vonSchröder & Kalender 26.12.2007

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in nördlicher Richtung.

Im Jahr 1980, kurz vor Weihnachten sagte ich zu Barbara: »Jetzt ist Schluß! Wir fahren irgendwohin, ich muß mal zur Ruhe kommen.« Und weil ich in ›Freizeit im Sattel‹ eine Anzeige gelesen hatte: »Ferien in der Provence auf dem Rücken von Camargue-Pferden … essen wie Gott in Frankreich … unter deutscher Leitung …«, schlug ich ihr vor, in Roussillon Urlaub zu machen und im ›David‹ Silvester zu feiern. Natürlich erzählte ich ihr, daß ich dort schon mal gegessen hatte: nach der verunglückten Besteigung des Mont Ventoux bei der postumen Verleihung des Petrarca-Preises an Rolf Dieter Brinkmann durch die Hubert-Burda-Jury, bestehend aus Bazon Brock, Peter Handke, Nicolas Born und Michael Krüger. Da meinte Barbara: »Das mit dem Essen hört sich gut an, und reiten kann ich auch.« Sie hatte es als Kind auf Befehl ihres ostpreußischen Vaters lernen müssen. Trotz einer Kriegsverletzung, sein rechtes Bein ist oberschenkelamputiert, ließ es sich der alte Kalender nicht nehmen, stets ein Pferd zu halten – zum Ärger seiner Frau und Neidwesen der Nachbarn in Stockhausen, die fanden, ein Gaul stehe nur dem Baron Riedesel zu und nicht einem kleinen Flüchtling. Na prima, Barbara konnte reiten, ich auch, so buchten wir vierzehn Tage, die Anmeldung bestätigte uns auf deutsch ein Monsieur Pierre Sommer.

Am 26. Dezember 1980 fuhren wir los mit einem brandneuen Cooper Innocenti, einem kleinen, stark motorisierten Sportwagen. Hart gefedert ist geprahlt! Die Karre war kein Personenwagen, sondern eher ein Autoscooter, also eine Tortur. In Straßburg machten wir halt und kamen am nächsten Tag in Roussillon an. Dort hatte uns Monsieur Pierre ein Zimmer in der ›Résidence des Ocres‹ reserviert, weil alle Betten in seinem Reiterhof belegt waren. Ein hübsches Hotel, man hatte es in den Ockerfelsen hineingebaut, aber dieses Gestein ist porös und feucht. Daher roch es im Haus streng nach einer Chemikalie, mit der man vermutlich den Schimmel bekämpfte. Ansonsten viele Seidenlämpchen und gutes Frühstück, ein netter Wirt und eine nette Wirtin, die einen blöden weißen, rotäugigen Pudel besaß. Ihrem Mann hingegen gehörte ein schöner Hund, der hatte langes weiches Haar wie ein Münsterländer, eine Ockerschnauze, Ockeraugen und lebte in einer in den weichen Felsen geschlagenen Ockerhöhle. Dort lief er an der Kette, wir streichelten ihn. »Am liebsten würde ich ihn losmachen und mitnehmen«, seufzte Barbara. Was man eben so sagt, wenn man einen Hund nicht losmachen und mitnehmen muß, sondern gleich irgendwo essen geht. Wir tranken in der ›Bar de la Mairie‹ einen Cognac, an der Theke grölte ein Kerl um die Vierzig herum, dreckige Pfoten, Ofenrohrmaul mit Zahnlücken, grauer Dreitagebart, Lederhut, Chaps über Jeans und Westernboots, vermutlich ein Pferdeknecht. Vor seinen beiden Suffkumpanen bramarbasierte er: »Ich kann jede Frau haben, die ich will, ob siebzehn oder siebenunddreißig, Jean-Paul bockt sie alle!« Es folgte eine ausführliche Beschreibung und Aufzählung seiner verflossenen Eroberungen, wobei er uns fixierte, ob wir seine Leporello-Arie auch ja mitbekämen. Auf dem Nachhauseweg übersetzte ich Barbara die Zoten des Angebers, bis sie mich unterbrach: »Hör auf, wenn ich mir den vorstelle, muß ich kotzen!«

