Die Kapitulation vor der Deutschen Wehrmacht im März 1938 ist der Alptraum des österreichischen Nationalbewusstseins. Umso stolzer erinnert sich die aktuelle Ausstellung »Panzerlärm an Österreichs Grenze …« im Heeresgeschichtlichen Museum (1030 Wien, Arsenal, Objekt 1) an die Ereignisse des Jahres 1956.
Diese Minischau zum Grenzsicherungseinsatz des Bundesheeres zeigt erstmals ein wirklich sensationelles Dokument: den handschriftlichtlichen Brückensprengbefehl von Oberst Erwin Fussenegger vom 5. November 1956.
Um dieses Dokument richtig einschätzen zu können, muss man Folgendes wissen:
Der junge Staat Österreich hatte ab 26. Oktober in aller Eile Soldaten an die burgenländische Grenze gesandt, und für diese Alarmeinheiten zwei Tage später Schiessbefehl erlassen. Die Wirrnisse der ungarischen Revolution sollten auf keinen Fall auf das eigene Staatsgebiet übergreifen.
Man darf nicht vergessen: die Einheiten der Armee, die das junge Österreich aussandte, bestanden gerade erst einmal Jahr; sie waren mangelhaft mit Material aus amerikanischen Depots ausgerüstet oder trugen teils sogar russische Felljacken (die Hinterlassenschaft einer weiteren Besatzungsarmee), ja viele Wehrpflichtige trugen überhaupt erst seit 14 Tagen den Kampfanzug und amerikanische Helme vom Typ M1.
Politisch spitzte sich die Lage Anfang November vor 50 Jahren unvergleichlich dramatisch zu, als die zweite und diesmal massive Welle sowjetischer Panzer nach Ungarn rollte. In der Nacht auf den 4. November stiessen insgesamt 15 sowjetische Divisionen in den treulosen sozialistischen Bruderstaat vor und kämpften unter Einsatz schwerer Waffen den Aufstand in den Bevölkerungszentren nieder.
Was geschah zu diesem Zeitpunkt beim kleinen Nachbarn Österreich, am äussersten Vorposten des freien Westens?
Die Führung des Bundesheeres leitete zusätzliche und dramatische Verteidigungsvorbereitungen ein. Man rechnete im Armeekommando ernsthaft mit einem Übergriff der sowjetischen Invasion auf Österreich. Ein dritter Weltkrieg schien vielen Menschen nicht mehr ausgeschlossen.
Das Bundesministerium für Landesverteidigung zog darum bestimmte Einheiten – als Nachtübungen getarnt, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen – an die Eingänge des Wienerwaldes zurück. Man versteckte Fahrzeuge und errichtete getarnte infanteristische Stützpunkte entlang von mehreren Linien in Niederösterreich, der Steiermark und im Raum Linz – Enns – Steyr. Im ganzen Osten Österreich bezogen die Truppen Schutzstellungen in garnisonsnahen Verfügungsräumen. Offiziere trugen handschriftliche, in Kuverts verschlossene Befehle bei sich, die zu öffnen waren, wenn der erste Sowjetrusse leibhaftig am Horizont erschien.
Der berühmteste dieser Befehle betraf die »Schnellsprengung« sämtlicher Donaubrücken ausserhalb Wiens. Am Abend des 5. November befahl Generaltruppeninspektor Erwin Fussenegger den Kommandanten des Heeresbionierbatallions 1 aus Melk ins Ministerium am Wiener Franz-Josephs-Kai und händigte ihm ein mit blauer Tinte geschriebene Dokument aus.
Dieser Geheimbefehl mit der Zahl 23geh/56 verlangte um 20.10 Uhr die Vorbereitung der Sperrung und Sprengung sämtlicher Donaubrücken zwischen Tulln und Linz, einschliesslich der Brücken in diesen beiden Städten. Sie sollten »in kürzester Zeit« auf einen Befehl des Ministeriums hin in die Luft gejagd werden können. Und »die Sprengung«, heisst es in der Anweisung an Major Werner Pribil, »hat aus eigenem Entschluss nur dann zu erfolgen, wenn einwandfrei erkannter Feind im Begriffe ist, sich in den Besitz der Brücken zu setzen«.
Tags darauf wurden 4.000 kg Sprengstoff und entsprechende Zündmittel an die Pioniere ausgegeben. Sie präparierten die Donaubrücken wie vorgesehen. Ihre Offiziere vor Ort hielten gleichlautende handschriftlich vorbereitete Befehle unter Verschluss.
Was ist nun das Sensationelle an diesem Brückensprengbefehl?
Dies: Oberst Fussenegger hatte weder politische noch rechtliche Rückendeckung. Die Regierung hatte nichts dergleichen angeordnet. Für den hohen Militär aber galt es als ausgemacht, dass sich ein sang- und klangloser Untergang des Kleinstaats Österreich kein zweites Mal wiederholen durfte.
Im März 1938 hatte der knieweiche österreichische Dikator Kurt Schuschnigg der Welt pathetisch zugerufen: »Wir weichen der Gewalt« – aber Schnuschnigg hatte zugleich seinen Soldaten jeden Widerstand gegen Hitlers militärischen Einfall in das Land verboten.
Nein, so schmachvoll sollte das Land 1956 niemanden mehr in fremde Hände fallen! Der Wille zum Widerstand und zur nationalen Selbstbehauptung war in der militärischen Elite eindeutig stärker verwurzelt als in der Regierung. Fusseneggers tapferer Befehl ist das leuchtende Beispiel dafür, dass die Zweite Republik ihrem Bundesheer mehr zu verdanken hat, als das Bundesheer ihr.
© Wolfgang Koch 2006
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