vonHelmut Höge 30.01.2010

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(Photo: Peter Grosse)

In den Sozial- und Geisteswissenschaften redet man gerne von schwachen bzw. starken Thesen und Begriffen, in der (Latourschen) Wissenschaftssoziologie spricht man nun – ähnlich wie die Schimpansenforscher im Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie – von einer „schwachen“  und einer „starken Moral“. Zuvor war bereits von Moral versus Zwang die Rede gewesen. Konkret herausgearbeitet hatten Bruno Latour und Michel Callon diese Begriffe am Beispiel von „Spead-Breakern“ (- sogenannte „sleeping cops“, mit denen man Straßen verkehrsberuhigt) und Pollern (Straßenbegrenzungspfähle, auch „stumme Polizisten“ genannt, die das Parken auf Gehsteigen verhindern).

Mit dieser  Technik aus Beton, Stahl und neuerdings Elektronik wird die zu „schwache Moral“ der Autofahrer ersetzt durch eine „starke Moral“ der Technik: Statt an ihren Altruismus (Nimm Rücksicht auf Fußgänger!) zu appellieren, verläßt man sich dabei umgekehrt auf ihren Egoismus – als Autobesitzer, die sich von den Pollern bzw. Speed-Breakern nicht die Karosserie ramponieren lassen wollen. Die Technik wirkt dabei laut Latour wie  eine Art „Klebstoff der Gesellschaft“.

Diese Sicht auf die Technik ist der des „Moralphilosophen“ Günter Anders diametral entgegengesetzt. In seinem Hauptwerk „Die Antiquiertheit des Menschen“ argumentiert er, dass der Mensch spätestens seit der Zweiten Industriellen Revolution der von ihm geschaffenen Technik nicht mehr gewachsen ist. Beim Übergang vom Gerät zur Maschine ist die Technik „überschwellig“ geworden. Bei schweren Unfällen – z.B. des Transrapids – spricht man deswegen nach Abschluß der Ursachenforschung meist von „menschlichem Versagen“. Günter Anders erzählt dazu ein Beispiel aus dem Koreakrieg: 1952 votierte der US-Oberbefehlshaber General McArthur für den Einsatz von Atombomben, die „Pentagon-Computer“ sagten  jedoch gemäß der ihnen eingegebenen Daten „Nein!“ Die Rechnerlogik ersetzte dabei erstmalig laut Günther Anders die Moral,  – was bedeute, dass die Menschheit vor ihrer eigenen Technik kapituliert habe. Der General quittierte nach seiner Rechner-Niederlage den Dienst und wurde ironischerweise Aufsichtsratschef des Büromaschinenkonzerns „Burroughs“: Ein hilfloser Versuch, aus seiner „prometheischen Scham“ (G.Anders) wieder heraus zu finden, also die der starken Moral der Technik unterlegene Moral eines Oberbefehlshabers durch eine neue Führerschaft – über diese Technik – wieder zu heben.

Es gibt daneben auch den Fall, dass man Führungskräften eine „schwache Moral“ vorwirft – gerade wenn sie auf die „starke Moral“ der Technik bauen. So erboste sich z.B. kürzlich die Opposition im Salzburger Rathaus über die Anschaffung von 14 elektronisch versenkbaren Siemens-Pollern, die alles in allem 600.000 Euro kosten: „Für mich ist das nicht nachvollziehbar: Da kracht es im Stadtbudget an allen Ecken und Enden, Sozialvereine und Einrichtungen für Kinder und Jugendliche werden gekürzt, aber für die Abriegelung der Altstadt ist plötzlich Geld da,“ meint etwa  der dortige  ÖVP-Sprecher.

Die Kölnische Rundschau meldete: „Die Anwohner vom Dürscheider Kirchberg rütteln mit gemeinsamen Kräften an den beiden Pollern, die seit dem Sommer probeweise die Durchfahrt versperren. Nichts zu machen. Die Poller geben nicht nach. ‚Alle wollen, dass diese Dinger weg kommen. Warum macht die Verwaltung nicht, was die Bürger wollen?‘, fragt die Anwohnerin Ute Trosdorff, die eine kleine Anti-Poller-BI zusammentrommelte“.

