vonSchröder & Kalender 05.12.2007

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in nordöstlicher Richtung.

Richtig, dort stand neben der Theke an dem T-Pfeiler ein junger Mann und hielt sich den Kopf, durch seine Finger rann das Blut. Die grauhaarige Bibliothekarin schoß mit einem Besteckmesser auf ihn zu und – altes Hausmittel! – drückte dem Blessierten dieses Antibeulenmesser auf die blutende Stirn. Anschließend wurde ihm ein großes weißes Operationspflaster aus der Hausapotheke verpaßt. Mit einiger Phantasie betrachtet, sah er so aus wie Guillaume Apollinaire mit seiner Kopfwunde aus dem Ersten Weltkrieg auf dem berühmten Foto,

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vor allem, weil das Gesicht dieses Verletzten nicht weniger melancholisch unter dem Verband hervorblickte als das des französischen Dichters, dessen Mutter eine polnische Baroneß war. Ich gab daher dem jungen Mann den Spitznamen Apollinaire und nannte mich selbst wegen des Ohrs Vincent van Gogh.

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Das Opfer des T-Pfeilers lernten wir später in der Cafeteria kennen, er war Praktikant in der Handschriftenabteilung. Mijnheer de Jonge – sein bürgerlicher Name, wie sich herausstellte – ordnete leicht verzweifelt an die tausend Glückwunschadressen zu Jüngers hundertstem Geburtstag, gleichzeitig arbeitete er an einer Dissertation über den Mythos Schiller in der nationalsozialistischen Propaganda. Einerseits wurde der Dichter im Dritten Reich auf den nationalen Sockel gehoben, andererseits waren die Aufführung des ›Tell‹ und seine Schullektüre verboten, weil sich die Schweizer in Schillers Drama gegen Kaiser und Reich gestellt hatten. Ich erzählte de Jonge von Provo und den niederländischen Autoren bei Melzer und März, kehrte aber bald wieder zum T-Pfeiler vor der Ausleihtheke zurück. Denn ich hatte inzwischen erfahren, daß er nicht das einzige Opfer dieses unmotiviert den Weg versperrenden Hindernisses im Lesesaal war, sondern schon vorher einige Menschen dagegengerannt waren. Sogar der Marbacher Betriebsrat hatte sich bereits mit dem in silbriger Tarnfarbe gehaltenen Pfeiler beschäftigt und darüber nachgedacht, ob man ihn vielleicht mit einer roten Signalfarbe streichen oder mit Schaumgummi ummanteln sollte.

Unter solch lockeren Reden entwickelte ich die Idee zu einer Horror-Kabinettausstellung mit dem Titel ›Marbacher Verletzungen‹, im Scherz natürlich, aber die Sache hat einen makabren wahren Kern. Jeder, der die Geschichte des Deutschen Literaturarchivs kennt, weiß ja, daß Kurt Wolff 1963 dort zu Tode kam als Opfer der abschüssigen Ludwigsburger Gassen und der schlechten Bremsen eines Lastkraftwagens, der den Verleger Kafkas dort überrollte. Nachdem Lotte Ehlers und Alexandra von Miquel von diesem tödlichen Unfall erfahren hatten, liefen sie im Verlag Kiepenheuer und Witsch auf den Flur des ersten Stocks, weinten und riefen: »Kurt ist tot!« Wolff war auch ein Freund von Gustav Kiepenheuer gewesen. In der Rondorfer Straße wurde damals die Fahne imaginär auf halbmast gesetzt, und bei Gelegenheit dieses traurigen Anlasses hörte ich zum ersten Mal etwas von der Existenz des Deutschen Literaturarchivs.

Wenn du erst mal ein Thema am Wickel hast, fügt sich eins zum anderen, und du erfährst plötzlich, warum eine Fußgängerampel existiert, vor der die Marbacher Autofahrer zum Halten gezwungen sind und dort stets mit schwäbisch verkniffenen Wutlippen warten. Sie sehen nämlich nicht ein, warum es diese Ampel überhaupt geben muß. Aus Daffke und Bequemlichkeit haben wir das Signal natürlich auch gedrückt, obwohl wir ebenfalls nicht verstanden, warum es nötig sein sollte. Bis man uns dann darüber aufklärte, daß hier ein Bibliothekar überfahren wurde. Mit diesen und ähnlichen Vorfällen kam bald eine kleine Blütenlese merkwürdiger Verletzungen und Todesfälle im Umfeld des Literaturarchivs zusammen. Wen soll es in Marbach auch sonst treffen? Da gibt es ja nur Bibliothekare, Dichter und Verleger.

Fortsetzung folgt

(BK / JS)

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