vonSchröder & Kalender 02.10.2009

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in südöstlicher Richtung.
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Gestern fand in Mülheim die Uraufführung von Fassbinders ›Der Müll, die Stadt und der Tod‹ statt. Wir erzählen hier die Geschichte der ›Notausgabe‹ im eigens dafür gegründeten April, April! Verlag:

Der Verlag der Autoren bekam Wind von der Sache und beantragte beim Schnellrichter eine Beschlagnahmung der ›April, April!‹-Ausgabe. Einen Tag vor der Pressekonferenz erschienen zwei hessische Polizisten mit dem Gerichtsvollzieher Hohler – der Mann hieß tatsächlich so! – und präsentierten einen Durchsuchungsbefehl, der sie ermächtigte, alle auffindbaren Exemplare der ›April, April!‹-Ausgabe sicherzustellen. Vorsichtig, wie wir gewesen waren, befanden sich die für die Pressekonferenz vorgesehenen zweihundert Bücher nicht im Hause, sondern lagen im Volvo-Kofferraum. Die Polizisten und der Gerichtsvollzieher machten die Bude links, ans Auto, das dick und fett vor der Haustür stand, dachten sie nicht. So fanden sie nur zwei Belegexemplare, die sie beschlagnahmen konnten.

Trotzdem hatten die Beamten Spaß an der Aktion, mit ihren Stinkefingern wühlten sie ausgiebig in Barbaras Unterwäsche. Obwohl Barbara sie darauf hinwies, dass dies ihr Privatzimmer sei, durchstöberten sie jede Schublade der Kommode. Wie japanische Wäscheschnüffler begrapschten sie jeden Slip. Nein, dieser Vergleich ist falsch! Barbara legt Wert auf die Feststellung, dass in ihren Schränken keine benutzte Wäsche aufbewahrt wird.

Warum wir für die Pressekonferenz ausgerechnet den ›Frankfurter Hof‹ wählten? Na, ganz einfach: Weil erfahrungsgemäß in so einem ersten Haus am Platze mehr Journalisten erscheinen, als wenn du ins Gewerkschaftshaus einlädst, zweiter Stock, dritte Tür links. Der Konferenzraum war rappelvoll mit zirka sechzig Leuten. Es gab auch eine Fernsehkamera, alle wichtigen Zeitungen und Magazine hatten Korrespondenten und Reporter geschickt: ›Baseler Nachrichten‹, ›Frankfurter Allgemeine‹, ›Frankfurter Rundschau‹, ›Süddeutsche‹ und wie sie alle hießen. Zwerenz sprach über die Genesis von Drehbuch und ›Müllstück‹, Anwalt Oehme legte unsere Urheberrechtsposition dar, ich polemisierte gegen den Verlag der Autoren, der als einer der Kollektivverlage 1969 aus der Literaturproduzentenbewegung hervorgegangen sei und jetzt einem anderen linken Verlag die Polizei ins Haus schicke. Und nicht nur uns, auch der Sozialistischen Verlagsauslieferung; Helmut Richter hatte es ebenfalls empört, dass der Genosse Karlheinz Braun das Sova-Lager von Polizeikräften durchsuchen ließ, übrigens auch hier ohne Erfolg. Doch als Barbara den Presseleuten berichtete, wie die Bullen mit den Wichsgriffeln in ihrer Unterwäsche rumgestöbert hatten, wirkte diese schlichte Geschichte überzeugender als unser ganzer elaborierter Urheberrechtsklimbim.

Das war wirklich ein Ding! Man kann sich ja vor Gericht bekämpfen, aber einem anderen Verlag die Bullen ins Haus schicken, dazu würde ich mich nicht hinreißen lassen. Noch ganz andere Geschmacksbollwerke begannen unter dem Druck der Ereignisse zu bröckeln. Klaus Schöffling, damals noch nicht Verleger, sondern Dozent an der Buchhändlerschule, schrieb im ›Börsenblatt für den deutschen Buchhandel‹ sieben Seiten voll mit grotesken Sätzen wie: »Jedenfalls schreckt jetzt ein Verleger, der dieses Handwerk seit immerhin zwanzig Jahren betreibt, nicht vor einem Raubdruck zurück und versucht auch noch, den Rechteinhaber als ›links‹ zu diffamieren: Jörg Schröder.« Dass ›links‹ einer Diffamierung gleichkommt, muß einem erst mal einfallen! Man konnte sich nur noch an den Kopf fassen, was hier bei bisher intellektuell satisfaktionsfähigen Leuten vor sich ging. Es zeigte sich eben, dass diese ›Müllstück‹-Kontroverse mehr vom ewigen Antisemitismus hochspülte als geahnt, ein ähnliches Phänomen wie bei der Walser-Diskussion.

An der Tete der Anti-März-Kampagne marschierte Walter Boehlich, den ich bis dahin immer für einen guten Mann gehalten hatte. Während der ›Polizeimesse 1968‹ stellte er sich offen gegen Siegfried Unseld, der als Mitglied des Buchmesse-Aufsichtsrats zwischen allen Stühlen saß. Nach diesem Eklat feuerte der aufgebrachte Suhrkamp-Verleger seinen Cheflektor wegen Illoyalität. Anschließend gründeten Boehlich, Benseler, Pinkall und ich mit einer Handvoll Autoren, Journalisten, Lektoren und Verlegern die ›Literaturproduzenten‹. Parallel dazu entstanden die Kollektive März Verlag und Verlag der Autoren, dessen Leiter Karlheinz Braun vorher ebenfalls im Suhrkamp Verlag gearbeitet hatte. Seitdem war Boehlich eng mit Braun verbunden und vertrat verständlicherweise dessen Position. Weniger Verständnis habe ich dafür, dass er dabei Lügen in die Welt setzte, die man sich kaum traut wiederzugeben, so dumpf nölte es aus Boehlichs Pfeifenmaul: »Dieser Schröder, das weiß man ja längst, lässt sich von Bubis für diesen Coup bezahlen.«