In Ostberlin war es nach der Wende umgekehrt so, dass die Bürger von den Tiefbauämtern der Bezirke die Aufstellung von Pollern geradezu wütend verlangten, wie sich der Treptower Amtsleiter erinnert. Im Vorort  Strausberg will man die Poller an der Großen Straße jetzt durch elektronisch versenkbare ersetzen. Inzwischen warnt jedoch z.B. der Tagesspiegel: „Berlin ist im Begriff, eingepollert zu werden“. Dabei kommen ebenfalls immer mehr elektronisch versenkbare Poller zum Einsatz – vor Banken, Botschaften, Ministerien und jüdischen Einrichtungen. Nach einer Warnung vor Terroranschlägen wurde z.B. das Jüdische Museum mit 30 schweren Betonblöcken abgepollert. Nach der Sperrung der gesamten Wilhelmstraße mit innenbeleuchteten Stahlpollern – um die englische Botschaft zu schützen, gründete sich 2008 eine BI von Gewerbetreibenden an der Friedrichstraße, die zusammen mit dem CDU-Politiker Uwe Lehmann-Brauns für eine Entpollerung der Wilhelmstraße kämpft – bis jetzt vergeblich: „Denn die weltpolitische Sicherheitslage hat sich nicht gebessert,“ heißt es dazu aus der Innenverwaltung lapidar. Ähnliches gilt für die Poller um US-Einrichtungen:  „Wenn vor irgendeiner amerikanischen Botschaft in der Welt eine Autobombe explodiert, werden Ebert- und Behrenstraße sofort dichtgemacht,“ so sagte es ein hochrangiger Polizeibeamter.

Mit jeder Abpollerung und jeder technischen Verbesserung der Poller weicht der europäische Humanismus der Aufklärung amerikanischem Sachzwang. Und dieser wird durch immer wieder neue Studien von US-Genetikern, -Anthropologen, -Wirtschaftswissenschaftlern, -Soziologen etc. gerechtfertigt, die alle glasklar beweisen: der Mensch, ja auch alle Affen, Vögel und Fische – sind egoistisch. Unser  Altruismus ist dünne Firnis nur über nackte Interessen. Deswegen darf man sich nicht auf die Menschen verlassen, sondern muß auf die „starke Moral“ der Technik setzen. Der Mensch ist, technisch betrachtet, eine „Fehlkonstruktion“. Günther Anders zitierte dazu einen US-Offizier, der den Menschen als eben „faulty“, als nun mal fehlerhaft, bezeichnete. Er ist bestenfalls „bloß noch ‚Mit-Tuender‘ in einem Betrieb, egal ob er Waschmaschinen oder Massenvernichtungsmittel herstellt.“

Bruno Latour spricht von  „Mitforschern“, die wir werden müssen, weil die Wissenschafts- und Technik-Experimente längst über das Labor hinausgewachsen sind und uns alle mit einbezogen haben. „Ein Gerät wird von uns gehandhabt, Maschinen haben uns in der Hand,“ so sagt es Günther Anders. Und damit befindet sich nun laut Latour die stärkere Moral quasi automatisch auf ihrer Seite. Sein wissenschaftssoziologischer Mitstreiter Jim Johnson behauptet – besonders im Hinblick auf seinen eigenen neuen Personalcomputer: „Trotz des steten Unbehagens von Moralisten ist kein Mensch so unerbittlich moralisch wie eine Maschine.“

Im Gegensatz zu den Affen und anderen Tieren „benötigen wir“ jedoch „leider“ – wenn wir Günther Anders folgen – ebenfalls und jetzt erst recht „die Moral“. Das sieht Bruno Latour ganz anders – wobei er sich auf eigene Affenforschungen (zusammen mit der Anthropologin Shirley Strum) stützen kann: Wo wir Wissenschaft und Technik einsetzen, um das Soziale her zu stellen und zusammen zu halten, sind die Affen quasi auf sich allein gestellt, weswegen sie auch eine viel größere „Sozialkompetenz“ als wir haben.

