vonSchröder & Kalender 11.02.2016

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert seit einer Woche nicht. Wo ist die Berliner Fahne auf dem Schöneberger Rathaus?
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Aktie der Reading Company, Foto: Barbara Kalender
Die Aktie der Reading Company, welche eigentlich eine Eisenbahn-Gesellschaft war, schenkte uns ein Freund.

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Denken wir heute im Vormärz mal an die »kühne Vorrednerin«, wie der Revolutionär Karl Gutzkow Bettine von Arnim nannte. »Es ist viel Arbeit in der Welt«, schrieb Bettine, »mir zum wenigsten deucht nichts am rechten Platz. Ich meine immer, ich müsse die ganze Welt umwenden. Nur ein einzig Ding am rechten Ende angefasst, zieht eine Menge andere nach sich, die von selbst dann ins rechte Geschick kommen würden. Die Menschen lernen dann allmählich auch das Rechte denken, wenn sie erst eine Weile das Rechte haben tun müssen.«

Sie machte sich an die Arbeit und schrieb ihr sozialkritisches Werk ›Dies Buch gehört dem König‹. Von 1839 bis 1853 hatte sie mit dem späteren König Friedrich Wilhelm IV. korrespondiert, von dem sie gehofft hatte, dass er sich zum »Volkskönig« wandeln werde. Sie teilte zunächst den Fortschrittsglauben der ›Jungdeutschen‹. In einem Interview mit Gustav Kühne legte sie ihre raffinierte Arbeitsweise offen: »Ich hab’ Tag und Nacht daran genestelt und mich schier zu Tod geärgert, wenn ich dacht’, daß von all dene gescheute Männerleut’ keiner so viel Courage hat, all dasselbe zu sage, da er’s doch besser könnt’ und in besserer Form. Muß ich mir da die alt’ Frau Rath aus dem Grab herhole, den arm’ aufgestört’ Geist citire, damit er für mich streite und sich mit Philistern herumzause, bis ein Stück Wahrheit herausfällt! Ich hab’ ihr alles in den Mund lege gemußt, was man mir nit glaube mag.«

Bettine von Arnim hat sich der freiheitlichen Denkart und Diktion der Mutter des weltberühmten und unantastbaren Dichters anverwandelt, um mit diesem Trick die Zensur zu überlisten und gleichzeitig ihren freiheitlichen Thesen im reaktionären Preußen mehr Gewicht zu verleihen. Als Bettine noch in Frankfurt lebte, hatte sie Catharina Elisabeth Goethe, genannt die »Frau Rath«, täglich besucht und während dieser Besuche viel notiert. Diese Notate flossen in ihre Briefe an Goethe ein, der bediente sich daraus großzügig für ›Dichtung und Wahrheit‹. Und nun agierte Frau Rath zum zweiten Mal als literarische Figur, jedoch sind die Gespräche in ›Dies Buch gehört dem König‹ frei erfunden.

Den humorvollen, drastischen Erzählungen ihrer wohlhabenden und souveränen Kunstfigur Frau Rath setzte Bettine von Arnim in ihrem ›König‹-Buch mit den ›Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogtland‹ einen dramatischen Kontrast. Während sie an diesem Buch schrieb, wurde ihr zunehmend bewusst, dass die Gefährdung des Staates durch die Armut und Ausbeutung der Lohnarbeiter dramatische Züge angenommen hatte. Ihre Kunstfigur Frau Rath hatte bereits »eine Wohnstatt für Arme« gefordert, und nun lernte Bettine im Jahre 1833 den jungen Schweizer Lehrer Heinrich Grunholzer kennen, der eine Dokumentation über die Elendsquartiere im ›Vogtland‹ plante. So wurden die Proletarierquartiere hinter der Zollmauer am Hamburger Tor genannt. Hier hatten zunächst Wanderarbeiter aus dem Vogtland unter grauenhaften hygienischen und sozialen Umständen gelebt. Bald vegetierten in diesen Quartieren auch Proletarier anderer Herkunft. Spekulanten hatten in diesem Gebiet Mietskasernen gebaut, die sie euphemistisch »Familienhäuser« nannten: Blocks mit Vorderhäusern, Seitenflügeln und Quergebäuden mit zum Teil sieben dunklen Höfen. In 400 Stuben waren 2.500 Menschen zusammengepfercht. Noch während der Bauarbeiten wurden die Gebäude »trocken gewohnt«.