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück tigerten wir durch das Städtchen, jedes Haus ist in einer anderen Nuance von Ocker angestrichen, und stiegen auf die Festungsruine, guckten in die Landschaft. Pünktlich um zwölf sagte Barbara: »So, jetzt ist es Zeit zum Mittagessen. Fahren wir mal zum Reiterhof.« Schließlich war es unser erster Tag, wir hatten Vollpension, und diese Ferien auf dem Bauernhof waren ja nicht billig. Wen trafen wir im Saal mit dem langen Tisch? Monsieur Guy: »Alle anderen Gäste sind auf einer Exkursion. Wir haben heute gar nicht mit Ihnen gerechnet!« »Wieso nicht?« meinte ich, »wir sind doch angemeldet, und hier sind wir.« Er bat uns, in der Halle am Kamin Platz zu nehmen. Es kam eine schwangere Frau mit einer Karaffe Champagner-Orangen-Bowle als Aperitif, dazu gab es kleine Schnittchen mit Wildschweinpastete – »eigene Herstellung«. Dann geschah nichts mehr, die Häppchen waren gegessen, wir saßen und warteten auf den Hauptgang, die Karaffe wurde leerer, wir merkten, daß unsere Gastgeber unruhig hin und her liefen. Sie hatten wohl nicht damit gerechnet, daß wir einfach sitzenblieben, sondern dachten: Wir geben denen einen Aperitif, dazu ein bißchen Wildschweinpastete, dann ziehen sie schon Leine – das weiß ich heute! Aber junge Liebe, wir hatten uns viel zu erzählen, tranken und warteten, fühlten uns wohl dabei. Nach einer halben Stunde fiel uns erst auf: »Es ist ja immer noch kein Essen da!« Wieder lugte ein Kopf aus der Küche, ängstlich, eine ältere Frau, offenbar die Köchin. Ich fragte sie: »Bekommen wir nun ein Essen oder nicht?«

Endlich schritt Monsieur Pierre Sommer aus der Küche und stellte uns Madame und seine schwangere Tochter vor. Er war Österreicher, daher der deutsch klingende Nachname, und hatte eine Frau aus Marseille geheiratet. »Es gibt afrikanische Forelle«, erklärte unser Gastgeber, während er Barbara, mir und sich selbst einen gegrillten Fisch auf den Teller legte. Die Schwangere und ihre Mutter aßen nur Kartoffeln, Salat und etwas Wildschweinpastete. Plötzlich wurde uns klar: Wir fressen denen die Forellen weg! Peinlich, da schmeckt es einem nicht mehr! Zudem waren die Fische, während die Familie in der Küche darauf wartete, daß wir endlich verschwinden, zu lange im Ofen gewesen und furztrocken. Also eine unangenehme Mahlzeit, schweigend beschäftigten wir uns mit unserem Teller, während Monsieur Pierre versuchte uns aufzuheitern: »Heute abend sind die anderen Gäste von ihrem Ausritt zurück, dann gibt es ein großes Abendessen.«