Der Moralphilosoph Anders hebt auf die „Diskrepanz“ zu den sozialistischen Utopisten ab, wenn er uns als „invertierte Utopisten“ bezeichnet: „Während die viel mehr vorstellen als herstellen konnten, können wir uns leider viel weniger vorstellen als herstellen…Vermutlich wird der letzte ‚Täter‘ ein vom Computer gesteuerter Computer sein.“

Jeder Poller – eine zivile Massenvernichtungswaffe

Schon kommen Gehirnforscher zu dem Ergebnis, dass der Mensch für seine Taten sowieso nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, denn ihre physikalisch-chemische Deutung unserer Gehirnvorgänge entlarvte die „Willensfreiheit“ als bloße Fiktion.

Umgekehrt werden dagegen den Computern vor Gericht immer mehr „Personenrechte“ zugestanden – seitdem wir bereit sind, z.B. mit Geld- und Fahrscheinautomaten sowie Computerprogrammen im Internet „faktische Verträge“ abzuschließen. Demnächst werden sogar „Computer auf beiden Seiten des Vertragsverhältnisses agieren“, wie der Rechtssoziologe Gunther Teubner meint. Der Jurist Andreas Matthias ließ sich davon bereits zu einem grundsätzlichen „Plädoyer für die Rechtsverantwortung von autonomen Maschinen inspirieren“ („Automaten als Träger von Rechten“, heißt sein Buch dazu, das  im Verlag „Logos Berlin“ erschien). Ein Rezensent schrieb: „Der Autor vertritt die Auffassung, dass Betreiber und Hersteller von Maschinen mit künstlicher Intelligenz  keine Kontrolle mehr über diese haben. Denn nur die Maschinen haben die vollständige Kontrolle über den von ihnen ausgeführten Vorgang und sollen somit auch die Verantwortung für etwaige Fehler bzw. Schäden tragen.“

Bereits in den frühen Sechzigerjahren erklärte der Peenemünder Steuerungsingenieur und spätere sowjetische Raketenbauer Helmut Gröttrup als Siemens-„Informatiker“ (der dann den Geldautomaten miterfand) in einem Vortrag vor Hamburger Geschäftsleuten: Die unternehmerische Freiheit sei ein bloßer Irrtum, der auf Informationsmangel beruhe. Diesen Informationsmangel könne man aber durch Computerisierung beheben. Die wirtschaftliche Entscheidung(-sfreiheit) geht dabei freilich auf den Rechner über.

Ähnliches sollte 1970 auch mit den politischen Entscheidungen passieren. Da eröffnete der im Zweiten Weltkrieg mit militärischen „Operations Research“-Aufgaben befaßte US- Kybernetiker Stafford Beer dem neuen chilenischen Präsidenten Salvatorn Allende einen „dritten – soften – (Aus-)Weg“ – jenseits der Dogmen von Zentralisierung oder Dezentralisierung, jenseits der Doktrinen von freier Marktwirtschaft oder Planwirtschaft und jenseits der Expertisen von Bürokratie und Vetternwirtschaft. Er argumentierte, die Regierung treffe ihre Entscheidungen auf Basis von Monate wenn nicht Jahre alten Wirtschafts- und anderen -Daten. Beim Stand der Technik sei es jedoch möglich, nach Art der Echtzeit-Frühwarnsysteme Regelungen und Entscheidungen zu treffen auf der Basis eines Regierungswissens, das sich netzwerkhafter Frühinformationssysteme bediene. Das Zeitalter der Statistik müsse (endlich) beendet werden! so Stafford Beer, der daraufhin in den bereits von ihren Redakteuren verlassenen Büros der US-Zeitschrift „Reader’s Digest“ in Santiago einen futuristischen „Operations Room“ einrichtete, von dem aus er bis zum Sturz Allendes 1973 mit einer Reihe von Großrechnern das  „Projekt Cyberstride“ (kybernetische Überschreitung) realisierte, „wenn auch nicht mit tatsächlicher real-time-control, sondern einer Verzögerung von 24 Stunden“, wie Claus Pias unlängst auf einem FU-Kongreß über die Anfänge der Kybernetik ausführte.

