vonSchröder & Kalender 12.11.2010

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in nordöstlicher Richtung.
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Arabischer Setzkasten
(Archiv Druckerei J. J. Augustin, Glückstadt)

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Zwiebelfische nannten Schriftsetzer – eine Spezies, die schon lange auf der Roten Liste des digitalen Zeitalters steht – Bleilettern, die in ein falsches Fach des Setzkastens abgelegt wurden. Christian Bau und Artur Dieckhoff haben einen Dokumentarfilm gedreht, der ein Denkmal für die versunkene Welt der Schwarzen Kunst ist. Und sie erzählen die Lebensgeschichte des Lehrlings Jimmy Ernst, der in einer bedeutenden Druckerei das Setzerhandwerk lernte.

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=x089erUKPrc[/youtube]

Mit fünfzehn Jahren kam Jimmy von Köln in den Norden nach Glückstadt. Die Lehrstelle rettete ihm das Leben, denn Jimmy war der Sohn des Künstlers Max Ernst und seiner ersten Frau, der Kunsthistorikerin Louise Straus-Ernst, die in Auschwitz ermordet wurde. Sie hatte ihren fünfzehnjährigen Sohn zu Heinrich Augustin nach Glückstadt in die Lehre gegeben, um ihn als »Halbjuden« vor der Nazi-Hetze zu beschützen.

Lou Straus-Ernst mit Sohn Jimmy Ernst, Köln, um 1928. Foto von August Sander

Das typographische Handwerk faszinierte Jimmy trotz der Anstrengungen. Neun Stunden musste damals ein Lehrling vor den Setzkästen stehen. Ein Lehrling durfte sich nicht setzen. In seiner Autobiographie berichtete Jimmy Ernst über seine Arbeit: »Die komplizierteren Teile der Manuskripte und Bildunterschriften zu den Abbildungen von Sandgemälden, Decken und Körben der Navahos, von Kachinatänzen, Silber- und Töpferarbeiten der Zuni und Hopi fertigte ich im Handsatz. Ich konnte den englischen Text nicht lesen, aber ich prüfte die Bögen, wenn die Maschine lief, oder sah mir die Bücher an, wenn sie aus der Binderei kamen; gründlich studierte ich diese Facetten einer lebendigen Kultur, über die Karl May in seinen Märchen von den amerikanischen Indianern nie etwas geschrieben hatte. Mein liebstes Buch von allen war ›Sandpaintings of the Navajo Shooting Chant‹ von Franc J. Newcomb und Gladys A. Reichard. Das großformatige Buch enthielt fünfunddreißig ganzseitige Wiedergaben der magischen Bilder, die in diesem seltsam beschwörenden Ritual für nur einen Tag geschaffen werden. Diese Illustrationen wurden von Zinkplatten auf bräunliches Japanpapier gedruckt, und zwar mit Wasserfarben, nicht mit normaler Druckerschwärze. Ich durfte helfen, die richtigen Farben zu mischen und passend zu machen, und mir übertrug man die Verantwortung dafür, daß die feuchten Blätter behutsam an den oben gespannten Wäscheleinen zum Trocknen aufgehängt wurden.« In Glückstadt setzte Jimmy auch eine Ausgabe von Rainer Maria Rilkes Gedichten, deren typographische Einrichtung Lou Andreas-Salomé mit ihm besprach.

Nach seiner Lehre verhalf ihm die Familie Augustin zur Ausreise nach Amerika, wo Jimmy Ernst sich zum Künstler ausbildete. Diese Geschichten erzählt der Film ›Zwiebelfische‹, der soeben den Norddeutschen Filmpreis erhielt. Den Regisseuren Bau und Dieckhoff ist eine Dokumentation gelungen, die uns als Adepten der Schwarzen Kunst begeistert, und das Buch zum Film ist ebenfalls ein Glücksfall.

Zum Film ›Zwiebelfische‹erschien in kleiner Auflage ein Buch mit der DVD des Films: 80 Seiten, Format 27 x 21 cm, mit Fotos von Candida Höfer u. a., Fadenheftung, fester Einband, 48 Euro, Edition Klaus Raasch.
(JE / BK / JS)

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