vonHeiko Werning 20.09.2010

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Da spricht aber wirklich zum Blinden jemand, der nicht einmal einen Kopf hat: Franz-Josef Wagner schreibt Thomas de Maizière. Jener Wagner, der angesichts der Causa Kachelmann in der „Bild“ noch leutselig davon schwadronierte, man dürfe den Wetterfrosch natürlich nicht vorverurteilen und es sei ja noch ungewiss, ob er tatsächlich die Vergewaltigung begangen hat, aber eines habe er ganz sicher, nämlich Herzen gebrochen, was aber auch sehr schlimm ist, vielleicht, immerhin noch mit einem Fragezeichen versehen, helfe da ja „Kastration“. Jener „Schwanz ab!“-Wagner also schreibt jetzt wieder in der „Bild“ de Maizière, der einen Integrationsaktionsplan vorgelegt hat und darin unverständlicherweise auf ähnlich wirkungsvolle Vorschläge verzichtete, wobei Kastration doch ganz sicher auch eine Lösung wäre angesichts der Sarrazin’schen Beobachtung, dass diese ganzen Ausländer und Unterschichtler sich wie die Karnickel vermehren, und wo nun plötzlich alle sagen, die Tonlage sei ja vielleicht etwas daneben, aber es sei doch gut und richtig, dass jemand mal die Probleme überhaupt benenne. Jener Kastrastions-Wagner also beschimpft den Innenminister ob der fehlenden Radikalität seines Integrationsplans und sagt dazu: „Gehen Sie mit mir nach Neukölln, Wedding. Sie haben Leibwächter, ich nicht. Wenn Sie da jemanden angucken, dann sagt er: Scheiß Deutscher, was du gucken, einen in die Fresse, besser du tot als ich.” Womit immerhin eindrucksvoll widerlegt wäre, dass des Deutschen nur rudimentär mächtige Migranten automatisch dumm seien, denn etwas Sinnvolleres kann man zu Wagner ja gar nicht sagen.
Leider aber könnte in Wirklichkeit Wagner sich seine Dackelbeinchen ablaufen im Wedding, er könnte sogar im Tross mit Sarrazin durch alle Hinterhöfe schleichen, ihm würde gar nichts passieren. Erstens, weil die Alkoholiker sich untereinander letztlich nichts tun und ein feines Gespür dafür haben, wer einer von ihnen ist, denn auch optisch passt Wagner sich ja bestens ein in die Gesellschaft vom Leopoldplatz, und zweitens und vor allem: weil niemand im Wedding Figuren wie Wagner oder Sarrazin überhaupt erkennen würde. Und wenn, dann wäre es ihnen auch egal. Wer sich sein Leben lang von der Gesellschaft anhören muss, dass er ein Vollversager ist und für nichts gebraucht wird, der muss seine Kräfte sinnvoller einteilen, als mit ihnen auf Pappkameraden einzudreschen: der muss den Kater bis zum Frühstücksbier im Griff haben oder den Hehler-Laden in Schuss oder den Schuss noch setzen.
Einen Provokateur nennen sie Sarrazin jetzt, dabei ist das vermutlich glatt gelogen. Der Mann will nicht provozieren, der ist womöglich überzeugt von dem, was er erzählt. Der weiß halt nichts von Biologie, und von Sozialwissenschaften erst recht nicht. Der kann nur Statistiken hin- und herschieben, aber die Gesellschaft funktioniert nicht wie ein Bankbilanz oder ein Länderhaushalt, und Letztere hat er zudem ja auch nicht in den Griff bekommen. Weshalb man sich natürlich besser Schuldige sucht, Schuldige, die sich nicht wehren können. Die Menschen im Wedding mögen am Boden sein, manche auch religiöse Extremisten, faule Hunde oder einfach nur Arschlöcher, aber selbst dort auf der Straße gilt für die allermeisten noch ein letztes Gesetz der Ehre, ein Gesetz, über das ein Ehrenmann wie Sarrazin nur höhnisch lacht: Man tritt nicht auf Leute, die schon am Boden liegen.
