vonSchröder & Kalender 22.08.2008

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

Mehr über diesen Blog

Der Bär flattert schwach in östlicher Richtung.

Was eine Hand im Hosenschlitz mit den zwölf astrologischen Häusern in Goethes ›Faust‹ zu tun hat, steht heute in unserer Kolumne in der jungen Welt.

***

Tag und Nacht ohne Unterlass geschehen Wunder

Wildenroth oder Wie alles mit allem zusammenhängt

Als wir Anfang der Neunziger nicht weit vom Ammersee wohnten, fuhren wir oft zum Baden ans südliche Ufer des Sees und zum Biertrinken nach Andechs. Weiter als nach Herrsching bewegten wir uns nie. Das war wohl ein Fehler! Wir hätten wenigstens einmal nach Wildenroth, in den Norden des Ammersees, fahren sollen. »tag und nacht ohne unterlass geschehen wunder«, so steht es im Mirakelbuch des bayerischen Volksheiligen St. Rasso, der dort begraben ist. Und genauso ist es, denn später stellten wir fest, daß drei unserer Subskribenten in Wildenroth aufgewachsen sind. Das kleine Dorf hat somit die höchste Pro-Kopf-Dichte von ›Schröder erzählt‹-Subskribenten bundesweit.

Davon erfuhren wir allerdings nur durch Zufall, weil wir Horst Tomayer in einer Folge zitiert hatten: »Im Schlitz der sommers wie winters kurzen Hose spürte der junge Heimatvertriebene beim abendlichen Einholen der karitativen Klostersuppe (im zerbeulten Alukrüglein) ein ums andere Mal eines schwäbelnden Franziskanerordensbruders zärtlich zupackende Hand …« Daraufhin schrieb der Architektur-Professor Andreas Kleinefenn: »Euer Freund Tommi müßte doch mit mir in die Zwergschule Wildenroth eingeschult worden sein.« Und dann gab sich auch noch der Konzertveranstalter Berthold Seliger als Wildenrother Bub zu erkennen.

Gleich darauf machten wir einen anderen Fund: »Wildenroth, – die verzauberte Halde im Wald. Ich konnte mit einmal lachen, es klangen so viele Saiten in uns. Das Gefühl des Verliebtseins. Wir waren beide so jung den Tag«, schrieb Franziska zu Reventlow am 14. August 1901 in ihr Tagebuch. Dieses Zitat entnahmen wir der soeben erschienenen Biographie von Gunna Wendt, die darin viele lustige, anrührende, aber auch reaktionäre Details aus dem Leben der rebellischen Gräfin zu Tage förderte. Für uns enthielt es eine Spezialinformation: Die junge Fanny bekam die ›Freiherrlich Löw’sche Freistelle« im Magdalenenstift, wohin ihre Mutter die mißratene Tochter schickte. Die Stifterin der Freistelle war eine geborene Freiin Löw von und zu Steinfurth, die mit den Reventlows verwandt war. Nach ihrer Heirat hieß sie Emma von Stockhausen, und ausgerechnet in Stockhausen, dem Sitz der Baroneß, wurde Barbara geboren.

Über das Leben im Magdalenenstift berichtet Gunna Wendt: _»Die Mädchen nutzten jede Gelegenheit, um sich auszutoben, wie an dem tumultuarischen Abend vor den Ferien. Kissen, Pantoffeln und Waschkannen aus Blech flogen durch die Luft, von wildem Kriegsgeheul und Schmerzensschreien der Getroffenen begleitet. Zu fünft balgten sie sich in einem Bett herum. Versuchte eine sich schlafend zu stellen, wurde sie mit Wasser übergossen. Alles tobte und schrie durcheinander. Der Schlafsaal glich einem Schlachtfeld. Bei der Morgenandacht artete das Knien beim Vaterunser zur allgemeinen Prügelei aus, bis die Pröpstin einschritt.« Punk und Pogo gab es eben schon 1886.

Und was die Löws angeht, so stehen in unserem Bücherregal die Tagebücher der Freiin Mathilda Löw von und zu Steinfurth. Damit hat es folgende Bewandtnis: Im Jahr 1969 kurz vor der Gründung des März Verlags, rief mich die Henry-Miller-Übersetzerin und Verlegerin Renate Gerhardt an – eine Geistesverwandte der Reventlow und ebenfalls eine femme de lettres. Renate Gerhardt gehörte zu unserer kleinen Gruppe der ›Literaturproduzenten‹, und eines unserer Ziele war die Schaffung einer gemeinsamen Auslieferung für progressive Verlage. Renate hatte in Heidelberg studiert und einem ihrer ehemaligen Kommilitonen Erwin Löw von und zu Steinfurt von unseren Plänen erzählt. Der Baron lebte als Privatgelehrter in Heidelberg, wollte den Adelssitz seiner Familie in der Nähe von Frankfurt a. M. verkaufen, und rief mich an: »Unser Anwesen in Nieder-Florstadt wäre für Ihr Projekt gut geeignet. Es gibt dort eine moderne Scheune, Sie müßten nur noch eine Rampe bauen, das Herrenhaus ließe sich als Verlagssitz nutzen …«

Die abenteuerliche Geschichte des Kaufs und Verkaufs des Barockschlosses steht auf einem anderen Blatt. Von all dem blieben uns: Die Tagebücher der Löw’schen Großmutter, die ich verstreut auf dem Dachboden des Herrenhauses gefunden hatte, der ovale Tisch aus dem Schloß, an dem wir heute noch essen sowie die römische Sandstein-Artischocke, eine Ausgrabung aus dem Park, denn das Herrenhaus liegt an der Nidda und dort verlief der Limes. Ja, und die Monomanen-Korrespondenz des Erwin von Löw. Denn ich befreundete mich mit ihm, und er schrieb mir bis zu seinem Tode jeden zweiten Tag einen Brief über die zwölf astrologischen Häuser in Goethes Faust.
***
Gunna Wendt. Franziska zu Reventlow. Die anmutige Rebellin. 320 Seiten, geb. ISBN 978-3-351-02660-8, Aufbau, Berlin 2008

(BK / JS)

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/schroederkalender/2008/08/22/kontingenz/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert