vonSchröder & Kalender 10.07.2022

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in südöstlicher Richtung.
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Zunächst hatte ich vorbehalte, diesen ungewöhnlichen Ort zu besuchen. Mit einer Freundin saß ich an einem kleinen Tisch, trank Kaffee, aß Kekse und blickte auf das Krematorium mitten im schön gestalteten Garten.

»Das silent green ist ein Veranstaltungsort und unabhängiges Projekt, das in den historischen Räumlichkeiten des ehemaligen Krematoriums Wedding eine in Berlin einzigartige Heimat gefunden«, so steht es auf der Website, »seit 2015 finden im historischen Gebäudeteil Tagungen, Konferenzen, Seminare und Workshops sowie besondere Feierlichkeiten statt. Zudem hat sich die Kuppelhalle als ein einmaliger Ort für Konzerte, Lesungen und Film etabliert. Im baulichen Kontrast dazu steht die 2019 fertiggestellte unterirdische Betonhalle. Auf einer Gesamtfäche von 1.600 qm ist es nun möglich, medienübergreifende Ausstellungen und Produktionen größeren Zuschnitts aus den Bereichen Film, Musik und Diskurs durchzuführen. Im Zusammenspiel von historischem Gebäudeteil und den neuen Bauten Betonhalle und dem Atelierhaus mit fünf weiteren multipel einsetzbaren Räumen, ist so ein großflächiger kreativer Campus entstanden.«


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Und genau deshalb besuchten wir silent green, um die Ausstellung »Das dritte Leben der Agnès Varda« zu sehen. Sie war zunächst Fotografin, dann Filmemacherin und später bildende Künstlerin. 2003 zeigte sie auf der Biennale in Venedig ihre installativen Arbeiten. Doch ihre dritte Schaffensperiode ist bisher wenig bekannt.

 

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Im Garten steht  die posthume Installation auf der Grundlage des Models von 2017 mit dem Titel: Eine Filmhütte: Das Zelt von Vogelfrei (2022).
Zitat Varda: »Ich baue Hütten aus den ausrangierten Kopien meiner Filme – ausrangiert, weil sie zu Vorführungen nicht mehr taugen. So wurden Hütten daraus. Lieblingshäuser der imaginären Welt.«

»Vogelfrei« – Originaltitel: »Sans toit ni loi« – ist ein französisches Spielfilmdrama von Agnès Varda aus dem Jahr 1985.

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Betritt man die unterirdische Betonhalle, sieht man als erstes die Videoprojektion mit dem Titel: Ouverture. Sie wurde inspiriert von der Installation ›Die Passage du Gois‹ (2006)

 

 

 

Sehenswert sind auch ihre drei Selbstporträts (1949, 1962 und 2009) und die Videos über ihr Leben und ihre Arbeiten.

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Hier hängen Fotos von gehenden Menschen. Zitat Varda: »Man kann sehen, wie ich zwischen Film und Fotografie, Reglosigkeit und Bewegung hin- und herwechsele. Ich habe bewusst Menschen beim Gehen und genau in dem Moment eingefangen, wo sie einen Schritt machen. […] Gehen ist immer die gleiche Geste. Es ist spannend, diese Geste in verschiedenen Ländern oder unter ganz unterschiedlichen Umständen wiederzufinden.«

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In einem anderen Raum hängen bisher unveröffentlichte Fotos, die Varda 1960 in Dinkelsbühl aufgenommen hat. Mich berührte besonders dieses Foto: Die Mädchen mit ihren Zöpfen erinnern mich  an meine Schulzeit, obwohl ich sehr viel später zur Schule ging, trotzdem trugen damals alle Mädchen Zöpfe und hatten so einen geflochtenen Korb.

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Ich empfehle allen, die nicht diese Ausstellung besuchen können, den Film auf Arte: Masterclass mit Agnès Varda.

Hier erzählt Varda, wie sie den Film »Die Sammler und die Sammlerin« machen konnte: »Ich wollte also Canal+ ins Boot holen und kontaktierte die verantwortlichen Damen […], die schickten mich zu ihrem Chef. Der hieß Alain De Greef, und ich bekam zwei Wochen später einen Termin bei ihm. Aber die Erntesaison wartete nicht auf mich. Sie richtet sich nicht nach einem Filmemacher. Also filmte ich das Kartoffeln-Stoppeln (sic) und fand dabei eine Kartoffel in Herzform.
Zwei Wochen später traf ich den Chef von Canal+. Mit dem Kartoffelherz in der Hand sagte ich: ›Ich habe ein Geschenk für Sie. Diese Kartoffel und ich, wir wollen einen Film machen.‹ Es hat funktioniert. Er gab seine Instruktionen, und sie kauften den Film. Ich will damit sagen: ›Manchmal darf man diese finanziellen Dinge nicht so ernst nehmen. Man muss auch darüber lachen können und sich irgendwie durchschlagen‹ …« Nach den Dreharbeiten des Films ›Die Sammler und die Sammlerin‹ entstanden weitere Arbeiten.

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Zitat: »Also es hat sich so begeben: Diese Kartoffeln in Herzform sind so faszinierend. Ich hatte mehrere davon mit nach Hause genommen. Ich legte sie in verschiedene Töpfe und Kisten und sah ihnen beim Altern zu. Das Thema Altern interessiert mich sehr. Ich finde es interessant dabei zuzusehen, es zu fühlen und zu begleiten. Manche lagen gut geschützt in Kartons. Sie bildeten kleine Wurzeln und keimten aus. Andere hatte ich in die Sonne, also unter eine Lampe, gelegt. Ich filme und fotografierte sie. Und als ich zur Biennale nach Venedig eingeladen wurde, realisierte ich mein erstes Triptychon: drei große Bildschirme …«

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Papatutopia (2003). 3-Kanal-Videoinstallation, 195 x 260 cm, Ton, 6’26’’ Loop, 250 Kilo Kartoffeln auf dem Boden, und so riecht der ganze Raum nach Kartoffeln.

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Das Kartoffelkostüm (2003).
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Natürlich werden noch viele andere Arbeiten gezeigt mit einer großen Bandbreite. Aber das muss jeder selbst entdecken. Ich beende diesen Beitrag mit einem letzten Zitat von Agnès Varda: »Wenn man Ideen und Einfallsreichtum hat: Warum sich einschränken? Das macht die Welt schon genug.«

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Die Ausstellung »Das dritte Leben der Agnès Varda« ist leider nur noch bis zum 20. Juli zu sehen!

 

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BK

 

 

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