Aber Ehrlosigkeit ist ja nur das Eine. Jeder, der von Biologie etwas mehr versteht, weiß, dass Sarrazins genetische Ausführungen einfach Unsinn sind. Seine Hauptkronzeugin, eine Genetikerin, bescheidet knapp, der Mann habe ihre Schriften wohl schlicht nicht verstanden. Man könnte auch sagen: Der ist einfach zu dumm. Das ist der tragische Witz am Fall Sarrazin: Weil er zu dumm ist, die Dinge, über die er spricht, richtig zu deuten, bezichtigt er andere der Dummheit.
Denn egal, zu wie viel Prozent Intelligenz nun vererblich ist oder nicht: Erstens reicht das, was sozusagen artspezifisch mit dabei ist, immer noch aus, bei vernünftiger Erziehung oder Ausbildung ein normales Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen, und zweitens ist mangelnde Intelligenz ja nun wahrlich kein Hinderungsgrund für den sozialen Aufstieg, man schaue nur in die Fernsehstudios oder Zeitungsredaktionen oder Ämter oder eben in den Bundesbankvorstand.
Wenn man schon unbedingt mit der Biologie argumentieren möchte, dann sollte man lieber einen Vergleich ziehen zum Phänomen der Konvergenz. Ähnliche Lebensräume an ganz verschiedenen Orten der Welt haben oft ähnliche Bewohner, selbst wenn diese überhaupt nicht näher miteinander verwandt sind. Um es mal mit einem Beispiel aus meinem Fachgebiet zu belegen: Der mittelamerikanische Basilisk, eine Echse mit einem großen Rückenkamm und der Fähigkeit, bei der Flucht auf zwei Beinen mittlere Strecken über die Wasseroberfläche laufen zu können, ähnelt in Aussehen und Verhalten stark der philippinischen Segelechse, obwohl beide genetisch seit Millionen Jahren nichts mehr miteinander zu schaffen hatten, sie sind nicht näher verwandt. Beide leben im Regenwald am Rand von Gewässern, und da werden bestimmte Merkmale im Lauf der Evolution durch die Umweltbedingungen eben bevorzugt herausgebildet. Oder plakativer gesagt: Wer im Wasser lebt, bekommt Flossen.
Wenn Migranten also im Schnitt schlechtere Bildungsabschlüsse, aber höhere Kriminalitätsraten haben, dann liegt das weder an einer genetischen Disposition noch an ihrer Religion, so lästig der Islam oft natürlich auch ist, eben wie jede fundamentalistisch gelebte Religion lästig ist. Dann liegt das daran, dass die Leute, die am unteren Rand der Gesellschaft leben, nun einmal schlechtere Bildungsabschlüsse und höhere Kriminalitätsraten aufweisen. Die Umweltbedingungen formen das Individuum.
In einem Punkt hat Sarrazin allerdings Recht: Man kann nicht aus jeder einzelnen Person mit der richtigen Förderung durch den Staat alles machen. Nicht jeder hat das Zeug zum Leistungssportler, Ingenieur oder Chemiker. So wie man eben selbst mit zahllosen staatlichen Milliarden noch längst nicht aus allen Bankern verantwortungsvoll mit Geld umgehende Menschen machen kann. Wo nichts ist, ist eben nichts. Eine nützliche gesellschaftliche Tätigkeit sollte eigentlich aber bei jedem drin sitzen, wenn man ihn halbwegs angemessen dafür bezahlt. Und was ist schon nützlich? Viele meiner Weddinger Nachbarn sind Gemüsehändler oder Dönerverkäufer, andere Kleinkriminelle oder Berufstrinker. Mir wäre es lieber, Herr Sarrazin hätte sich auch zu einer solchen Tätigkeit entschließen können, statt dass er Bücher schreibt.

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