vonDaria Schweigolz 16.02.2024

Seele gegen Wand

Let's call it praktische qualitative Anthopologie

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Wir haben alle etwas unterschiedliche Kapazitäten, Fähigkeiten und Modelle im Kopf (von uns und der Welt). Von ihnen hängt ab, wie wir verstehen, was wir realistischerweise können und was wir überhaupt wollen. Entgegen dem Modell “freier Entscheidungen” wissen wir das auch, weil sich das aus unserer Betrachtung sozialen Alltags und der Unterschiede im Verhalten untereinander ganz gut erklärt.

Wieso sind wir dann nicht alle längst Sozialisten, für das Grundeinkommen, für das finnische Bildungssystem und für bedingungslose Solidarität? 

Einige von uns – aber sie sind eine Minderheit – geben einfach zu, dass sie sich nicht in der Lage sehen, zu teilen und Angst vor dem sogenannten sozialen Abstieg haben.

Ein Stück weit haben wir uns an die Ungleichheit einfach zu sehr gewöhnt. Aber diese Idee, dass sich jemand selbstverschuldet – somit “freiwillig” –  in eine beschissene Lage hineinmanövrieren kann, hat auch eine Funktion, – und zwar nicht nur für die reichen und die privilegierten unter uns.

Es gab eine sehr lange Periode in West-, Ost- und Nordeuropa, als das Überleben tatsächlich davon abhing, wie tüchtig eine Familie war. Bewirtschaftung des Landes angesichts langer Winter ist Knochenarbeit, Bequemlichkeit im Frühling, Herbst, Sommer konnten den Menschen lebensgefährlich werden: das ist der Preis für Sesshaftigkeit und für die Bindung an ein Stück Land. Und dann kamen Plünderungen, Überfälle und Steuern. Wenn es der Privatbesitz ist, der einen Menschen und seine kleinen Kinder und die gebrechlichen Eltern vom Erfrieren und Verhungern bewahrt, dann könnte das freigebige Teilen langfristig das eigene Leben und der Leben der Lieben kosten: und in dieser Lage muss man einander irgendwie davor warnen, auf mich angewiesen zu sein, sich vom Hals halten. Andererseits ist und Gleichheit so wichtig, dass wir die Ungleichheit als gerecht weg-erklären müssen, weil wir sonst ja schlechtes Gewissen hätten. Jede menschliche Gruppe ist per default auf gegenseitige Unterstützung angelegt. Aber so ein Kollektiv braucht auch Kriterien, um zu unterscheiden, ob es sinnvoll ist, jemandem zu helfen, ob das langfristig trägt oder den Ruin bedeutet. Wer zusammenhalt lernt und lebt, braucht auch Kriterien, um einzelnen Menschen Unterstützung zu verweigern. Und im Besten Fall gehe ich bei der Entscheidung von meinen eigenen Erfahrungen aus: das heißt zumindest, dass man einander in transparenten Notlagen unterstützen würde. Das ist ja schon mehr, als einander ganz im Stich zu lassen, aber eben auch weniger, als sich selbst zugunsten eines aussichtslosen Projekts zu ruinieren. Wenn wir nicht helfen können oder wollen, ist es leichter, wenn die Ursache im Verhalten des Anderen liegt: dann ist seine Not vielleicht nicht meine Not, denn ich verhalte mich ja so nicht, ich könnte gar nicht in diese Lage kommen.  Das ist so grundlegend für die Kulturgeschichte unserer Region, dass so eine Geschichte wie “Die Grille und die Ameise” (La Fontaine) auch im Russischen gibt, dort sind es die “Libelle und Ameise” (Krylov).

Und heute? Heute bedroht uns nicht das Teilen, sondern das legale Ausbeuten, das Konsumieren der so hergestellten Produkte, das Überangebot, das ständig neues Begehren weckt und das Anhäufen, mit dem sich Menschen die Sinnhaftigkeit ihres Daseins bestätigen müssen angesichts eines Mangels an down-to-earth zirkulären ökologisch-sozialen Systemen.

Aber das kollektive Bewusstsein, die Sprache allgemein hinken den wirtschaftlichen und den sozialen Realitäten hinterher.

