vonSchröder & Kalender 02.03.2011

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Es ist dunkel, wir sehen nicht, wie der Bär flattert.
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Als hätte es keinen Vietnamkrieg gegeben, kein My Lai, kein Napalm und kein Agent Orange, gründelt Andres Veiel in seinem Film ›Wer, wenn nicht wir‹ in den Szenen eines verschlungenen Familienromans, der im Pfarrhaus der Ensslins und in Bernward Vespers elterlichen Gutshaus spielt. Dort sucht er nach der Motivation des bewaffneten Kampfes der RAF. Also Vulgärpsychologie at its best, die so wenig stimmt wie die Familiendetails.

Man kann nur den Kopf schütteln über die schlampige Recherche des als Dokumentarfilmers hoch gepriesenen Regisseurs Veiel. Der Film kommt morgen in die Kinos, und wer sich den öden Streifen unbedingt ansehen möchte, der sollte vorher lesen, was Gottfried Ensslin, der Bruder von Gudrun Ensslin, darüber schreibt. Was wir davon halten, haben wir ja schon gebloggt. Damit man sich wenigstens qualifiziert über den Film ärgern kann.

(BK / JS)

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https://blogs.taz.de/schroederkalender/2011/03/02/vulgaerpsychologie_/

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kommentare

  • Dokumentarfilmer macht einen Spielfilm, wie es wirklich gewesen sein soll
    „Wer, wenn nicht wir“ von Andres Veiel
    Von Gottfried Ensslin

    Die Verleihung des Alfred-Bauer-Preises an Andres Veiel auf der Berlinale für seinen Film „Wer, wenn nicht wir“ verschafft diesem öffentliche Resonanz und ein Gewicht, das ihm aus meiner Sicht nicht zusteht. Es war die Weigerung der meisten Zeitzeugen, mit ihm zusammenzuarbeiten, die ihn zum Ausflug ins Fiktionale zwang. Trotzdem beansprucht sein Spielfilm durch sein Renomée als Dokumentarfilmer eine Authentizität, eine genaue Darstellung, wie es wirklich gewesen sein soll, der wir hier entschieden widersprechen.

    Das Klischee der pietistischen Pfarrfamilie Ensslin scheint äußerst zählebig zu sein. Mein Elternhaus hatte aber keine muffige Enge mit spießigen Möbeln. Meine Mutter war keine verhärmte Frau mit strengem Knoten, mein Bruder Ulrich kein Idiot, der irgendwelche Wortspiele daherplappert, mein Vater kein Hornbrillenbeamter. Gudrun war kein mit Handtäschchen am Arm in Spießeridyllen herumtraspender Trampel und Bernward Vesper hat nie Anstalten gemacht, seinen Sohn aus dem Fenster zu werfen.

    In seiner Dorfpredigt 1937 sagte mein Vater nicht: „ Hitler ist groß. Aber Gott ist größer“, sondern „Christus ist größer als Hitler“. Der erste Satz wäre ihm nie über Lippen gekommen.

    Um diese falschen und angeblich verbürgten Zitate gruppieren sich die aneinander gereihten Kurzszenen, ohne wirkliche Zusammenhänge offen zu legen. Die Sexualitätsdebatte der 60er Jahre und die Versuche der Beziehungsformen jenseits von Treue und Monogamie kommen nie vor, sondern am üblichen Fremdgehen des Mannes rächt sich dann halt irgendwann die duldsame Frau. Keine Darstellung auch der Praxis mit den aus ihren Heimen geflohenen Insassen in Frankfurt, sondern die Entschlüsse zum bewaffneten Kampf sind seltsam abstrakte Kopfgeburten, die aus obskuren „Aufträgen“ und Zwängen und letztlich dann doch nur aus psychologischen Absonderlichkeiten erwachsen.

    Veiels Hauptquelle ist das Buch „Vesper, Ensslin, Baader“ von Ex-K-Grüppler Gerd Koenen, dessen Darstellung der APO, der RAF und von ’68 in allem davon dominiert wird, dass er die Abkehr von seinen eigenen früheren Überzeugungen rechtfertigten muss. Studentenrevolte und Widerstand werden verächtlicht gemacht, mit Spott und Hohn übergossen. Sein psychologisierender Stil dient dazu, die Akteure zu pathologisieren, um die politischen Zusammenhänge leugnen zu können.

    Letztlich geht es Veiel und Koenen um Präventionsstrategien. Angesichts gesellschaftlicher Widersprüche, die immer krasser zu Tage treten, soll kein neuer militanter Widerstand entstehen. Gudrun muss als warnendes Beispiel herhalten, das nach tragischem Muster Furcht und Mitleid erregen soll.

    Ich sehe meine Schwester aber als jemand, die einfach das folgenlose Reden von Gesellschaftsveränderung und Revolution nicht mehr ertrug und in einer langen Tradition von Widerstand stehend mit anderen zusammen suchte, sie in die Wirklichkeit zu bringen. (PK)

    (1) http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=11287

    Gottfried Ensslin hat zusammen mit seiner Schwester Christiane Ensslin im KONKRET LITERATUR VERLAG das Buch „Zieht den Trennungsstrich, jede Minute“ – Briefe von Gudrun Ensslin an ihre Schwester Christiane und ihren Bruder Gottfried aus dem Gefängnis – 1972-1973 – herausgegeben. 200 Seiten, broschiert, EUR 15.00, ISBN 978-3-89458-239-5

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