vonSchröder & Kalender 20.10.2014

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert stramm in östlicher Richtung.

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Genau dreizehn Tage lang haben wir die siebte Sammelkassette für ›Schröder erzählt‹ beschildert, verpackt und versandt. Eine Sauarbeit, die uns einen Profit von sage und schreibe 645 € einbrachte. Wir nähern uns mit einem Stundenlohn von 9,77 € den Friseuren an. So ist’s Ihnen doch recht, Frau Wagenknecht? Was verdienen Sie denn so im Monat?

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© Erich Mühsam

© Erich Mühsam

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Gestern haben wir dann Briefe beantwortet, gingen im Volkspark spazieren, saßen danach in der Sonne und lasen: ich (BK) in Erich Mühsams ›Tagebücher Band 3 1912 bis 1914‹ und ich (JS) in Walter Kempowskis ›Sirius. Eine Art Tagebuch‹. Beide Bücher sind auf ihre Weise von schonungsloser Ehrlichkeit gegen sich selbst und stupendem lakonischen Humor.

Walter Kempowski, Sirius

1. Februar 1983

Am Spätnachmittag Postmassen. Ein Jüngling schickt mir ein Romanmanuskript. Er habe zwar noch nichts von mir gelesen, aber es würde ihn sehr freuen, wenn ich ihm schriebe, was ich von seinem Text halte. – Was soll man dazu sagen? Das Ms. zu lesen kostet drei bis vier Tage, die Antwort formulieren (eine Art Gutachten!) meherere Stunden. Das muss dann auch noch getippt werden. Und wenn es zu negativ ausfällt, verfolgt er mich mit seinem Haß. Er wird es nicht verstehen, dass ich ihm nicht antworte. (Rückporto hat er auch nicht beigelegt.)

Frau Lenz erzählte, sie kriegten derartig viele Ms. eingesandt, dass das Verpacken und Zurückschicken körperlich schwere Arbeit sei. …

Um den Zusammenhang innerhalb der ›Chronik‹ nicht zu verlieren, las Hildegard mir abends aus der ›Aussicht‹ vor, die Hunde lagerten sich, und ich legte die Beine hoch. Es ist mir ein Rätsel, wieso dieses Buch kein größerer Erfolg wurde. Hildegard findet es »gar nicht so schlecht«. Bei ihrem Vorlesen stört es mich, dass sie meist schon nach zwei Seiten einen Gähnkrampf kriegt. Neuerdings gähnen sogar die Hunde, wenn ich mit dem Ms. erscheine. Die armen Dichtergattinnen! Als Dichterwitwen rächen sie sich an der Nachwelt.«

Erich Mühsam, Tagebücher Band 3 1912 bis 1914 

München, Montag, 19. Oktober 1914 – gestern vor 100 Jahren

4 deutsche Torpedoboote sind an der holländischen Küste von englischen Schiffen versenkt worden. Wahrscheinlich viele Tote. – Das ist eine Hiobspost. Vielleicht nicht minder bedenklich die, daß Portugal unmittelbar vor der Mobilisierung zu stehn scheint. Das bedeutet dann für die Franzosen und Engländer eine Stärkung durch eine frische und völlig ausgebildete Armee. – Im Schwarzen Meer sollen türkische und russische Kriegsschiffe aneinandergeraten sein, es ist sogar von einer großen Seeschlacht dort die Rede. Das wäre dann also wirklich das Eingreifen der Türkei in den Krieg. Man wird die Bestätigung der Nachricht aber abwarten müssen, ebenso, ob die Türken wirklich, wie behauptet wird, einen Angriff auf den Suezkanal unternehmen werden. – Die ungeheure Schlacht an der Aisne scheint ohne Entscheidung zuende zu gehn oder schon zuende zu sein. Wie die Verhältnisse dort liegen, ob die Franzosen die Schlachtfront, wie vor 5 Wochen die Deutschen, zurücklegen, oder ob es der Antwerpener Besatzung gelungen ist, den Anschluß an den linken Flügel der französischen Schlachtfront zu erreichen, läßt sich garnicht übersehn. – Vielleicht, wahrscheinlich sogar ist eine große Schlacht zwischen Engländern und Belgiern einerseits und von Antwerpen kommenden deutschen Truppen andrerseits in der Gegend von Ypern im Gange, deren Entscheidung für den Unterliegenden verhängnisvoll werden wird. – Mit der Landung deutscher Heere in England, von der jetzt allgemein gefaselt wird, hat es wohl noch gute Wege: Ich glaube überhaupt nicht dran, sowenig ich an eine Entscheidungsschlacht zwischen Kriegsschiffen glaube. Könnte man nur erst ein Ende des ganzen Jammers endlich voraussehn!

Mein Privatleben bietet nicht viel Abwechslung. Zenzl ist noch immer nicht zur Liebe geeignet, kommt aber häufig – so auch heute früh wieder – und bringt durch viel gute Zärtlichkeit ihre Reize ins Bewußtsein. Meine robusten Bedürfnisse befriedige ich seit Wochen nur noch bei Asta, die ich für morgen nacht wieder bestellt habe. Ich sehne mich aber schon wieder nach Abwechslung.

Meine Arbeit soll jetzt in energischen Angriff genommen werden. Das Szenarium ist nicht so einfach, wie es schien. Es muß jetzt aber werden. Auf meine „Wally Neuburger“ will ich für die nächste Zeit mein ganzes geistiges Leben bauen.

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(EM/ WK / BK /JS)

 

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