Wegen des von den Amerikanern inszenierten Putschs in Chile wissen wir nicht, ob Stafford Beers Zentralrechner bessere moralische Entscheidungen getroffen hätte als die Politiker mit Allende an der Spitze.  Bei den (elektronisch versenkbaren) Pollern läßt deren „starke Moral“ jedoch noch immer zu wünschen übrig – das wissen wir, weil die Gerichte immer mal wieder Verbesserungen (Nachrüstungen) einfordern. So z.B. kürzlich das Oberlandesgericht Saarbrücken in einem Fall, den der MDR folgendermaßen schilderte: „Sabrina Saalbach ist mit ihrem Auto in der Innenstadt unterwegs. An einer Gasse der Altstadt kommt sie plötzlich nicht mehr weiter. Meterhohe Poller versperren ihr den Weg. Einige Augenblicke später beobachtet sie aber einen städtischen Bus. Der Fahrer versenkt per Funksignal einen der Poller im Boden, so dass der Bus durchfahren kann. Frau Saalbach versucht, möglichst schnell zu folgen. Doch der Bus muss wegen eines Fußgängers kurz halten und so bleibt Frau Saalbach direkt über dem eingefahrenen Poller stehen. Der bewegt sich dennoch nach oben und beschädigt ihr Auto erheblich. Von der Stadt fordert sie nun Schadenersatz. Dort allerdings lehnt man ab, die Frau habe keine Berechtigung zur Einfahrt gehabt. Auch hätten Schilder auf den versenkbaren Poller hingewiesen. Das  Oberlandesgericht entschied jedoch: Versenkbare Poller dürfen keine Gefahr im Straßenverkehr darstellen. Kommunen sind verpflichtet, sie technisch so auszurüsten, dass sie nicht zu einer Gefahrenquelle werden können. So muss verhindert werden, dass die Poller ausfahren, wenn ein Fahrzeug darüber hält. Das alleinige Aufstellen von Warnschildern genügt nicht. Die Kommune muss den Schaden von Frau Saalbach zur Hälfte übernehmen.“

In anderen Worten: Beide – Poller und Autofahrerin – haben „moralisch“ versagt, deswegen müssen nun beide zahlen. In Leipzig sieht die technische Nachrüstung neuerdings so aus, dass man neben  den elektronisch versenkbaren Poller-Reihen in der Innenstadt noch jeweils eine Ampelanlage aufgestellt hat – „Pollersignal“ genannt. Darauf muß man nun achten – nicht mehr auf die Poller selbst.

„Viel hilft“, teilt Peter Grosse zu diesem Photo mit.

Einige Zitate von Günther Anders (taz v. 13.7.1982):

„Während der Ahn, durch die Rücksichtslosigkeit seiner Fragen, warum Seiendes, wenn ungesollt, denn überhaupt sein solle; und warum und woraufhin er denn noch sollen solle; durch seine verzweifelte Gier, die ihm vernichtete Welt wirklich zu vernichten, und durch die Maßlosigkeit seiner Melancholie zur philosophischen Figur
ersten Ranges aufrückte – aber der Vernichtung, nach der er fieberte, nicht mächtig war, und dadurch direkt in die
Geschichte nicht einzugreifen schien – ist der Enkel ein philosophisch uninteressierter, des Zynismus so wenig wie
der Melancholie fähiger bonhomme, eine beschränkte, privat harmlose Figur, der die Totalvernichtung in den Schoß
fiel wie irgendeine andere technische Neuerung – aber gerade dadurch geschichtlich von der Enormität, die alles, was bisher als ‚geschichtlich‘ gegolten hatte, in den Schatten stellt, da er der Vernichtung nicht nur mächtig ist; sondern vielleicht sogar unfähig, diese seine Macht nicht auszuüben.“

