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Der Bär flattert in östlicher Richtung.
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Ab und zu bloggen wir Zitate aus antiquarischen Büchern, dieses Mal zogen wir ein Buch aus dem »Reading Company«-Stapel, das wir in einer Bücherkiste für ein Euro fanden. Darin lag auch ein Zeitungsausriß vom 04.10.1947: »Ein Herbststurm fegte an der Riviera Hüte, Mäntel, Bäume, Dächer und Laternen weg. Es war am letzten Tage der Filmfestspiele in Cannes. Den ganzen Sommer über hatte sich kaum eine Wolke am blauen Himmel der Cote d’Azur gezeigt. Jetzt bogen sich die Palmen, auf der Croisette.
Einige achtzig Gäste des Festivals vertrauten sich trotzdem mutig, mit Regenschirm und Mänteln bewaffnet, einem Motorboot an und folgten der Einladung des argentinischen Filmproduzenten Prades. Er hatte auf eine der Cannes vorgelagerten Isles des Lerins, die Insel St.-Honorar, zum Mittagessen gebeten.
Um vier Uhr lief bei dem so schon arg geplagten Bürgermeister von Cannes der erste telefonische Hilferuf von der Insel ein „Schickt um jeden Preis ein stärkeres Motorboot. Viele Gäste müssen den 16.30-Uhr-Zug erreichen. Alle anwesenden Stars werden abends zum Fest in Palm Beach erwartet. Drei ausländische Journalisten müssen um 5 Uhr im Radio sprechen.
Es war unmöglich, die Bitte zu erfüllen. Erst im letzten Jahr war bei einem ähnlichen Unwetter ein Motorboot gesunken, die 8 Insassen waren ertrunken.
Gegen 18 Uhr, als der unglückliche Bürgermeister das Preisresultat verkünden sollte, fehlten nicht nur diejenigen, die noch auf der Insel festsaßen. Es fehlten auch der Minister für Jugend, Pierre Bourdan, und Wladimir Porché, Generaldirektor des Rundfunks, unter dessen Regie das Nachtfest in Palmbeach stattfinden sollte: Die beiden Flugzeuge, welche die beiden Herren aus Paris bringen sollten, hatten wegen des Unwetters bei Marseille notlanden müssen. …« Wer mehr lesen möchte, findet den Artikel hier.
Wladimir Porché, der Generaldirektor des französischen Rundfunks, veröffentlichte 1945 einen Band mit vier Erzählungen, aus denen wir Textproben bringen.
Karamel:
Josefa Solareès, im ganzen Land unter dem Namen ›Karamel‹ bekannt, ist jenes braune, hochaufgeschossene Mädchen, das man bei Dorffesten hinter dem Auslagetisch des fahrenden Zuckerwarenladens ihres Vaters sehen kann. Sie zerstößt das Eis oder windet mit der runden Gebärde einer Wäscherin den Teig für die buntfarbigen Bonbons. Das Stupsnäschen, der Krauskopf, die großen feuchten Eichhörnchenaugen, die sonnverbrannten Wangen, die ihr den Namen Karamel gegeben haben, und die blanken Schneidezähne, die zwischen ihren aufgeworfenen Lippen leuchten wie ein weißer Kern im Fleisch einer geplatzten Frucht, beweisen ihre Verwandtschaft mit dem Schatten und dem Licht der Wälder.
Und wenn die Klatschbasen des Dorfes sie nicht leiden können, so gibt es selten Männer, die sich bei ihrem Erscheinen auf dem Platz oder unter den Platanen der Hauptstraße nicht erregt fühlen wie die Hummeln beim Erblühen einer zuckersüßen Blume. Die leichtsinnigen Burschen verlassen bald Bälle, Schießbuden und Karussells, um sich vor der Bude zu drängen, wie sie herrscht, von wo sie die Frechheiten, die Seufzer ihrer Anbeter mit stiller Unverschämtheit beantwortet, mit der heiseren Stimme eine Kindes, das lange geschlafen hat.
Ségabri
Hinter dem Friedhof von Aguacaliente, der oberhalb der Stadt an dem Berghang aufsteigt, den die Vauban-Festung krönt, reihen sich, inmitten wuchernden Unkrauts eng aneinandergedrängt, mehrere hundert namenlose Brettchen. Kein heiliges Zeichen ist auf ihnen zu sehen. Der Regen hat nach und nach ihre Inschrift ausgelöst. Es ist der ›Schwarze Friedhof‹.
