vonDaria Schweigolz 04.11.2024

Seele gegen Wand

Let's call it praktische qualitative Anthopologie

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Ich hatte hundert Gesichter, einige war ich, einige Du. Ich vermisse Dich. Du bist mir begegnet. Wir haben uns gut gekannt. Wir sahen gemeinsam den Abhang hinab in einen tiefen Graben und gemeinsam hatten wir Angst. Wir marschierten. Wir sind im Herbst schwimmen gegangen. Wir zogen Wörter aus dem Eiskalten Wasser ans Land und bauten daraus kleine Wunder. Wir hielten Hände und tanzten einem Mann entgegen oder einer Aufgabe, tanzten uns durch die Geisterwelt. Wir waren eine kleine revolutionäre Zelle, wir haben uns aufgelehnt und sind entkommen. Ja, entkommen. Wir waren frei.  Wir haben gefeiert, getrauert, vermisst, gesucht, gekämpft, sind weitergezogen, wir gingen über die Leere hinweg und haben nicht nach unten gesehen und auch nicht zurück, und wir hatten das Gefühl, dass das hier unsere Zeit ist und dass sie nie zu Ende gehen wird. Ich war so viel, dass ich mich geteilt habe: ich habe beschlossen, dass wir gebären. Du hast also Leben gegeben.

Wir haben’s vollbracht und wir waren nackt deswegen, nackt und voller Liebe und wir haben vertraut. Und etwas Schlimmes ist geschehen. Ich habe nicht gut auf Dich aufgepasst. Ich habe Dich nicht behütet. Jemand hat sich an uns vergriffen. Mir fiel alles aus der Hand. Ich habe mich erschreckt, ich habe mich selbst, ich habe dich weggestoßen. Du hast aufgehört zu sprechen. Wir hatten Angst. Ich gab mir die Schuld daran. Ich habe versucht, mir selbst die Freiheit zu nehmen. Ich habe mich eingesperrt. Wir haben geschwiegen, wir sahen einander nicht mehr an, wir sahen zu denen und hörten denen zu, und haben denen geantwortet und haben die um dies und jenes gebeten; aber vor uns selbst haben wir uns von nun an gefürchtet. Wir haben nebeneinander gelebt, aber vermieden, mit uns allein zu sein. Der Teil von mir, der weiter gelebt hat, ist der, den andere brauchen, den die Anderen wollen. Für mehr habe ich keine Kraft. Ich habe mich selbst begraben. Ich bin eine Frau. Ich bin verblasst. Ich bin alt gemacht worden.

Jahre vergehen. Ich gehe umher und suche Dich. Ich stolpere. Du fehlst mir. Ich greife nach mir, aber ins Leere. Ohne Dich kann ich nicht sein. Ich bin unvollständig. Mir fehlen die Arme. Du bist meine Gesichter und ich bin Deine Gesichter. Es ist Herbst. Ich bin machtlos. Ich werde weitergehen. Ich werde graben. Ich werde Dich ausgraben. Ich werde Dich wiederfinden. Nie wieder werden wir unsterblich sein. Nie wieder werden wir den Abhang hinunter sehen und über die Leere hinwegsehen wie über Wasser. Wer sind wir, ein menschgewordener Gott.

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