„Wenn ich behaupte, daß der Mensch weitgehend das Abbild seiner Instrumente sei, dann habe ich zum Beispiel folgendes im Sinn: Ich glaube,daß eine Arbeiterschaft, die Im Auto vor der Fabrik vorfährt, nicht mehr eine solidarische Arbeiterschaft bleiben kann. Leute die gewöhnt sind, täglich im eigenen Wagen hin und her zu fahren, werden nicht mehr wie eine von Käthe Kollwitz lithographierte Menschenmasse über die Champs Elysee oder die Place de la Bastille stürmen. Sie sind durch Maschinen total verändert, nämlich in Solisten verwandelt.“

„Alle bisherige Philosophie, bis hin zu Adorno geht von der Selbstverständlichkeit des Weiterbestandes der Welt aus. Zum ersten Mal wissen wir von der Welt, In der wir leben, nicht, ob sie weiterbleiben wird. Früher hatte der Tod innerhalb der Welt stattgefunden und Jede Epoche innerhalb der weitergehenden Geschichte. Diese Art von Tod ist nun tot. Denn nunmehr haben wir den Tod der Welt selbst oder der Geschichte selbst ins Auge zu fassen.“

Poller am Nordpol

Zur Erinnerung:

„Die Wasserstoffbombe“ (ein JW-Text von Ronald Friedmann, veröffentlicht am 31.1.2010):

Die Mitarbeiter von US-Präsident Harry S. Truman hatten gründlich am Text der Erklärung gearbeitet, die ihr Chef am 31. Januar 1950 der Öffentlichkeit übergab. Schließlich sollte der Eindruck erweckt werden, daß die Entwicklung und der Bau einer Waffe, die von ihren Kritikern als »Völkermordwaffe« bezeichnet worden war, einem hehren Zweck diente – der Verteidigung des Friedens: »Es ist Teil meiner Verantwortung als Oberkommandierender der Streitkräfte, dafür Sorge zu tragen, daß unser Land jederzeit in der Lage ist, sich gegen jeden Angreifer zu verteidigen. In Übereinstimmung damit habe ich die Atomenergiekommission angewiesen, die Arbeit an allen Arten von Atomwaffen fortzusetzen, einschließlich der sogenannten Wasserstoff- oder Superbombe. Wie alle anderen Arbeiten auf dem Gebiet der Atomwaffen, wird auch diese Arbeit entsprechend unseren übergeordneten Prinzipien des Friedens und der Sicherheit erfolgen.«

Anfang 1943 war in den USA das Manhattan-Projekt ins Leben gerufen worden, das bis heute größte und umfassendste Wissenschafts- und Technologieprojekt der Geschichte. Niemals zuvor und niemals danach war eine so große Zahl der besten Wissenschaftler aus aller Welt an einem Ort – dem Forschungszentrum Los Alamos in der Wüste von New Mexico – zusammengeholt worden, um ohne Beschränkung der materiellen und finanziellen Ressourcen ein einziges Ziel zu verwirklichen – den Bau einer auf Kernspaltung basierenden Bombe. Nur zweieinhalb Jahre später war das Ziel erreicht: Am 17. Juli 1945 wurde auf dem Testgelände Alamogordo, ebenfalls in der Wüste von New Mexico, die erste Atombombe getestet. Drei Wochen später, am 6. und 8. August 1945, wurden die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki mit diesen Waffen angegriffen. Weit mehr als hunderttausend Menschen starben im nuklearen Feuer.

Auch die Entwicklung und der Bau einer (thermonuklearen) Wasserstoffbombe, also einer auf Kernfusion basierenden Waffe mit einer unvergleichbar höheren Sprengkraft als einer Kernspaltungsbombe, war ursprünglich ein Teil des Manhattan-Projekts gewesen. Doch es hatte sich sehr schnell herausgestellt, daß es nicht möglich sein würde, zwei so komplexe Vorhaben gleichzeitig zu betreiben. J. Robert Oppenheimer, der wissenschaftliche Leiter des Manhattan-Projekts, hatte deshalb entschieden, die Arbeiten an der Wasserstoffbombe auf die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu vertagen. Einzig der aus Ungarn stammende Physiker Edward Teller bestand darauf, mit seiner Gruppe weiter am Konzept einer Fusionsbombe zu arbeiten: Er hatte innerhalb kürzester Zeit eine nur noch als pathologisch zu bezeichnende Besessenheit entwickelt, eine Wasserstoffbombe zu entwickeln und zu bauen.