In Grunholzers Notizen klingt das so: »Gartenstraße 92 b. Stube Nr. 9. Dahlström hat früher als Seidenwirker gearbeitet und wöchtentlich 3 bis 4 Thlr. verdient. Seit fünf Jahren leidet er an chronischem Katarrh und an Augenschwäche, so dass er völlig untauglich zur Arbeit ist. Die feuchte Kellerwohnung, die er wegen rückständiger Miethe nicht vertauschen kann, wirkt sehr nachtheilig auf seine Gesundheitsumstände. Der älteste Sohn, ein Stickmuster-Zeichner, hat ihn vor einigen Wochen, als er eben die Miethe bezahlen sollte, verlassen. Der zweite arbeitet auch für sich, wohnt bei den Eltern und gibt 25 Sgr. zu der Miethe. Ein vierzehnjähriges Mädchen verdient wöchentlich 22 1/2 Sgr. in einer Kattunfabrik, wo es von fünf Uhr Morgens bis neun Uhr Abends zur Arbeit angehalten wird. (Ist hier durch kein Gesetz solcher unmäßigen Anstrengung der Kindeskräfte verboten?) … Die Mutter sucht in der Stadt Knochen zusammen, von welchen ein Zentner mit 10 Sgr. bezahlt wird. Um so viel zusammenzubringen sind wenigstens drei Tage Zeit erforderlich. Dahlstöm war 15 Jahre lang Soldat und erhält daher monatlich 1 Thlr. Unterstützung, obschon er erst 53 Jahr alt ist. … Auf den Tisch komme Morgens ein wenig trocknes Brot, des Mittags gewöhnlich nichts, Abends Brot und Häring oder Mehlsuppe.«

Die Lebenserwartung der Menschen, die in dieser Gegend lebten, betrug gerade mal fünfzig Jahre. Heute, nach der Gentrifizierung, gehört das Viertel rund um die Garten-, Berg- und Ackerstraße zum teuren Wohngebiet in Mitte. Es liegt östlich von der Kunsthalle im alten Hamburger Bahnhof, nördlich der Torstraße. Hier befragte der junge Schweizer die Tagelöhner: »Gartenstraße 92 a. Stube Nr. 92. Witwe Keßler ist eine muntere, gescheite Frau. Sie hat fünf Kinder. Für die drei kleinsten erhält sie 3 Thlr. Pflegegeld. Die älteste Tochter dient in der Stadt, kann aber die Mutter nicht unterstützen, weil sie den geringen Lohn ganz auf die Kleider verwenden muß. Die armen Mädchen müssen durch ihren Staat der Herrschaft Ehre machen … Was Frau Keßler zu jenen 3 Thlr. durch Waschen und Scheuern verdient, ist unbestimmt. Die Kinder bekommen oft mehrere Tage kein Brot zu Gesicht.«