Ausgerechnet von meinem Freund Christian Schultz-Gerstein mußte ich mir diese Latrinenparole anhören, Boehlich hatte sie ihm gesteckt wie allen anderen auch. Damals saß Christian schon nicht mehr beim ›Spiegel‹, sondern hatte zum ›Stern‹ gewechselt. Ich kann es mir nur mit Suff erklären, dass er diesen Scheiß des integren Herrn Boehlich glaubte, obwohl ich ihm doch alles brühwarm und bis ins Detail erklärt hatte. »Kein Thema, gib doch zu, Bubis hat dich bezahlt«, sagte er in seiner gedehnten Sprechweise zu mir, »du bist eben auch ein Schwein!« Unnötig zu erwähnen, ich bekam von niemand einen Pfennig – leider. Von Bubis gar nicht zu reden, weder mit ihm noch mit irgendeinem seiner Rechtsvertreter habe ich je gesprochen oder korrespondiert, auch später nicht. Aber ich muss zugeben, der Bestechungsvorwurf war gut ausgedacht – Stichwort: ›reicher Jude‹ –, er passte ins allgemeine Bild. Ich verstand die Welt nicht mehr: Wie konnte ein Mann wie Boehlich, der sonst immer eine moralische oder gelehrte Fußnote parat hatte, plötzlich auf solch ein primitives Kolportageniveau sinken? Damit war der Kerl für mich nicht nur intellektuell, sondern auch menschlich erledigt.

Wenn ich heute das Resultat unserer Bemühungen betrachte, was bleibt da? Das ›Müllstück‹ wurde nicht aufgeführt, auch dank unserer Zwerenz-Aktion. Es folgte dann noch der Prozeß, den der Intendant der Frankfurter Bühnen, Günther Rühle, gegen Henryk Broder führte, hierbei ging es um Rühles angeblichen oder tatsächlichen Ausspruch vom »Ende der Schonzeit«. Von da an war die Stimmung in den Medien endgültig umgeschlagen. Dabei kann man vergessen, dass vor einigen Jahren das Berliner Gorki-Theater erfolglos versuchte, den Frankfurter Skandal zu wiederholen, und das Stück sporadisch an drei, vier ausländischen Bühnen gespielt wurde, in New York und sogar in Israel. Bisher glückte also eine Skandalisierung nicht mehr, die Luft war raus.

Aber jetzt versucht es der Verlag der Autoren erneut in Mühlheim. Denn die Parole vom »Ende der Schonzeit« ist noch nicht verklungen. Im Gegenteil, vom Festakt auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg und der ›Müllstück‹-Kontroverse Mitte der Achtziger bis zur Walser-Moralkeulen-Diskussion ist das Thema virulent. Insofern war die Gewißheit, die Uraufführungsversuche in Frankfurt mit verhindert zu haben, nur ein kleiner Sieg und vielleicht die viele vergeudete Arbeitszeit und die Aufregungen nicht wert. Mit letzterem meine ich weniger die öffentlichen Auseinandersetzungen, sondern ganz schlicht meine physische Konstitution. Schließlich waren Barbara und ich ständig unterwegs gewesen, hatten mit irgendwelchen Alternativgruppen und in zahlreichen Buchhandlungen diskutiert. Die Buchhändlerschule lud mich ein und auch Paulus Böhmer in sein soeben gegründetes Hessisches Lite-raturbüro. Wenn ich zwei Stunden bei einer Veranstaltung geredet hatte, war ich erschöpft. Eine neue Erfahrung für mich, bisher war Aufregung mein Lebenselixier gewesen. Plötzlich machte mich eine Diskussion fertig. Das schrieb ich dem Thema zu, dabei war es nur der Aufgang einer Krankheit, verengte Herzkranzgefäße eben, was ich nicht wußte oder nicht wissen wollte.

Insgesamt eine anstrengende Sache: emotional, physisch und vor allem – schon wieder fällt mir das zuletzt ein – auch ökonomisch. Von den fünftausend Zwerenz-Büchern hatten wir zweitausend ausgeliefert, allerdings unverlangt mit Remissionsrecht – das musste wegen der rechtlichen Situation sein. Davon kamen über tausend Exemplare zurück. Unsere Hoffnung, dass der Buchhandel den Rest der ›April, April!‹-Auflage trotz der einstweiligen Verfügung bestellen würde, ging nicht auf. Zwar hätte es für die Sortimenter kein Risiko bedeutet, denn die Verkaufsverbote richteten sich nur gegen den Verlag. Aber Buchhändler gehören nun mal – bis auf ein paar Ausnahmen, die du an den zehn Fingern abzählen kannst – zur Spezies der Hasenfüße. Deshalb sollte sich kein Verleger bei Strafe des Totalflops auf die Risikofreude des Buchhandels verlassen. Viertausend Exemplare lagerten zum Schluss bei der Sova, Helmut Richter ließ sie irgendwann wegen der hohen Lagerkosten makulieren. Daher ist das Buch mittlerweile ein Antiquariatsrarum, das ist die ökonomische Quintessenz der Aktion: Fünfundsechzigtausend Mark Produktions- und Gerichtskosten waren in den Sand gesetzt, Geld, das wir nicht hatten und das uns kein Bubis spendete.

Gerhard Zwerenz‘ Sicht der Dinge kann man im Poetenladen lesen.

(BK / JS)

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