Doch in den folgenden rund fünf Jahren erfolgte die Arbeit an der US-amerikanischen Wasserstoffbombe ohne echte Höhepunkte und Fortschritte, der Schwerpunkt der Arbeiten lag weiterhin auf dem Gebiet der auf Kernspaltung basierenden »klassischen« Atombombe.

Am 29. August 1949 zündete die Sowjetunion ihre erste Atombombe, etliche Jahre früher, als es die Spezialisten in den USA für möglich gehalten hatten. In der US-Öffentlichkeit löste dieses Ereignis eine Reaktion aus, die in gewisser Weise eine Vorwegnahme des sprichwörtlichen »Sputnik-Schocks« war, der die westliche Welt acht Jahre später, nach dem Start des ersten sowjetischen Erdsatelliten, erschüttern sollte. Unter dem Eindruck des erfolgreichen sowjetischen Atombombentests sah Edward Teller nun seine große Chance, den Druck auf die politischen und militärischen Entscheidungsträger in der US-Regierung zu erhöhen, jetzt endlich ein umfassendes Programm zur Entwicklung und zum Bau der Wasserstoffbombe aufzulegen, dem höchste Priorität eingeräumt werden sollte und für das alle notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden sollten.

Ein Beraterkomitee der Atomenergiekommission unter Leitung von J. Robert Oppenheimer, dem u. a. die Nobelpreisträger Enrico Fermi und Isidor Isaac Rabi sowie weitere hochkarätige Wissenschaftler des Manhattan-Projekts angehörten, kam jedoch Anfang November 1949 zu einer gänzlich anderen Schlußfolgerung: Es wurde festgestellt, daß eine Wasserstoffbombe »keine Begrenzung der Explosivkraft hätte, mit Ausnahme der Beschränkungen, die sich aus der Notwendigkeit ergeben, daß sie transportabel sein muß«. Und weiter: Die Wasserstoffbombe ist »keine Waffe, die ausschließlich gegen militärische und halbmilitärische Einrichtungen eingesetzt werden kann. Ihr Einsatz würde in noch viel größerem Maße als der Einsatz der Atombombe Ausdruck einer Politik der Massenvernichtung der Zivilbevölkerung sein. (…) Aus diesem Grund kann die Superbombe zu einer Waffe des Völkermordes werden.« Die einstimmige Empfehlung des Beraterkomitees lautete daher, auf die Entwicklung und den Bau der Wasserstoffbombe aus grundsätzlichen Erwägungen zu verzichten und die Bemühungen zu einer internationalen Kontrolle und Begrenzung der nuklearen Rüstung zu intensivieren.

In den folgenden Wochen und Monaten gingen die Diskussionen auf der Ebene der Atomenergiekommission und des Beraterkomitees weiter, doch US-Präsident Truman hatte die Angelegenheit längst auf die höchste Regierungsebene gezogen: Ein Subkomitee des Nationalen Sicherheitsrates der USA, das auch die Meinung des Ausschusses für Atomenergie des Kongresses und die Meinung der Vereinten Stabschefs, des höchsten militärischen Führungsorgans, einholte, bereitete im Januar 1950 die verhängnisvolle Entscheidung vor, die Truman dann am 31. Januar 1950 verkündete.

Edward Teller verwandte nun seine gesamt Energie darauf, das im kleinsten Kreis beschlossene Vorhaben – insgesamt waren weniger als fünfzig Menschen in die Debatte einbezogen, bei der es de facto um die technische Möglichkeit der Selbstvernichtung der gesamten Menschheit ging – in die Praxis umzusetzen. In den folgenden Monaten und Jahren erwarb er sich so den zweifelhaften Ruf, der »Vater der US-amerikanischen Wasserstoffbombe« gewesen zu sein, auch wenn der entscheidende wissenschaftliche Beitrag nicht von ihm, sondern von dem aus Polen stammenden Physiker Stanislaw Ulam kam.