Also streitet man sich darüber, ob die Mehrheit der ALG-II Empfänger*innen unverschuldet oder freiwillig in der Empfängerposition sind, und ob die Flüchtlinge im Mittelmeer nicht eventuell deswegen ertrinken, weil sie ganz bewusst ganz-ganz miese Entscheidungen treffen. Tja, da ist sie wieder, die Ideologie der frei-frei-freien Entscheidungen, common sense, der eigentlich nur eine Plattitüde ist, die nichts erklärt.  Aber sie hilft eben auch gegen die überfordernden Fragen, das Bedürfnis, solidarisch zu sein, die vermeintlich gefährlichen Erwartungen anderer Menschen, und das ist ja genau ihre Funktion. Daran zu glauben – wenn man möchte – ist einfach. Wieso lebt er auf der Straße und wir in einer Doppelhaushälfte? Weil der Mann da nicht Banker geworden ist. Gespräch beendet, ab ins Haus, Kinder wollen grillen, später noch zum Sport. Das ist heute.

Robin Wall Kimmerer erzählt in seinem Buch “Geflochtenes Süßgras“, wie anders das Verhältnis zwischen Familie und Land, zwischen einer Person und der Gemeinschaft sein kann – aber wir müssen um neue Erfahrungen ringen, ringen gegen die Mehrzahl der entscheidenden Faktoren, während die Gesellschaft – das Gute und das Schlechte, das Schöne und Hässliche – vielerorts den sich selbst solidarisch tragenden Netzwerken nicht einmal den physischen Raum bieten könnte, den sie brauchen. Solche Netzwerke – und Menschen, die das Zeug dazu haben, sie zu tragen, aufzubauen, anzuführen – es gibt sie. Aber sie sind einer Minderheit, und ihnen fehlt sehr oft Raum für Wachstum. So viel Potential wird verrieben und verschwindet im bürokratischen Wohlstandsmanagement und idiotischen Verteildungskämpfen.

Und was ist mit diesem Gefühl, etwas zu erreichen? 

Es ist zweifelsohne ein absolut tolles Gefühl – aber nur ein Gefühl. Ich für meinen Teil bin gern arrogant – aber ich habe auch gern die Realität im Blick. Der Stolz auf die eigene Leistung (oder auf wasauchimmer) wird, wie bis zum gewissen Maß alle emotionalen Reaktionsmuster, trainiert. Weder ist es das Feedback des Gottes der Gerechtigkeit, noch des freien Marktes, mit dem sie das leistende Individuum auszeichnen. Somit ist das Gefühl, etwas verdient zu haben – Lob, ein größeres Auto, einen Orden -, selbst ein Anpassungsmechanismus an Erfahrungen und die Gruppe. Als Kinder wollen wir unbedingt Feedback und “verlassen” uns unbewusst darauf, dass unser Umfeld uns auf die Realität jetzt und auch später als Erwachsene vorbereitet. Stolz schlägt gelegentlich die natürliche Scham und das natürliche Verlangen nach Gleichstellung innerhalb der Gruppe, mit denen wir ausgestattet sind. Wenn wir im Glauben aufwachsen, dass uns bestimmte Dinge oder Rechte oder Fähigkeiten zustehen, die anderen Menschen nicht zustehen, dann glauben wir irgendwann auch daran, – denn das ist dann die gesellschaftliche Rolle, die wir bekommen haben: wir erfüllen diese Rolle, und wir verwechseln sie im schlimmsten Fall mit unseren Eigenschaften. Und wenn wir nicht verstehen, dass es nur eine Rolle ist, dann verfallen wir schlicht in Größenwahn.

Aber das ist nicht nur eine Schrulle, nicht nur ein unangenehmes Feature, sondern ein Nullsummenspiel, eine Falle. Ist diese Art von Ungleichheit einmal da, entsteht der Bedarf, sie zu rechtfertigen und somit ein Anreiz, andere Menschen abzuwerten. Das wiederum richtet überall schaden an, wo man auch hin geht: während einige Menschen Chancen nicht bekommen, die ihnen auf Grund ihrer Erfahrung oder Fähigkeiten oder persönlichen Situation “zustehen” – und das ist nichts, als die Möglichkeit, sich in einem günstigen Umfeld zu verwirklichen – leben Andere zu sehr im warmen Comfort unverdienter Privilegien. Die einen müssen zu sehn kämpfen, und die Anderen kaum.

In beiden Fällen vernichtet die Ungleichheit eine Menge Potential.

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