweisbare sehr gute Kerzenqualität. Und wo Dankbarkeit sich lohnt, wird das ›Heil der Kranken‹ gern von uns wahrgenommen. Die neue Gnadenkapelle ist ein häßlicher kleiner Anbau im renovierten Innenhof mit schrecklichen modernistischen Heiligenfiguren von Hedwig und Elisabeth sowie Schmiedeeisen-Paraphernalia. Jedoch hat inzwischen der Katholizismus selbst so fundamentalistische Züge angenommen, um nicht zu sagen steinzeitliche, daß davor die ganze moderne laizistische Theologie verblaßt.

Als wir vor ein paar Jahren die Kapelle besuchten, fiel uns darin ein sonderbarer Wand- und Deckenschmuck auf, eine Art Hahnentrittmuster. Beim genaueren Hinsehen war es etwas anderes: Der Ruß der vielen hundert flackernden Kerzen hatte sich auf die geweißten Wände und die Decke niedergeschlagen, und als wir unsere Kerze hinstellten, entschlüsselten wir das seltsame Muster, es bestand aus Tausenden von Handabdrücken auf der rußigen Wand. Ja, genau wie diese Handsilhouetten aus Ocker in den Bilderhöhlen von Südfrankreich und Nordspanien, die die Menschen der Eiszeit neben Urrindern, Mammuts, Wildpferden und Jagdszenen vierzehntausend Jahre vor Christi Geburt an die Wand patschten. Diese Tectiformes sind offenbar eine atavistische Angewohnheit. Einer hat in Andechs wieder damit angefangen – flache Hand auf den Ruß –, und inzwischen sind es Abertausende. Alle Wände voll, die Decke übersät, die ist vier Meter hoch, da kommst du nur über die Lausbubenleiter dran, na, ist ja für die heutigen Fingerkletterer wieder ein Klacks. Der Rückfall in altsteinzeitliche Gewohnheiten überzeugte uns sofort, und wir gaben dem Drang ebenfalls nach.

Im Gasthof, nicht in der großen Schwemme, sondern in der ziemlich luxuriösen Neueröffnung des listigen Cellerarius Pater Anselm Bilgri, setzten wir uns zu zwei Frauen an den Tisch, eine um die vierzig, die andere um die fünfzig Jahre alt, Pädagoginnen – das war schnell klar – eines Augsburger Lyzeums oder Gymnasiums. Die Ältere, eine unterdrückte Biologielehrerin, japste – ha happ – wie eine Barbe, weil sie manchmal auch etwas sagen wollte, aber die Jüngere mit ihren kleinen Graupenzähnchen biß sich die Sprechzeit heraus wie eine Karausche. Nun sind ja Barbara und ich auch nicht gerade einsilbig, doch wenn uns jemand eine gute Geschichte liefert, schweigen wir gern.

Die beiden Damen waren von der Wartaweil hochmarschiert, das ist die Stelle, bei der in früheren Zeiten die Pilgerfähren von Dießen anlegten. Hier steht eine Steinsäule aus dem siebzehnten Jahrhundert, und von dort aus wandert der zünftige Andechsbesucher den Berg hinan, ein Fußweg von etwa anderthalb Stunden, der den nötigen Appetit verschafft. Die beiden Lehrerinnen hatten den Weg hinter sich, aßen gedünstetes Gemüse aus den Klostergärten, sah lecker aus. Trotzdem wählten wir die Lammhaxen. Da lauerten sie zu unseren Tellern rüber, wie nur eingefleischte Doppelfundamentalisten – also Vegetarier und Katholiken zur Fastenzeit – einem auf den Teller starren können. »Wir dürfen das, wir sind Heiden«, sagte ich zu Karausche. Die nahm es nicht übel, es war ja noch vor dem Kruzifixurteil. Die Frauen vertilgten gutgelaunt ihre Brokkoli, Erbsen und Möhren mit Béchamelsauce. Unsere Lammhaxen mit den Bratkartoffeln regten aber offenbar ihren Appetit weiter an, und sie bestellten sich noch zwei ›Ausgezogene‹. Der Kellner brachte das Fastengebäck, servierte es mit dem obligatorischen bayerischen Kalauer: »Zwei Nackerte.« Genüßlich zerrissen sie das gezuckerte Schmalzgebäck, und obwohl wir eigentlich satt waren, bekamen auch wir Lust, es zu probieren. Karausche belehrte uns sogleich, daß die Bäuerinnen den Teig früher über dem Knie ›ausgezogen‹ hätten, daher der Name. »Na«, meinte ich, nur um etwas zu sagen, »solange das Knie gewaschen ist und nicht die ranzige Butter wie in Tibet …«

