vonKarim El-Gawhary 30.11.2010

taz Blogs

110 Autor*innen | 60 Blogs
Willkommen auf der Blogplattform der taz

Mehr über diesen Blog
Quelle: www.salon.com - Tom Tomorrow

Ich habe mir den Handschuh schon einmal übergestülpt.  Die Enthüllungen von Wikileaks werden die Journalisten und vor allem uns Nahost-Korrespondenten wohl die nächsten Wochen und Monate beschäftigen. Denn ein großer Teil der geheimen Depeschen beschäftigt sich mit dieser Region. Und anders als die Diskussion in Europa, die sich mit Eitelkeiten und Schwächen von Politikern beschäftigt, treffen die dipomatischen Noten im Nahen Osten mitten ins Herz der dortigen politischen Konflikte.

Es ist atemberaubender, manchmal amüsanter, aber auch beängstigender Lesestoff.  Im Moment komme ich selbst mit dem Querlesen kaum nach.

Gestern habe ich versucht, in einer ersten Analyse der bisher veröffentlichten diplomatischen Kabel, die meiner Meinung nach wichtigsten Punkte für diese Region zusammenzufassen. Das Ergebnis findet sich hier. Ein Gespräch mit dem gestrigen ORF Ö1 Mittagsjournals kann hier angehört werden.

Ich glaube, die wichtigsten absehbaren Auswirkungen auf den ersten Blick sind:

1.       Wir wussten immer, dass eine große Lücke zwischen der offiziellen Rhetorik und dem Denken und der Realpolitik der arabischen Regime klafft. Jetzt haben wir das schwarz auf weiß und man kann sich beim Lesen nicht einer gewissen Schadenfreude gegenüber den demokratisch nie zu Rechenschaft gezogenen arabischen Präsidenten, Königen Emiren und Revolutionsführern erwehren, denen jetzt die Hosen heruntergelassen wurden. Dabei muss man aber auch festhalten, dass bisher wenig Überraschendes und Neues aus den Depeschen hervorgeht. Sie sind vielmehr wertvolle Beweistücke für Indizien, die wir schon lange zusammengetragen haben.

2.       Das Verhältnis zwischen arabischen Regimen und der iranischen Führung ist ein Scherbenhaufen. Wie sollen sie sich wieder in die Augen sehen und ihre nachbarschaftlichen Belange regeln, wenn die Iraner wissen, dass der saudische König, „der iranischen Schlange den Kopf abschneiden will“, die arabischen Emire in ihrer unmittelbaren iranischer Nachbarschaft die Amerikaner zum Krieg gegen den Iran aufrufen und der ägyptische Präsident die Iraner als „große fette Lügner“ bezeichnet.  Das mag all jene freuen, die schon immer die Araber gegen den Iran aufhetzen wollten, ich wage zu bezweifeln, dass das der Stabilität in der Region einträglich ist.

3.       Die Menschen in der Arabischen Welt, wenn sie es nicht schon ohnehin wussten, erfahren jetzt, was sie von der ganzen antiamerikanischen Rhetorik ihrer Regime halten können, die in Wirklichkeit gehorsam ihrem Patron in Washington folgen.   Das ist positiv und kann nur zu mehr politischem Realismus führen. Der jemenitische Präsident Abdallah Saleh beispielsweise, braucht nicht mehr mit antiamerikanischen Tönen die vermeintliche Souveränität seines Landes vor seinem Volk verteidigen, wenn wir jetzt alle, dank Wikileaks,  wissen, dass die USA dort Al-Kaida bombardieren und die jemenitische Regierung diese Luftangriffe als ihre Eigenen ausgibt.

4.       Die innerpalästinensische Aussöhnung zwischen Hamas und Fatah, eine der wichtigen Voraussetzungen, um im Nahost-Konflikt irgendetwas anzuschieben, hat alle ehrlichen Makler verloren. Wichtigster Vermittler in dieser Frage war bisher der ägyptische Geheimdienstchef Omar Suliman. Der hat sich in den Depeschen nun klar geoutet, dass sein Hauptziel ist, die Hamas zu isolieren. Wahrscheinlich ist auch die Depeschen-Einschätzung des Emirs von Katar richtig, der den Ägypten vorwirft, die Verhandlungen zwischen Hamas und Fatah für alle Ewigkeit in die Länge zu ziehen, schlichtweg, um die ägyptische Vermittlerrolle und damit eine der letzten Bedeutungen ägyptischer regionaler  Außenpolitik nicht auch noch zu verlieren.

5.          Apropos der Emir von Katar, der den Ägyptern poltische Ineffektivität vorwirft, während der ägyptische Präsident seinerseits nicht mit der Kritik an seinen arabischen Regierungsbrüdern hinter dem Berg hält und Nuri Al-Maliki, der gerade wieder einmal mit der irakischen Regierungsbildung beauftragt wurde, als „iranischen Agenten“ bezeichnet. Ich freue mich auf die nächsten Gipfeltreffen der Arabischen Liga.

6.       Was bedeutet das Alles für die zukünftige Politik in der Region? Das ist schwer abzusehen. Wir erfahren jetzt, was die arabischen Regime denken, aber wird das ihre Politik ehrlicher machen, wo wir auch wissen, dass ein Großteil der arabischen öffentlichen Meinung ganz anders denkt und sie auch darauf Rücksicht nehmen müssen. Ist doch laut Umfragen, Ahmadinedschad nach Erdogan der populärste Politiker in der arabischen Welt.

Das war jetzt alles ein etwas trockener Stoff, daher zum Schluß noch ein kleines Schmankerl. Damit sie vor lauter Wikileaks nicht ganz in Vergessenheit geraten: die ägyptischen Parlmentswahlen, deren erste Runde am Sonntag stattgefunden hat. Die Videoaufnahme stammt aus einem Wahllokal in Damanhur im Nildelta.

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=d3qN4yNPDEI[/youtube]

Zum Verständnis: in der Anfangssequenz sind Männer im Wahllokal zu sehen, die massvenhaft illegal Stimmzettel ausfüllen. Dannach wird das Wahllokal gestürmt (mit Schulbänken ins Fenster). Anschließend werden die Wahlurnen aus dem Fenster geworfen und angezündet. Ab dem Zeitpunkt war eh alles egal, da der Inhalt der Urnen sicherlich nicht dem Wählerwillen entsprach. So haben die Menschen von Damahur die ägyptischen “Wahlen” auf ihre ganz eigene Art ensorgt.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/sesam_oeffne_dich_wikileaks_entbloesst_die_arabischen_regime_das_ist_gut_so_-_meistens/

aktuell auf taz.de

kommentare