Am 1. November 1952 erfolgte die Zündung der ersten US-amerikanischen Wasserstoffbombe, wobei der Begriff »Bombe« im Grunde falsch war, denn es handelte sich um eine nichttransportable Versuchsanordnung in der Größe eines Wohnhauses, mit einer Masse von nicht weniger als 62 Tonnen. Immerhin entwickelte diese erste Wasserstoffbombe eine Sprengkraft von 10,4 Megatonnen TNT, etwa fünfhundertmal mehr als die Bomben von Hiroshima und Nagasaki. Am 28. Februar 1954 schließlich konnten die USA die erste Wasserstoffbombe testen, die von einem Flugzeug hätte transportiert werden können und daher die Bezeichnung »Bombe« auch zu Recht trug.

Die Sowjetunion zündete ihre erste Wasserstoffbombe am 22. November 1955. Sechs Jahre später, am 30. Oktober 1961, wurde auf der Insel Nowaja Semlja, nördlich des Polarkreises, die größte Wasserstoffbombe aller Zeiten getestet. Sie hatte eine Sprengkraft von 58 Millionen Tonnen TNT, also etwa 3800 Hiroshima-Bomben.

Dem Irrsinn solcher Tests machte erst das Moskauer Atomteststoppabkommen vom 5. August 1963 ein Ende. Doch was in der Öffentlichkeit heutzutage kaum noch Beachtung findet: Wasserstoffbomben gehören noch immer zum Waffenarsenal der Atommächte. Ihr Einsatz ist jederzeit und überall möglich.

Quellentext: War die Wasserstoffbombe notwendig?

Der Vorschlag (des Beraterkomitees – RF) bestand darin, Verhandlungen mit Rußland mit dem Ziel aufzunehmen, daß beide Länder sich verpflichten, die Wasserstoffbombe nicht zu entwickeln. Wenn es möglich gewesen wäre, ein solches Abkommen zu erreichen und umzusetzen, dann wäre die Welt weit entfernt von der Gefahr, vor der sie heute steht. Weder wir noch vermutlich die Russen wußten, wie eine Wasserstoffbombe gemacht wird. In diesem gesegneten Zustand der Unwissenheit hätten wir bleiben sollen. … Viele Menschen werden behaupten, daß Rußland eine solches Abkommen akzeptiert und dann gebrochen hätte. Das glaube ich nicht. Thermonukleare Waffen sind so kompliziert und komplex, daß niemand sicher sein kann, daß er die richtige Lösung gefunden hat, bevor er ein solches Gerät getestet hat. Aber es ist allgemein bekannt, daß der Test einer Bombe von solchen Ausmaßen sofort festgestellt werden kann. Das heißt, auch ohne Inspektion vor Ort würde es jede Seite sofort erfahren, wenn die andere Seite das Abkommen gebrochen hat. Es ist schwer zu sagen, ob die Russen unabhängig von uns die Wasserstoffbombe entwickelt hätten. … Nach dem wir angekündigt hatten, daß wir die Sache betreiben würden, hatten die Russen keine andere Wahl mehr, als dasselbe zu tun. Auf dem Gebiet der Atomwaffen haben wir seit dem Ende des Krieges sowohl quantitativ als auch qualitativ die Vorgaben gemacht. Rußland mußte uns folgen oder zu einer untergeordneten Macht werden. Zusammenfassend muß ich feststellen, daß die Entwicklung der Wasserstoffbombe eine Katastrophe war. … Wir hätten einhalten und vor jedem neuen und unumkehrbaren Schritt sehr gründlich die Folgen bedenken müssen.

Der deutsch-US-amerikanische Atomphysiker Hans Bethe 1954 in seinem damals geheimen Essay »Kommentare zur Geschichte der Wasserstoffbombe«

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