vonSchröder & Kalender 11.12.2007

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

Mehr über diesen Blog

Es ist neblig, wir sehen nicht, wie der Bär flattert.

Vorgestern stand ich in der Warteschlange vor den Postschaltern. Wie immer am Monatsanfang heben die Wilmersdorfer Witwen Geld von ihrem Rentenkonto ab. Eine Fünfundachtzigjährige kam auf mich zu und fragte: »Wo ist denn hier der Briefkasten?« »Draußen«, sage ich knapp und füge dann freundlicher hinzu: »Legen Sie den Brief doch vorn auf die Wage, wenn er frankiert ist. Das machen alle so.« »Ach, nein, ich muß doch wissen, wo der Briefkasten ist! Ich bin gerade hergezogen und brauche doch einen Briefkasten.«

Natürlich, in der Nähe ist ein Altersheim, und die alten Leute machen sich ein Geschäft daraus, die kleinen Verrichtungen einzuteilen. Also ging ich mit ihr raus, sie lief flink zum Geldautomaten, fuhr mit der Hand drüber und sagte: »Sehen Sie, hier ist kein Schlitz!« Da fiel mir Jörgs Mutter ein, die auch fast blind war. Ich nahm die alte Dame am Arm und ging mit ihr zum Briefkasten. »Ja, da ist er ja!« rief sie glücklich, strahlte mich an und sagte überschwenglich: »Vielen Dank, das war nett. Ja, die jungen Leute heute sind ganz reizend.«

Ich reihte mich wieder in die Schlange ein, man ließ mich gnädig an meinen alten Platz. Langsam rückten wir voran, da trat wieder eine Fünfundachtzigjährige ein und rief laut: »Guten Tag!«, wandte sich sofort an ein junges Mädchen, die vor ihr in der Reihe stand: »Die Jugend von heute ist schrecklich unzufrieden, immer sind sie am Jammern. Wir haben nie gejammert. Wir haben nur gearbeitet. Achtzig Pfennig Stundenlohn habe ich nach ’49 bekommen. Und die Miete war damals auch nicht billig, 45 Mark war viel Geld. Aber die Jungend heute ist nur am jammern und will nicht arbeiten! Und alles weiß die Jugend besser!« Ich drehe mich um, der Teenager nickt zu allem freundlich, und die giftige Alte machte unbeirrt weiter: »Wenn ich das im Fernsehn sehe, wie die Jugend lügt! Wir haben nie gelogen. Die Alten lügen nicht! Da sollte die Jugend mal zuhören.« Das junge Mädchen nickte ergeben und widersprachen nicht.

(BK)

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/schroederkalender/2007/12/11/gespraeche-ueber-die-jugend/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert