Der Bär flattert schwach in nordöstlicher Richtung.
Gestern war ein Exemplar von ›Und ich lebe wieder an der Isar. Exil und Rückkehr des Münchner Juden Hans Lamm‹ in der Post. Ich blätterte, da stand er wieder vor mir der geniale, ungeduldige Hans Lamm, den ich Anfang der 60er in Düsseldorf kennengelernt hatte. Damals war er Kulturdezernent des Zentralrats der Juden und Verleger des Ner-Tamid-Verlags. Die Autorin Andrea Sinn hatte mich zu diesem Lebensabschnitt von Lamm befragt und nahm auch einige Passagen von ›Schröder erzählt‹ in ihr Werk auf.
»Warum kehrten manche deutschen Juden, die vor den Nationalsozialisten ins Exil geflohen waren, nach 1945 wieder nach Deutschland zurück? Wie wurden sie in der deutschen Nachkriegsgesellschaft aufgenommen und inwieweit konnten sie diese mitgestalten? Am Beispiel von Hans Lamm (1913 – 1985), von 1970 bis zu seinem Tod Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde in München, geht die Autorin diesen Fragen nach. Lamms Weg ins amerikanische Exil und seine schrittweise Rückkehr nach Deutschland bilden die Schwerpunkte dieser biografischen Studie.« So lautet der Werbetext auf der vierten Einbandseite. Der ist ebenso richtig wie dröge. Selten nämlich haben wir eine Monographie gelesen, die so sorgfältig gearbeitet ist, und es trotzdem bei aller Hochachtung vor der Lebensleistung des Protagonisten schafft, einen Menschen mit all seinen Eigenheiten und Schrullen wieder lebendig werden zu lassen.
Hans Lamm, Präsident der IKG München, 1971 bei der Grundsteinlegung für ein neues Gemeindehaus
Die Autorin zitiert Ruth Steinführer, die Mitarbeiterin des Dr. Lamm in der Kultusgemeinde: »Da sind dann halt mal die Fetzen geflogen. Also, erst einmal mit dem Auto, da gab’s schon mal den ersten Krach in der Früh. Wie jeden Morgen hol ich ihn ab. Alle meine Kolleginnen und Kollegen hatten tags zuvor gesagt: ›Ruth, wir brauchen mal eine Gehaltserhöhung wieder, da ist schon lang nix gewesen‹. Früher hatten wir die immer automatisch gekriegt, alle im öffentlichen Dienst, aber dann hat er sich bitten lassen, der Chef. Also, wir saßen im Auto, dann hab ich gesagt: ›Hans, darf ich Dir was sagen‹, jetzt – morgens, in der Früh war das schwierig, denn er war ein Grantler in der Früh – und dann hat er geantwortet: ›Na, sag schon!‹ – ›Jaaa‹, sag ich, ›du, Hans, wir bräuchten mal wieder, meine Kolleginnen und Kollegen haben mich gebeten, ich soll in ihrem Namen – und in meinem Namen sprech ich auch –, eine Gehaltserhöhung.‹ – ›BLEIB STEHN!‹, brüllt er, reißt die Tür auf und haut ab. Mitten auf der Kreuzung. Das hat er mir nicht nur einmal gemacht, aber diesmal war es eben wegen der Gehaltserhöhung. Naja, und dann hat er halt die Tür aufgerissen, das war mitten auf der Prinzregentenstraße, wir sind grad die Oettingenstraße runter, da in der Gegend. Zack, und weg war er.«
Neben seinem Ehrenamt als Präsident der Kultusgemeinde war Lamm Abteilungsleiter der Münchner Volkshochschule. Sein Kollege Hans Limmer beschreibt ihn so: »Er hat an Gott und die Welt geschrieben, wegen diesem und wegen jenem. Er hat zum Teil auch unverschämte Briefe geschrieben, wo man wirklich sagen muß, das würde sich heute niemand mehr so ohne weiteres trauen – noch an recht wichtige Leute so brutal unverschämte hochfahrende Briefe zu schreiben, mit Grußformmeln wie ›mit der Ihnen gebührenden Hochachtung‹ […] Aber das war auch eine gute Seite, weil man immerhin sagen muß, der Lamm hatte ein gewisses natürliches Gespür für so etwas wie Gerechtigkeit. Er hatte auch so ein Gespür dafür, wo die Reaktion waltet und das ihre tut, und das hat ihm nicht gepaßt. Wenn er sich nur persönlich genügend erregen konnte, dann hat er sich auch hingesetzt und hat sofort was unternommen. Das war aber auch die einzige Tätigkeit, in der er gewissermaßen eine persönliche Konzentration und Ruhe gefunden hat. Sonst hat er die nicht gehabt, er ist so was von unruhig gewesen, und konnte nicht sitzen und ist immer rumgesaust und ist immer Rad gefahren durch ganz München, aus jeder Ecke konnte Lamm mit seinem Rad rausschießen.«