Nach den mittäglichen Erfahrungen fanden wir uns mit gemischten Gefühlen ein, aber das Cassoulet mit Bohnen, Wurst, Lamm- und Gänsefleisch war eine angenehme Überraschung. Man merkte zwar, es wird gespart in diesem Hause, das tolle Reitgeschäft ist es hier wohl nicht. Jedoch was Madame mit den einfachen Zutaten kochte, war sehr gut. An der langen Tafel des Speisesaals aßen Leute aus allen Regionen Deutschlands, darunter zwei junge Pärchen. Neben uns saßen eine hochnäsige Mutter mit dummer Tochter, die bei einem Rahmenmacher in die Lehre ging, »weil sie sich so für Kunst interessiert«. Und wie es sich für gehobene Freizeitbeschäftigungen gehört, gab es einige Männer auf Frauensuche und einige Frauen auf Männersuche. Bei unserem ersten Ausritt am nächsten Morgen stellte sich heraus, daß tatsächlich zwei dieser Freizeitreiterinnen scharf auf das Ofenrohr in Gestalt des rüpelhaften, ungewaschenen Stallknechts aus der ›Bar de la Mairie‹ waren. Der führte die Exkursionen, Monsieur Pierre blieb daheim. Jean-Paul konnte reiten wie ein Hirte aus der Camargue, weil er einer war. Häßlich, stinkend, versoffen und zahnlückig machte er alle Frauen an und das, wie sich bei einigen zeigte, mit Erfolg! Barbara und ich konnten es kaum glauben, wie sich die Damen um diesen Dreck-Don Juan bemühten.

Die Klepper waren hart im Maul, und nach zwei Tagen sagte ich zu Barbara: »Mensch, das war keine gute Idee, wir wären besser im Vogelsberg geblieben, da hätten wir in Ruhe durch die Wälder reiten können und nicht mit dieser komischen Gruppe. Solch ein Wanderreiten ist ja grauenhaft! Dazu immer diese Nervensäge Jean-Paul mit seinem besoffenen Gegröle und Angemache.« Barbara war ebenfalls bedient: »Sollen wir uns die schöne Zeit hier versauen, nur weil wir das bezahlt haben?!« Wir beschlossen, nicht mehr mitzureiten, erschienen aber noch zweimal zum Essen. Jedesmal saß Monsieur Pierre draußen auf dem Parkplatz zwischen den Lavendelfeldern  in seinem Wagen. Beim ersten Mal waren wir sicher: Der Mann ist gestorben! Vornübergesunken aufs Steuerrad hockte er leblos in seinem Simca, als wir näher rangingen, stellten wir fest, daß er nur pennte. Der Ruhe wegen hatte er sich von den Reitgästen zurückgezogen, um in der Karre seinen Mittagsschlaf zu halten. Wir machten uns klar: »So ist es, auch wir brauchen Ruhe. Sollen sie sich ihre afrikanischen Forellen sonstwohin stecken! Wir sehen uns die Gegend an.« Jeden Tag probierten wir ein anderes Restaurant aus, es wurde ein schöner Provence-Urlaub – ohne Pferde. Wir besuchten Gordes, die Zisterzienser-Abtei Sénanque, die von Petrarca besungene Fontaine-de-Vaucluse, die frühromanische Kathedrale von Apt und an der Nordflanke des Lubéron die Ruine des Schlosses Lacoste, in dem der Marquis de Sade seine Jugend verbrachte und wo er immer wieder Zuflucht suchte bei seiner treuen Magd, Bett- und Orgiengefährtin Gothon.

Schon nahte Silvester, wir reservierten im ›David‹ einen Tisch, das Restaurant hatte einen Stern. Für dieses Essen trug Barbara ein blaues Seidenkleid und ich einen Smoking. Es gab: Rinderkraftbrühe mit Gemüsen, getrüffelte Fasanenpastete, Hummer auf amerikanische Art, Sorbet und als Krönung ein ›Gâteau Saint-Honoré‹ aus Windbeuteln mit gesponnenem Zuckerkranz, dazu die passenden Weine, Kaffee, Cognac. Um halb zwölf steckten wir uns die Partagás an, denn wir hatten beschlossen, um Mitternacht mit dem Rauchen aufzuhören. Es war Barbaras erste Zigarre, und als sie die rauchte, löste das leichtes Befremden im Saal aus, zigarrenrauchende Frauen waren damals noch nicht üblich. Wenigstens später sah man auf jedem siebten Werbefoto eine Frau Havanna rauchen, ist jetzt auch vorbei!  Der Champagner kam, ich guckte auf meine alte Taschenuhr, die Barbara mir zu Weihnachten geschenkt hatte, zählte die letzten Sekunden, wir hoben die Gläser und prosteten uns zu: »Frohes neues Jahr!«, umarmten und küßten uns. Alle anderen taten es uns nach: »Bonne année!« »Nein! Nein!«, rief Madame David verzweifelt, »noch drei Minuten!« Wir hatten die Honoratioren von Roussillon und Umgebung zu früh hochgejagt, kurze Betretenheit, dann lachte der Saal, und alle wünschten sich eben noch mal: »Bonne année!«