Auweia! Da hatte ich ein Thema berührt! Jetzt war die Augsburger Karausche nicht mehr zu bändigen, das war für sie der Dosenöffner, keine Rede mehr von Andechs und König Ludwig. »Warn Sie scho amal in Tibet?« fragte sie. »Nein, aber ich weiß, daß da der Tee mit ranziger Butter getrunken wird.« »Genau! Aber i würd’ immer wieder hifahra! Also die Landschaft! Die Berg’!« »Wie? Sie haben doch hier Berge genug!« »Aber des isch a andres Erlebnis! Wegen die Leit würd’ i ja net wieder hifahra. Die solln ja ausgrottet werrn. Doch! Die Kinesa versuch’n die ausz’rotta.« »Das kenne ich anders, die Chinesen haben Gebäude abgerissen, um die Stadt zu modernisieren, das ist sicher ein Denkmalfrevel …« Karausche wußte es besser: »Also, die werrn scho ausgrottet! Ja, i muß Ihne saga, i bin ja so froh, daß mir uns gnug zum Essa mitgnomma ham. Also i hätt’ ja da oba nix arühra kenna! Als mir losgfahra sann, ham die andre über uns boide glacht, weil in unsere Rucksäck’ war was zum Essa drin …«, nämlich ein ganzer Tiroler Schinken, ein großer Laib Graubrot, Margarine, eine luftgetrocknete Salami und Suppen in Tüten, »auf dene Toura, die mir fahrn – mir bucha ja koine Tourischtatoura, mir machn jeds Johr a große Reise, warn scho in der ganza Welt! – da braucht ma sei normals Essa. Da derf ma net essa, was d’ Leit so essa. Mei, des isch ja derartig dreckad in Tibet!« Und schon war sie bei ihrem neuen Anorak von VauDe. Der ist aus Sympatex, teuer. Wir wissen das, weil Barbara und ich uns solche vor Jahren gekauft hatten. Wunderbare Dinger! Wasser- und winddicht, atmungsaktiv, also Klimamembrane, in Blau. Die Studienrätinnen hatten für Tibet das gelbe Modell erstanden, aus modischen Gründen. »Ja mei!« empörte sich Karausche, »die warn ja in zwoi Tag’ grau! Die ham mir in Augschburg zwoi Tag’ in Spezialwaschmittel oiwoicha missa, weil all die Kinder die gelbe Jackn aglangt ham mit ihre dreckade Finger! Des isch ja dene ihre heilige Farb’! Und in die Tempel, des isch ja alles ganz schee, aber dia viele Butterflämmla, do brennt doch da ganza Tag dia ranzige Butter. Wie des stinkt! I hab mir scho immer a feuchts Taschatuch vor d’ Nas’ ghalta in dene Tempel. Also deswegen würd’ i net mehr hifahra. I fahr nur wieder hi wega dr Landschaft – die Berg’! Ja mei, der Buddhismus! I moin die Meditation, eigentlich isch des doch gar koi richtige Religion, sondern mehr a Lebenseinstellung von dene Leit. Der Gleichmut von dene, da könntn mir uns ebbes abschneida, aba da oba lebn könnt’ i net – wegn dem Viechzeig! Da hab i mi net traut, mir a Souvenir mitz’nehma, die Flöh’ hättn ja o in der Gebetsmühle sitzn kenna! Und außerdem, so sehr mir des alles imponiert, und i geb’ ja zu, i hab’ o scho versucht zu meditiera in so am Aschram, des war aber in Augschburg …« »I denk mir immer: lebe un lebe lassa«, unterbrach sie die Barbe. »Ja«, schnappte die Karausche, »mir san und bleim katholisch.« Eben: Nase

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(BK / JS)

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kommentare

  • Lieber Herr Dr. Kattbeck,

    im Marbacher März-Archiv steht Felix Greenes ›Listen – Lügen – Lobbies. China im Zerrspiegel der öffentlichen Meinung‹ in der Bestandsbibliothek unter der Nummer 692 B/JMV.

    Wir haben in unserer Handbibliothek nur noch ein unverkäufliches Exemplar. Der Titel wird aber im Netz von fünf Versandantiquariaten angeboten.

    Herzliche Grüße
    Barbara Kalender und Jörg Schröder

  • Schön, dass es Euch und Eure prägnanten Positionen gibt.

    Ich persönlich finde zwar, dass die Machtübernahme durch Peking, mal ganz knapp und dem kleinen Raum hier geschuldet – völkerrechtlich problematisch war, aber die Distanz zu Lamaismus etc. pp. schulden wir schon unserem bißchen Aufklärung.

    Und wartet mal, wie lange die buddhistischen Mönche in Birma Helden der Freiheit bleiben – erinnert Ihr Euch noch an die Loblieder auf den „charismatischen Khomeini“?

  • Sie haben in dem Beitrag das Wort ›suzerän‹ nicht beachtet. Völkerrechtlich gehörte nämlich Tibet als abhängiger halbsouveräner Staat zum Territorium der Republik China. Folglich war die Volksrepublik als Nachfolgerin der Republik China berechtigt z. B. in Tibet die Leibeigenschaft abzuschaffen. Bekanntlich hatte das der Lamaismus nicht alleine geschafft.
    BK / JS

  • Habe ich das richtig verstanden? Kolonialismus ist eine gute Sache? (Die waren ja so zurück geblieben. Keine zivilisierten Chinesen dort. Furchtbar. Man musste ihnen helfen. Das hätten sie ja alleine nie geschafft.)
    Nein, das muß ich falsch verstanden haben.

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