Die Autorin Andrea Sinn faßt ihre Interviews mit anderen Zeitzeugen so zusammen: »Glücklicherweise kündigten meist die unüberhörbar lauten Klänge des auf dem Fahrrad montierten Radios den ›rasenden Radfahrer‹ Lamm an. Nicht selten schimpfte er zudem lautstark, wenn er gerade einem Autofahrer die Vorfahrt genommen hatte und dieser es wagte zu hupen; gerne blieb er aber auch mitten auf der Kreuzung stehen, um in alle Richtungen zu brüllen, weil er der Meinung war, die Autofahrer hätten nicht genügend Rücksicht auf ihn und seinesgleichen genommen, die regelwidrig die Straßen gekreuzt hatten. Wie muß man sich aber die Arbeitsweise Lamms vorstellen, wenn er sich in seinem Büro in der Rheinbergerstraße 3 aufhielt? Es gibt verschiedene Anekdoten, die in diesem Zusammenhang gern erzählt werden. Am einprägsamsten war das Bild, das sich dem Besucher beim Betreten des Lamm’schen Büros bot: Er saß für gewöhnlich an seinem Schreibtisch und hatte vor sich eine Reiseschreibmaschine, in die er tippte. Dann hatte er – damals noch etwas Sensationelles – ein kleines Radio mit Knopf im Ohr, an der anderen Schulter einen Telefonhörer. Nebenher diktierte er seiner Sekretärin noch Briefe oder gab andere Anweisungen.«
Wie schade, daß Hans Lamm nicht länger gelebt hat, dann wäre er womöglich noch Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer geworden – statt des langweiligen Rudolf Scharping.
(AS / BK / JS)
Spät, aber vielleicht nicht zu spät eine kleine Ergänzung:
Es war Anfang der siebziger Jahre. Mein erstes Studium hatte ich abgeschlossen, wollte nun noch weiter studieren und dieses Zweitstudium mit Volkshochschulkursen finanzieren. Da machst du es dir leicht, dachte ich mir, da erzählst du das, was du kennst, diesen frustrierten Hausfrauen, die auf der Suche nach dem Schönen und Wahren massenhaft die VHS heimsuchen. Mein Plan war, zwölf Abende „abendländische Kunstgeschichte“ vorzutragen, ein Rundumschlag von den alten Griechen bis zur zeitgenössischen Abstrakten.
Hans Lamm saß in seinem kleinen Büro in der Rheinbergerstraße 3 finster hinter der Schreibmaschine und hörte sich diesen Vorschlag des langhaarigen mit einem schütteren Bart und zerfransten Jeans ausgestatteten Typen in einer speckigen Lammfelljacke unwillig an und meinte: „Gut, dann aber auch zwölf Abende MORGENLÄNDISCHE Kunstgeschichte!“
Ich war zunächst sprachlos, fand aber gut, dass er mich ziemlich lautstark anging und mir klar machte, dass er meine arrogante Einstellung sofort erkannt hatte. Er fauchte, „abendländische Kunstgeschichte, was ist das!!!!“ und legte seine ganze Verachtung in den Sound. „Na gut,“ meinte ich, „europäische Kunstgeschichte, einverstanden?“
Daraufhin schraubte er sich aus seinem Stuhl empor und funkelte mich durch seine Brillengläser an: „Haben Sie schon mal was von Goya, Daumier, Dix oder Käthe Kollwitz gehört?“ Da war klar, dass ich mein Hausfrauenprogramm nicht wie geplant abnudeln konnte, und sagte eher kleinlaut, schon, schon, ich würde es halt mal versuchen.
Einige Jahre später meinte Hans Lamm zu mir, es wäre doch ein schöner Erfolg geworden. Meine Zuhörerinnen seien zufrieden damit, was ich ihnen böte. Und es wäre gut, dass Goya, Daumier, Dix und Käthe Kollwitz ausführlich erwähnt würden.