Kräftig angeheitert schwankten wir in Richtung Hotel. Es war extrem kalt in dieser Nacht, Barbara zitterte in ihrem Seidenfummel und dünnen Mantel, ich fror ebenfalls, auch mein Mantel war nur ein Fähnchen, man erwartet schließlich einen milden Winter in der Provence. So schlotterten wir die Straße entlang, neben uns lief auf einer Mauer ein fetter schwarzer Kater. Ich mauzte – »mjau« –, mußte den Ton getroffen haben, denn das Tier schrie zurück »mjau, mjau«. Ich unterhielt mich mauzend mit dem Kater, bis wir unser Hotel erreichten. Und jetzt war ich so vertiert und angekichert, daß ich, als Barbara mit dem blauen Stöckelschuhabsatz im Fußabtretgitter hängenblieb, auf die Knie ging und den Schuh mit den Zähnen herauszog. Auf allen vieren wie ein Hund apportierte ich ihr den Schuh. Barbara schrie vor Lachen, wir waren eben sehr angesäuselt und albern.

Jetzt nahmen wir uns vor, leise zu sein, verboten uns den Mund – »Pscht!« – »Pscht!« – und torkelten prustend die Treppe hoch. Über dem Treppenabsatz hing eine absurde Fünfziger-Jahre-Wandlampe, auf die zeigte ich stumm, da ging Barbara in einem Lachkrampf zu Boden und rutschte die steile Treppe hinunter, ein Abgleiten wie in einem Slapstick, stuntartig rauschte sie steif wie ein Brett über die Stufen – do do do do do do dorom bum bum! Dann lag sie unten und lachte weiter, krabbelte auf allen vieren nach oben. Ich zeigte wieder stumm auf die Lampe, erneut wurde sie starr vor Lachen und rutschte runter. Dreimal ging das so. Wäre ich nicht betrunken gewesen, hätte ich mir die größten Sorgen gemacht, aber das alte Lied: Kindern und Besoffenen passiert nichts. Sie hatte am nächsten Tag nicht einen blauen Fleck! Doch davon mal abgesehen, veranstalteten wir ein mordsmäßiges Getöse in der Halle. Schließlich erreichten wir unser Zimmer; immer noch japsend vor Lachen und albern aufgedreht, zog ich meine Smokingfliege auf, ließ die Binde wie einen Propeller um die Hand wirbeln, verfolgte Barbara mit einer geheimen, in dieser Sekunde erfundenen Summsprache, einer außerirdischen Hummel-, Fliegen- oder Krawattensprache – »sssssse ssss sssssssse!« Sie floh kreischend vor mir übers Bett, um Tisch und Stühle, ich immer hinterher. Da klingelte das Telefon, die Hoteliersgattin war am Apparat: »Monsieurdame, c’est vraiment fâcheux, c’est impossible de faire du bruit comme ça!« Ich entschuldigte mich und sagte zu Barbara: »Wir müssen jetzt aufhören! Sie hat gesagt: ›C’est impossible, ce bruit!‹« Und weil Barbara kein Französisch kann, fing sie wieder an zu kichern: »Was, Brüh’?! Hi, hi, hi, hi!«

Fortsetzung folgt

(BK / JS)

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