Während des ersten Weltkrieges nahm dieses Feld die Leichen der Senegalesen auf, deren Schicksal der nordische Winter oder das Gas besiegelt hatte und die man zu einem sanften Tod unter die Sonne des Vallespir schickte. Die meisten starben, ohne das Sakrament der Taufe erhalten zu haben. Und in zittriger Sommerluft wie im Schneegestöber erklomm immer der gleiche Zug den Hang: Voran der Feldprediger, der trotz allem seine Gebete auf das offene Grab träufelte. Dann die Träger mit dem Sarg. Schließlich eine schlanke weiße Gestalt, deren erhobene Stirn an den weiten offenen Raum hinter der Bekrönung und den Wehrgängen der Festung gemahnte: Schwester Gabriele. Für die Afrikaner: Ségabri. Sie war eine hochgewachsene Flämin mit blonden Augen …
Nina
Sie waren an einem Novemberabend auf der Straße, die von Cerdagne herunter führt, angekommen, zugleich mit dem Nordwind und der ersten Kälte. Weit vornübergebeugt, legte der Mann sein ganzes Gewicht in den Zuggurt eines Handwagens, den seine Frau von hinten schob. In dem Gefährt drängten sich unter eine Plache, zwischen Bündeln, vier Kinder mit schmierigen Gesichtern und weit offenen erschreckten Eulenaugen.
Seitdem eine Feuersbrunst den Wald am Südabhang der Alberen, dessen Förster er gewesen war, vernichtet hatte, schleppte Martinez seine Familie über die Landstraßen von Dorf zu Dorf, schuftete während der guten Jahreszeit um Tagelohn auf den Schobern oder im Staub der Dreschmaschinen und war im Winter, wenn die Feldarbeit ruht, gezwungen, in den Höfen Holz zu spalten. Nun hatte er zufällig erfahren, dass es in den Steinbrüchen des Vallespir an Handwerkern fehlte. Er eilte herbei und strandete in dem tiefgelegenen Viertel Almerias, wo der Himmel nur ein noch schmal Bächlein zwischen zwei Reihen geborstener Dachziegel ist.
Herr Lhuis, der Bürgermeister, verwies diese Leute an das Ende einer Sackgasse hinter dem Alkazar, dem städtischen Festsaal …
Das Ende der vierten Geschichte: ›Perrito‹ (spanisch: kleiner Hund)
In ihrer rosaroten Seidenbluse, leuchtend und rund wie eine Azalee, thront die Gnädige an der Kasse im Glitzern ihres Ohrgehänges und setzt ein Lächeln auf, das die traurigsten Verlierer aufheitert, und zählt das Kleingeld mit ihren weißen Fingern und mit so viel sorgfältiger Anmut, als entblättere sie Blumen.
Aber das ist noch gar nichts. Wenn ihr zufällig in einem dieser Sommer, wie es sie nur in Katalonien gibt, in einem der Sommer, da die Rosensträucher an den Dorfmauern singen und im Schatten der Weißbuchenhecken die Bienenschwärme ihre tiefen Hymnen anstimmen, einen Wohnwagen seht, der so grün ist wie ein Laubfrosch, vor allem, wenn ihr ihn morgens oder abends bei der Rast auf einer Wiese seht; wenn ihr zuhorcht, wie man darin lebt, darin lacht, darin über sich selbst und die anderen scherzt, wie man sich darin im Schutze der Vorhänge balgt; wenn ihr zwei Stimmen hört, die sich nach der Melodie irgendeines Schlagers unterhalten, die Neuigkeiten des Tales besprechen oder sich mit einer Heftigkeit zanken, die nur einer unerschütterlichen Harmonie entspringen kann; wenn ihr endlich seht, wie sich rings um den Lagerplatz diese Blonde und dieser Rotkopf haschen, lebhafter als die Jungen und freier als die Füllen auf der Weide: dann werdet ihr vielleicht zugeben, dass das Leben zuweilen, wenn ihm zwei Menschen vertrauensvoll dabei helfen, jenes seltene Meisterwerk zustande bringt: das Glück.
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Wladimir Porché: Liebe im Vallespir. Vier Erzählungen aus dem französischen Katalonien. Originaltitel: Amours en Vallespir. Aus dem Französischen übertragen von Hedwig Andertann. Gesetzt, gedruckt und gebunden im VEB Offizin Andersen Nexö zu Leipzig, 232 Seiten, Leinen, Insel Verlag Leipzig, 1955.
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(WP /BK / JS)