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Es ist dunkel, wir sehen nicht, wie der Bär flattert.
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An Sachbüchern, Essays, Romanen und sonstigen Betrachtungen über die Achtundsechziger und die Folgen herrscht kein Mangel. Wir haben viel davon gelesen und finden nach wie vor, dass der Marbacher ›Protest!‹-Katalog die beste Zusammenfassung über die Literatur um 1968 ist.
Soeben ist nun ›Das alternative Milieu‹ erschienen, in dem antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa verhandelt werden und die Marbacher Essays zum Literaturbetrieb trefflich ergänzen.
Im Zentrum des Buches steht also die transformatorische Rolle des alternativen Milieus zwischen den späten sechziger und den mittleren achtziger Jahren, seine spezifische Kultur, soziale Praxen sowie Selbst- und Fremdbilder. Neben der Bundesrepublik werden weitere europäische Länder betrachtet – nicht zuletzt, weil im alternativen Milieu selbst ein dezidiert transnationales Selbstverständnis vorherrschte. Die Herausgeber Sven Reichardt und Detlef Siegfried beschreiben in ihrem Vorwort ›Das alternative Milieu. Konturen einer Lebensform‹.
Die Beiträge wurden zunächst in Vortragsform auf einer Konferenz der Universität Kopenhagen gehalten. Das erste Kapitel ›Theoretische Annäherungen‹ enthält die Beiträge von Michael Vester: ›Alternativbewegungen und neue soziale Milieus. Ihre soziale Zusammensetzung und ihr Zusammenhang mit dem Wandel der Sozialstruktur‹ und von Dieter Rucht: ›Das alternative Milieu in der Bundesrepublik. Ursprünge, Infrastruktur und Nachwirkungen‹.
Im zweiten Kapitel ›Transnationale Räume und Ethnizität‹ folgen: Detlef Siegfried: ›Das gute Leben im falschen. Dänemark-Wahrnehmungen im westdeutschen Alternativmilieu‹, Anja Bertsch: ›Alternative (in) Bewegung. Distinktion und transnationale Vergemeinschaftung im alternativen Tourismus‹, Manuela Bojadžijev und Massimo Perinelli: ›Die Herausforderung der Migration. Migratische Lebenswelten in der Bundesrepublik in den siebziger Jahren‹, Knud Andresen: ›Linker Antisemitismus – Wandlungen in der Alternativbewegung‹, Moritz Ege: ›»Ich hab’s damals intuitiv richtig erlebt, also feeling gehabt«. Blackness und die Selbsttechniken der Alteritätsaneignung zwischen Gegen- und Popkultur‹.
Im dritten Kapitel ›Konsum und Kritik‹ werden folgende Themen behandelt: Alexander Sedlmaier: ›Konsumkritik und politische Gewalt in der linksalternativen Szene der siebziger Jahre‹, Anja Schwanhäusser: ›U-Zeitungen. Neue Medien für die Avantgarde der Eventkultur‹, Uta G. Poiger: ›Das Schöne und das Hässliche. Kosmetik, Feminismus und Punkt in den siebziger und achtziger Jahren‹, Klaus Weinhauer: ›Heroinszenen in der Bundesrepublik Deutschland und in Großbritannien der siebziger Jahre. Konsumpraktiken zwischen staatlichen, medialen und zivilgesellschaftlichen Einflüssen‹.
Das vierte Kapitel ›Geschlechterverhältnisse und Subjektivierungsprozesse‹ bringt die Beiträge von Sven Reichardt: ›Von »Beziehungskisten« und »offener Sexualität«‹, Elizabeth Heineman: ›Jörg Schröder, linkes Verlagswesen und Pornografie‹, Belinda Davis: ›Transnation und Transkultur. Gender und Politisierung von den fünfziger bis in die siebziger Jahre‹, Pascal Eitler: ›»Alternative« Religion. Subjektivierungspraktiken und Politisierungsstrategien im »New Age« (Westdeutschland 1970 – 1990)‹, Sven Steinacker: ›»… daß die Arbeitsbedingungen im Interesse aller verändert werden müssen!!!« Alternativ Pädagogik und linke Politik in der Sozialen Arbeit der sechziger und siebziger Jahre‹.
Das fünfte Kapitel ›Alternativmilieu und Neue Soziale Bewegungen‹ bringt die Ausblicke von Ilse Lenz: ›Das Private ist politisch!? Zum Verhältnis von Frauenbewegung und alternativem Milieu‹, Jens Ivo Engels: ›Umweltschutz in der Bundesrepublik – von der Unwahrscheinlichkeit einer Alternativbewegung‹, Wilfried Mausbach: ›Von der »zweiten Front« in die friedliche Etappe? Internationale Solidaritätsbewegungen in der Bundesrepublik 1968 – 1983‹, Tim Warneke: ›Aktionsformen und Politikverständnis der Friedensbewegung. Radikaler Humanismus und die Pathosformel des Menschlichen‹, Freia Anders: ›Wohnraum, Freiraum, Widerstand. Die Formierung der Autonomen in den Konflikten um Hausbesetzungen Anfang der achtziger Jahren‹.
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Eine Bemerkung von mir (JS) zu dem Aufsatz der Professorin Elizabeth Heineman von der University of Iowa über die Olympia-Film-Produktion aus den Jahren 1969 bis 1971: Elizabeth Heineman beginnt ihren kenntnisreichen Beitrag mit dem Satz: »1971 publizierte der ›Stern‹ eine Titelgeschichte über Jörg Schröder, dessen März Verlag das vielleicht wichtigste Verlagshaus der Neuen Linken war.« Jedoch kommt dann im Text hauptsächlich meine Pornoproduktion vor. Dabei war doch mein Ansatz, Textsorten und Medien postmodern zu verschränken, getreu dem Leslie A. Fiedlerschen Motto: »Cross the border, close the gap.« Denn so war es damals nun einmal: Time was on my side. Ich will nicht meckern, Elizabeth Heineman musste ja beim Thema bleiben und präziser und unverkrampfter hat noch niemand die Olympia-Filme besprochen.
Was den Blogwart freuen wird: Elizabeth Heineman hat in ihrem Aufsatz in 13 Fußnoten auf unser tazblog hingewiesen. Langsam sickern die Blogs in die Wissenschaftsliteratur ein.
http://blogs.taz.de/schroederkalender/2006/09/20/making-of-pornography-12/
und
http://blogs.taz.de/schroederkalender/2006/09/23/making-of-pornography-13/
(BK / JS)