Bettine las diese ›Notizen über Arme, Verbrecher und Strafe‹ und ermunterte Grunholzer, sie weiter auszuarbeiten. In seinem Tagebuch notiert er: »Bettine ersuchte mich, den Besuch armer Familien fortzusetzen und gab mir einen Louisdor zu Gaben für die Ärmsten.« Es entstanden weitere Berichte: »In Nr. 66 traf ich die ganze Familie beisammen. Zwei kleine Kinder schliefen auf einem Strohsacke am Boden, mit einem leichten Tuche bedeckt. Die Mutter lag krank im Bette. Der Vater, Tagelöhner Benjamin, pflegte sie. Dieser ist ein verständiger, rüstiger und gewiß braver Mann. Bisweilen verdient er 2 1/2 Thlr. in der Woche; dann muß er aber wieder mehrere Tage müßig gehen. Eigene Krankheit und Krankheit der Familie hat ihn in die größte Armuth gebracht. Von der Armendirektion erhielt er einmal 3, ein andermal 2 Thlr. Unterstützung. Dessen ungeachtet mußte er Kleider und Bettzeug verkaufen. Er führte mich zum Bette der Kranken und zeigte mir, wie die Bettanzüge nur mit Stroh angefüllt waren. Seine Kleider sind so schlecht, daß er Sonntags nicht ausgehen darf. Es muß einen vernünftigen Mann tief schmerzen, auf solche Weise ins Zimmer gebannt zu sein.«

Und hier ein letztes Zitat aus dem ›König‹-Buch: »Gartenstraße 92 a. Stube Nr. 53. Der Weber Hambach hat fünf kleine Kinder. Er macht buntgestreiftes Halbtuch und verdient in vierzehn Tagen 3 Thlr. Er ist mehrere Thaler Miethe schuldig. Die meisten Kleider sind versetzt. Das neunjährige Mädchen weinte bitterlich, als es der Mutter Halstuch dem Gläubiger bringen mußte. In zwei Tagen hat die ganze Familie nichts als für 4 Sgr. Brot gegessen … Zu diesem Besuche ward ich durch Bitten der Hausfrau, die mich aus der Stube des Nachbars kommen sah, veranlaßt. Ich nahm es derselben nicht übel, daß sie mich durchaus in ihre Stube führen wollte und zum Voraus einige Groschen erwartete. Wie ich aber die Noth der Kinder sah, freute ich mich über das Benehmen der Mutter. Ich konnte dieser in den Augen lesen, daß in ihr die Liebe zu den Kleinen über die weibliche Schüchternheit triumphierte. Die Dreistigkeit der Bettler belästigt oft. Man darf sich aber ja nicht von dem ersten unangenehmen Eindruck bestimmen lassen. Was den Bettler dreist macht, ist gerade das Beste an ihm.«

Mit dieser ersten Sozialreportage in der deutschen Literatur hatte Bettine endgültig den Pfad der Romantik verlassen und sich zur Sozialrevolutionärin gewandelt. Im Berliner Vormärz repräsentierte sie die Opposition und verteidigte die schlesischen Weber, denen der Fabrikant Zwanziger vorgeschlagen hatte: »Häcksel zu essen, wenn sie Hunger haben.« Prompt wurde Frau von Arnim der Mitschuld am Weberaufstand beschuldigt. Sie veranstaltete Sammlungen, verteilte Kleidung und Schuhe an vierhundert Familien und schrieb Petitionen für verhaftete Aufrührer, war immer bereit zu helfen.

Bettine von Arnim, Bücher. Foto: Barbara Kalender

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Bettine von Arnim: ›Dies Buch gehört dem König‹. Nach dem Text der Erstausgabe herausgegeben von Wolfgang Bunzel, 446 Seiten, Broschur. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2008

Bettine von Arnim: ›Die Sehnsucht hat allemal Recht. Gedichte – Prosa – Briefe‹. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Gerhard Wolf. 360 Seiten, Leinen. Buchverlag Der Morgen, Berlin 1984.

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Wir stellen sporadisch Fundstücke aus antiquarischen Büchern vor, die uns besonders gefallen oder zu aktuellen Anlässen passen.

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(BvA /BK / JS)

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kommentare

  • Danke für den Abriss. Nun, da das Stadtschloss bald wieder steht, kann man dazu auch die passenden Beschäftigungsverhältnisse wieder aufleben lassen.
    „Deucht“ ist ein schönes Wort, dass mir schon lange nicht mehr über die Zunge kam, obwohl mir einiges deuchte …

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