Die Zahl ist unglaublich: Rund 70 Prozent aller Kairoer wohnen in einem sogenannten ‚Ashwa’iyya, einem informellen Viertel, das ohne Genehmigung und ohne jegliche Planung errichtet wurde. Das sind über zwölf von rund 18 Millionen Menschen. Die Zahl stammt von einen Mann, für dessen Job ich ihn nicht beneide: Kairos oberster Städteplaner, Moustafa Madbouli. Das wichtigste Merkmal im Leben von sieben von zehn Kairoern: Der Staat und dessen Dienstleistungen sind praktisch nicht präsent.
Mein Kollege Jürgen Stryjak beschreibt das dortige Leben in seinem sehr anschaulichen Beitrag im deutsprachigen Magazin von Amnesty International unter dem Titel: „Vertreiben und verstecken: Die Bewohner der Slums in Kairo haben Hilfe dringend nötig. Der Staat bietet ihnen keinen Schutz, sondern bedroht sie“.
Die beste Beschreibung aus der dortigen Perspektive in zwei Sätzen:
„Der Staat beginnt irgendwo in der Ferne, weit hinter dem Verteilerkasten, von dem die Leute ¬illegal Strom abzapfen. Er regiert in einer anderen Welt.“
Zumindest einmal hat der Staat nun doch Flagge gezeigt und etwas gemacht, das in Ägypten Seltenheitswert hat: er hat jemanden zur Rechenschaft gezogen. Kairos Vize-Governeur wurde wegen Vernachlässigung seiner Dienstpflichten zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Mahmoud Yassin wird für den Tod von 119 Slumbewohnern verantwortlich gemacht, die im September 2008 in Duwayqa am Fuße des Berges Muqattam in Kairo von einem Felssturz in ihren Verschlägen begraben wurden. Sieben weitere städtische Beamte wurden zu jeweils drei Jahren verurteilt.
Die Angeklagten wurden schuldig gesprochen, Warnungen ignoriert zu haben, dass der Felsen das Abwasser der Bewohner am oberen Teil des Viertels wie ein Schwamm aufgesaugt hatte, dieser schon lange einsturzgefährdet war und die Einwohner am unteren Teil lange hätten evakuiert werden müssen. Das Risiko war auch den Einwohnern des Viertels bewusst. Armut bedeutet nicht nur kein Geld zu haben, sondern auch keine Optionen. Etwa jene, von einem gefährdeten Ort wegziehen zu können.
Aber der Fall Duwaykas war noch extremer. Im Viertel hatte sich eine Mafia gebildet, die die Häuser im einsturzgefährdeten Teil für relativ hohe Mieten vermittelt hatte. Deren Verkaufsargument: wer in einem gefährdeten Gebiet wohnt, der bekommt früher oder später an einer anderen Stelle vom Staat eine Ersatzwohnung zu günstigen Bedingungen gestellt. In diesem Falle hatten einige der Einwohner also versucht, der Armut zu entkommen und ihrer Familie bessere Lebensbedingungen zu bieten, indem sie ihre Familie wissentlich einer Gefahr ausgesetzt hatten. Ein Versuch den sie nicht überlebt haben. Beeindruckender lässt sich die in der Armut innewohnende Verzweiflung wohl kaum beschreiben.