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Der Bär flattert munter in östlicher Richtung.
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Im Januar bestellte der Schweizer Schauspieler Max Rüdlinger die Jubiläumskassette von ›Schröder erzählt‹, fünfzig Folgen auf einen Streich. Solche erfreulichen Order gehen nicht alle Tage ein! Auf seiner Website erfuhren wir, dass Rüdlinger ein Buch mit dem Titel ›Das Recht auf Memoiren‹ geschrieben hat. Wir waren neugierig und bestellten es nach dem bewährten Motto: Wir sind für dich, wenn du für uns bist.
Ein Treffer! Als Experten für Ich-Literatur sagen wir: Max Rüdlingers Buch ist eines der besten des Genres. Selten hat uns eine Lebensgeschichte so reingezogen wie ›Das Recht auf Memoiren‹, dieses lakonischen Reisenden durch innere und äußere Gefilde. Unsere Empfehlung: Lest diese vergnügliche Tour de force – darunter auch Rüdlingers Fahrrad-Abenteuer rund um die Welt.
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Ein Zitat aus dem Buch:
»Damals in Flums erschien die ›Neue Zürcher Zeitung‹ noch dreimal am Tage: am Morgen, am Mittag und am Abend. Eine Ausgabe kostete zwanzig Rappen. Wenn sich also einer auf einem abgelegenen Hügel den Pöstler zu seinem Todfeind machen wollte, brauchte er nur die ›NZZ‹ zu abonnieren.
Das Dorf war für mich als Kind die ganze Welt. Beeindruckend war die Bergkette der Churfirsten, die ich immer vor Augen hatte. Die ›Niederi‹, der ›Sichelkamm‹ und das ›Berschnerloch‹ prägten sich mir besonders ein. Das ›Berschnerloch‹ ist eine Senke in der Alvierkette und dahinter ragen Felswände der Kreuzberge hoch. Die sahen für mich immer wie ein Jasskartenspiel aus.
In meiner Kindheit hielten es meine Eltern so, dass die Mutter morgens dem Vater das Hemd für den Tag herauslegte. Mein Vater war Prokurist der ›Sarganserländischen Spar- und Kreditkasse‹. Damit die Hosen ihre Bügelfalten behielten, legte mein Vater diese nächtens unter die Matratze. Morgens zog er zum Frühstück immer ein Haarnetz über, damit die zurückgekämmten nassen Haare auch im trockenen Zustand zurückgekämmt blieben. Die Socken hielt er mit Sockenhaltern an ihrem Platz und die Hosen mit Hosenträgern. Wenn mein Vater den Kittel auszog und alle Leute die breiten Hosenträger sehen konnten, schämte ich mich sehr. Auf der Strasse zog er jeweils den Hut, wenn er jemanden sah, den er kannte, und gab oft noch einen Gruss an die ›Frau Gemahlin‹ mit. Mein Vater rauchte nicht, trank nicht, hatte überhaupt keine Laster, ausser dass er manchmal auch samstags und sonntags noch auf der Bank arbeitete. Beim Abendessen schüttelte er oft stumm kauend den Kopf, wenn er mit dem Gang der Geschäfte nicht einverstanden war.
Meine Mutter besorgte den Haushalt. Sie kochte, hielt das Haus sauber und strickte wunderschöne Lismer (schweizerisch für Strickweste), die ich mit Stolz trug. Ihre Freude waren Topfpflanzen, die in künstlerisch bearbeiteten Kupfergelten prächtig gediehen. Ein üppig wucherndes Gewächs wurde ›Schwiegermutter‹ genannt.
Mit meiner Mutter kam ich meist gut aus. Auf einem Ausflug in die Flumserberge hörte ich jedoch einmal, wie sie zu Tante Paula irgendeine abfällige Bemerkung über mich machte. Ich war sehr beleidigt, liess absichtlich den Kontakt zu den beiden Frauen abbrechen, und alsbald waren sie meinen Blicken entschwunden. Ich fand ohne weiteres zur Postauto-Station zurück und fuhr – ohne mich um ein Billett zu kümmern – ins Dorf zurück. Meine Mutter hatte mich jedoch zu suchen begonnen, lief in ihrer Angst zu Fuss die ganze Strecke ins Dorf runter und holte sich dabei blaue Zehennägel, die in der der Folge abfielen.
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Aus dem Kapitel ›Weiterdrehen‹:
»Filmfestival Rotterdam: Nach nächtelangem Hinhören komme ich zu der Auffassung, Klopfenstein schnarche nicht wie ein Nest voller Drachen, sondern schnaube vielmehr wie eine Lokomotive, die mit angezogener Handbremse durch die Lande knirscht. Infolge dieser Studien schlafe ich bei Cassavetes ›Minnie and Moskovitz‹ ein. Einige Tage später ist Cassavetes gestorben.
Unser ›Macao‹ ist von Journalisten zu einem der sechs besten Filme des Festivals gewählt worden, darunter zwei Kieslowski-Filme, ›The Prisoner of St. Petersburg‹ von Ian Pringle, ein Schwarz-Weiss-Film über Metempsychose, ›Komitas‹ von Don Akarjan und ›Die Kommissarin‹ von Aleksander Askoldow. Balsam für die geschundene Künstlerseele.
Das Meisterwerk ›Die Kommissarin‹ ist Askoldows einziger Film. Dieser hat zwanzig Jahre auf seine Aufführung warten müssen. In Turnschuhen und einem Jeansanzug, der in den tiefsten Tiefen Russlands ebenso wie in Rotterdam Furore macht, sitzt Askoldow in der Lobby des ›Hilton‹.
»Max Rundlinger« heisse ich in einer Kritik von Bret Senft in der ›New York City Tribune‹. Und weiter: »Rundlinger’s whiny performance suggests a thinner, whimpish Jerzy Kosinski …«
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(MR / BK / JS)