vonSchröder & Kalender 09.01.2013

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Es ist neblig, wir sehen nicht, wie der Bär flattert.

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»Gerade mal sechs Jahre alt war ich, als der Kunstprofessor Joseph Beuys in Düsseldorf am 7. August 1964 die ›Erhöhung der Berliner Mauer um 5 cm (bessere Proportion!)‹ forderte.« So beginnt Wolfgang Müllers neues Buch ›Subkultur Berlin 1979 – 1989‹ mit dem treffenden doppelsinnigen Untertitel ›Freizeit‹, das gerade bei Philo Fine Arts erschienen ist.

 

Weiter geht es, wie könnte es anders sein, mit Wolfgang Müllers eigener Formation ›Die Tödlichen Doris‹, er touchiert Jörg Buttgereits ›Nekromantik‹-Film, schlägt dann den Bogen zu Marlene Dietrichs Beerdigung. Im Kapitel ›Antiberliner I‹ erinnert der Autor an die Diffamierung des Oberbürgermeisters Eberhard Diepgen: »Antiberliner«. Damit meinte er »Hausbesetzer, Anarchisten, Ökos, Freaks, Punks, Lesben, Schwule, Queers, Trans, Kriegsdienstverweigerer – all die Mitglieder der Subkulturen, welche vor dem Mief und der Enge reaktionären Spießertums, den kapitalistischen Verwurstungsmaschinerien oder den Zwängen des Realsozialismus geflüchtet waren … Diese Antiberliner bildeten in den Achtzigerjahren den Nährboden, auf dem sich Westberlins weit vernetzte Parallelkultur entwickelte.«

Nach dieser Tour d’horizon geht Wolfgang Müller dann in die Details. Der erste Teil ›Ähnlichkeiten und Differenzen‹ beginnt mit Valeska Gert und Nico, dann kommt der Autor zum Merve Verlag und seinen Verlegern Heidi Paris und Peter Gente. Jeder, der sich im Westberlin der 80er Jahre umgetan hat, wird sich freuen die Beschreibungen der Kneipen, Cafés, Restaurants oder Diskotheken zu lesen: »Die Sannjyasins eröffnen die Diskothek Far Out am Lehniner Platz: ›Für 5 DM nehmen die jeden. Dort ist man zur ständigen Fröhlichkeit verpflichtet, Bhagwan zu Ehren‹, hingegen wird in der New-Wave-Diskothek Dschungel keine Miene verzogen. Es herrscht kühle Distanz – aber es ist keineswegs kalt …« Natürlich erzählt Wolfgang Müller auch die Geschichte von der Ratten-Jenny, die Martin Kippenberger verprügelte, und er bringt ein Interview mit ihr, das er selbst führte.

Wolfgang Müllers Zeichnung aus ›Subkultur Westberlin 1979 – 1989‹
Wolfgang Müllers Zeichnung aus ›Subkultur Westberlin 1979 – 1989‹
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Zutreffend beschreibt der Autor das Exil, Ingrid und Oswald Wieners Restaurant am Paul-Linke-Ufer war während der 80er Jahre unser Stammlokal, denn wir hatten in der Friedelstraße / Ecke Maybachufer eine Wohnung. »Die Tapete im Exil entwirft Dieter Roth, die Speisekarte und die Deckengemälde gestaltet Günter Brus, auch Entwürfe des Popkünstlers Richard Hamilton finden sich. Seit 1974 knüpft Ingrid Wiener Teppiche mit Dieter Roth, ihre Zusammenarbeit währt bis kurz vor dessen Tod 1998. Sie aquarelliert ihre Träume und singt zusammen mit Valie Export genial und dilletantisch von wahrer Freundschaft.«

Das Kapitel ›Wundervolles Kreuzberg‹ beginnt der Autor mit dem Musikkollektiv Mekanik Destrüktiw Komandöh (MDK) um Volker Hauptvogel und Edgar Domin. Deren Manifest, das 1983 im Karin Kramer Verlag erschien, steht natürlich auch in unserem Regal.

Musikkollektiv Mekanik Destrüktiw Komandöh, tazblog Schröder & Kalender

Ein Zitat aus Wolfgang Müllers Buch: »Die MDK-Revolutionäre Hauptvogel und Domin bezeichnen sich selbst als straight bis halbstraight, fordern ›Bunter ficken!‹…Die kräftigen Männer begrüßen sich öffentlich mit ›Darling‹ und ›Schätzchen‹ laufen Arm in Arm und Händchen haltend in Kreuzberg und Schöneberg herum und fordern die auch in linksalternativen Kreisen weitverbreitete Homophobie heraus …« Und weiter geht es: »Die Schwulenbar Chaguaramas und des Lesbenclub Louise entwickeln sich 1976 zu Keimzellen der Londoner Punkszene. Sie werden zu ersten Treffpunkten der Sex Pistols und von The Clash.  Der englische Autor Jon Savage schreibt, dass die Szene um Siouxsie Sioux und Billy Idol als ehemalige Fans von David Bowie und Roxy Music vom Film Cabaret völlig besessen gewesen sei.«

Müller schlägt also den Bogen von Westberlin bis London und zurück. Denn David Bowie und Iggy Pop wohnten damals in der Schöneberger Hauptstraße, neben dem ersten öffentlichen Schwulenlokal ›Das andere Ufer‹, in dem Wolfgang Müller kellnerte und das Blixa Bargeld mit seinen ungewaschenen Bettbezügen dekorierte. Ein anderes Highlight aus der Schwulenszene ist das ›Kumpelnest‹, in dem Karl Lagerfeld ein Fotoshooting inszenierte.

Wolfgang Müller in einem Straßencafé, 2008. Foto: Barbara Kalender
Wolfgang Müller in einem Straßencafé am Mehringdamm, 2008. Foto: Barbara Kalender
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Kurz: Wolfgang Müllers lustvolle, in ein dunkelviolettes Hardcover gebundene 600 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, in handlichem Format mit Fadenheftung und Lesebändchen sind ein Vademecum über die Boheme und Subkultur, die inzwischen in weiten Teilen  zur Hochkultur wurde. Das roaring Westberlin im Jahrzehnt vor dem Mauerfall, das gab’s nur einmal, das kommt nicht wieder! Es war zu schön, um wahr zu sein.

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(WM / BK / JS)

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https://blogs.taz.de/schroederkalender/2013/01/09/freizeit/

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kommentare

  • Ist doch schick,wie wir uns verkaufen lassen.
    Natürlich stehen die zugereisten damaligen nicht zu den West-Berliner Insulanerkinder,von denen sie natürlich profitierten.
    Denn wir waren es die die ersten häuser besetzten und dann kamen die reiche leute Kinder und setzten sich in unser Nest.
    später erbten sie und und heute sind sie großgrundbesitzer .besetzer aus der Steinmetz kauften Wohnungen in großberrenstr.
    meine Mutter Vertreterin von Diepgen,zahlt heute noch fürs rauchhaus und potze 139 die Jugendhilfe ab,die ich in hausbestzer der heutige Großbesitzer abgab.

    Irgentetwas stimmt hiern.

    Ich arbeite weiter an den west-berliner Inselschutz aus der Perspecktive eines Hausbesetzerkindes und berliner in 3 generation.
    Mit der klassischen West-berliner Mischung,seit dem letzten jahrhundert.

    die kleine jenny “rauchhaus”und bülow 89-Froben

    heimleitung
    west-berlin
    West berliner Insulanerkinder

    Jeanette schirrmann und Kinder
    Oma
    Tante spatz und Hund

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