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Der Bär flattert in nordwestlicher Richtung.
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Die Aktie der Reading Company, eigentlich eine Eisenbahn-Gesellschaft, schenkte uns ein Freund. Wir stellen sporadisch Fundstücke aus zumeist vergriffenen Büchern vor, die uns gefallen oder zu aktuellen Anlässen passen.
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Es gibt nichts Neues unter der Sonne, zumindest, was die Wohnungsfrage in Berlin angeht. Rosa Luxenburg schrieb am 17. Mai 1898 aus Berlin an Leon Jogiches, der noch in Zürich wohnte.
Mein Teuerster!
Nun habe ich den ersten mehr oder weniger ruhigen Augenblick, da ich allein bin und Dir ausführlicher schreiben kann, denn gestern und heute bin ich den ganzen Tag mit meiner »Kusine« hinter einer Wohnung hergelaufen. Du hast keine Ahnung, was das bedeutet, in Berlin eine Wohnung zu suchen. Obwohl ich »nur« in drei Stadtteilen suche – in Charlottenburg, im Westen und Nordwesten – in den anderen ist es unmöglich im Sommer zu wohnen – sind das solche Strecken, daß Stunden für ein paar Straßen draufgehen, um so mehr, als man von Haus zu Haus in die Stockwerke sausen muß (gemäß Schild am Tor), zum allergrößten Teil vergebens. Die Zimmer sind allgemein überall schrecklich teuer, selbst das billigste Zimmer hier in Charlottenburg, was überhaupt für mich infrage käme, kostete 28 Mark. An ein gesondertes kleines Schlafzimmer ist natürlich nicht im Traum zu denken; eine einzige Stelle, an der wir überhaupt ein Zimmer mit Schlafzimmer vorfanden (allerdings hervorragend möbliert) und das für 80 M.! Mittlerweile habe ich ein Zimmer für 1 M. pro Tag. Ich richte mich so ein, daß ich auf einer Schlafcouch schlafe und zudem ein Sofa habe, anders geht es absolut nicht. Man muß übrigens zugeben, daß meine Wohnung in Zürich doch ein weißer Rabe ist. Trotzdem sei beruhigt, ich bin sehr wählerisch und nehme nicht das erste beste, denn meine »Kusine«, die von dem Zimmer in Zürich entzückt war, sucht gleichfalls mit jenem Ideal im Herzen. Morgen werde ich mich endlich entscheiden, obgleich die Auswahl so schrecklich schwer ist, denn »zieht sich der Magen zusammen« in der einen Wohnung, dann heißt es dafür in der zweiten »ein Soldat war hier« – völlig inkommensurable Größen, so daß mir der Kopf platzt, bevor ich mich für etwas entscheide. A propos »Soldat«, er »war und ist« wirklich überall. Faktisch sind die Offiziere der vorherrschende Stand hier; sie wohnen gleichfalls in möblierten Zimmern, und überall treffe ich auf ein ehemaliges Offiziers-Zimmer oder auf Offiziers-Nachbarschaft. Hinsichtlich der Gefahr, die Dir von daher drohen könnte, und Deiner dauernden Angst, daß Dir die Frau »mit einem Offizier durchbrennt«, meide ich solche Nachbarschaft natürlich wie die Pest. Aber stell Dir vor, die Zeichnungen von Thöny (*) sind keine Karikaturen, sondern geradezu exakte Fotografien – es schwirrt hier eine Million davon auf der Straße herum. […]
So beendete Rosa Luxemburg diesen Brief: Bleib gesund, adressiere an Kantstr. 55, nur ohne meinen Familiennamen, lediglich Vorname und Vatername (Iljinischna), weil man hier unablässig beobachtet wird. Die Deine.
PS: Ich habe inzwischen ein Zimmer für 1 M. pro Tag.
(*) Gesichter um 1900. Zeichnungen für den Simplicissimus von Eduard Thöny
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Rosa Luxemburg und Leon Jogiches in Zürich
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Rosa Luxemburg fand schließlich in der Cranachstraße 58 in Friedenau eine eigene Wohnung mit zwei Wohn- und Arbeitszimmern, von denen das eine Leo Jogiches zugedacht war. Ein Dienstmädchen schlief in der Küche. Von 1902 bis 1911 lebte Rosa Luxemburg dort; es war beider Wohnung mit Bibliothek, Archiv und Arbeitsplatz. Im Jahr 1907 beendeten Rosa und Leon ihre Lebensgemeinschaft, aber lösten nicht ihre engen politischen Bindungen. Über das schwierige persönliche Verhältnis geben ihre Briefe Auskunft. 1911 war sie auf der Suche nach mehr Ruhe und zog stadtauswärts in die Lindenstraße Nummer 2 in Südende. Vermutlich, um den inzwischen eingetretenen Bruch mit Karl Kautsky räumlich zu besiegeln, denn Kautsky wohnte in Friedenau um die Ecke.
Die Schreiben an Rosa Luxemburgs Lebensgefährten und Mitstreiter, Leon Jogiches, umfassen 928 Briefe und Karten aus zwanzig Jahren, von den Anfängen des politischen Wirkens Rosa Luxenburgs im Jahre 1893 bis zum Ausbruch des I. Weltkrieges. Es fehlen also lediglich die letzten fünf Lebensjahre der Autorin. Leider sind die Briefe von Leon Jogisches an Rosa Luxemburg nicht erhalten, diese wurden vermutlich von ihren Mördern vernichtet, als diese die Berliner Wohnung ausplünderten. Die Papiere von Jogiches hingegen wurden von der KPD vor der Vernichtung bewahrt. Jogiches wurde wie seine Mitstreiterin von den Konterrevolutionären ermordet.
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Rosa Luxemburg: Briefe an Leon Jogiches. Mit einer Einleitung von Feliks Tych. Aus dem Polnischen übersetzt von Mechthild Fricke-Hochfeld und Barbara Hoffmann 1. Auflage 1971. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main.
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(RL /BK / JS)