Poller töten! Diese Warnung kommt aus dem Regierungsviertel. Photo: Unbekannt.
Im Folgenden wieder mal ein Text, den kein Holzmedium wegdrucken wollte – über „soziale und solidarische Ökonomie“. Aktueller Anlaß, ihn hier in den blog zu stellen, ist die Veröffentlichung eines Buches von Friederike Habermann „Halbinseln gegen den Strom – Anders leben und wirtschaften im Alltag“ (Verlag Ulrike Helmer).
Das Buch wird am 9.Juli abends in der Kreuzberger Kollektivkneipe „Tante Horst“ von der Autorin vorgestellt, zusammen mit der Eröffnung einer Ausstellung des Ingenieurkünstlers Peter Schmidt über den neuesten Stand des Produktionsprozesses: „Die Große Maschine“.
Mit dem Begriff der „sozialen und solidarischen Ökonomie“ ist eine wirtschaftliche Selbsthilfe in Form eines Gemeinschafts- oder Kollektivunternehmens gemeint, das sozialen oder anderen gemeinwesenbezogenen Zwecken dient und dessen Gewinne nicht privat angeeignet, sondern re-investiert werden.
Wird an dieser Ökonomie das „Soziale“ betont, dann geht es in der Regel darum, Was gemacht wird, während beim „solidarischen“ Wirtschaften nach dem Wie gefragt wird. Allein in Ostberlin gibt es inzwischen 988 soziale Unternehmen, wovon allein die gemeinnützige GmbH „Pfefferwerk“ 594 Arbeitsplätze geschaffen hat. Sie ist damit der drittgrößte Betrieb im Bezirk. Dort gibt es ferner eine Entwicklungsagentur für soziale Unternehmen und Stadtteilökonomie: BEST genannt, die bis Mitte 2007 aus dem „Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung“ finanziert wurde. Daneben existieren über die Stadt verteilt 33 aus dem Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ finanzierte „Quartiers-Managements“, zu deren Aufgaben auch die Förderung von „lokaler Ökonomie“ gehört, obwohl sie damit in der Regel überfordert sind, weshalb es häufig bei dem Versuch einer „Quartiers-Aufwertung“ ohne nachhaltige ökonomische Effekte bleibt.
Die Geschichte dieses Begriffs reicht inzwischen über 150 Jahre zurück, zum Beispiel bis zur Gründung der ersten Kooperative der Rochdale Pioneers in Großbritannien; er wurde im Zusammenhang neuer sozialer und ökonomischer Krisen immer wieder aufgegriffen , so auch 1983 in Westberlin mit der Gründung einer „Arbeitslosen-Selbsthilfe-Initiative“ an der Freien Universität . Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Karl Birkhölzer verlor damals seine (befristete) Assistenzprofessorensstelle, während gleichzeitig die Mehrzahl der von ihm betreuten Absolventen auf Grund eines Einstellungsstops für Lehrer die Perspektive akademisch ausgebildeter Arbeitsloser vor sich hatten. Obwohl deren Zahl bereits damals nicht unbeträchtlich war, war Arbeitslosigkeit – und vor allem die Frage, was dagegen getan werden könnte – kein Thema in der akademischen Forschung und Lehre.
So entstand das Projekt PAULA e.V, – das „Projekt für Arbeitslose und Lehrer der Arbeits- und Berufspädagogik“ – mit dem Ziel in selbstorganisierter Forschung „Strategien gegen Arbeitslosigkeit“ zu entwickeln, zuerst in frei gewordenen Räumen der FU in Dahlem und Lankwitz und seit 1989 in der leerstehenden Rotaprint-Fabrik im Wedding. Dort befindet sich das Projekt immer noch, obwohl die Zukunft des Gebäudes wie in all den Jahren zuvor ungewiss ist. In der Zwischenzeit sind jedoch aus der Initiative neben dem PAULA e.V. eine Reihe weiterer „sozialer Unternehmen“ hervorgegangen wie das Technologie-Netzwerk Berlin e.V., die PAULA Werke Gesellschaft für sozial und ökologisch nützliche Arbeit mbH und das Kommunale Forum Wedding, aus dem wiederum die dortige Stadtteil-Genossenschaft hervorging. Nach der Wende kamen in Ostberlin eine Projektentwicklungsagentur, die Kiezküche Hellersdorf, der Stadtteiltreff im „Labyrinth“ und andere Ausgründungen dazu. Jüngstes Projekt ist die „Berliner Entwicklungsagentur für soziale Unternehmen und Stadtteilökonomie / BEST“. All das gehörte bzw. gehört zum sog. „Paula-Verbund“: „Wir sind ein sozialer Wirtschaftsverbund,“ sagt Karl Birkhölzer.
Am Anfang der strategischen Überlegungen stand eine Frage: Wie überleben Menschen in Krisenregionen? Die Weltökonomie ist gespalten: Es gibt Wohlstandszonen, inzwischen auch in der Dritten Welt, daneben breiten sich aber – nicht zuletzt in der Ersten Welt – vor allem die Krisenregionen aus: in ländlichen peripheren Gebieten, in altindustriellen Zentren und in bestimmten „Quartieren“ in fast jeder Stadt Europas. Nach 1989 kam fast ganz Osteuropa mit Ausnahme einiger weniger Zentren hinzu.. „Wir sind von der Hypothese ausgegangen, dass es in diesen Krisenregionen so etwas geben müsste wie eine ‚ökonomische Selbsthilfebewegung‘.“ Um dies herauszufinden – zuerst mit Schwerpunkt in Westeuropa und vor allem in Grossbritannien – konnte die Gruppe ein Interdisziplinäres Forschungsprojekt an der Technischen Universität Berlin (1988 – 1992) einwerben. Vorausgegangen war ein intensiveres Studium der wirtschafts- und stadtpolitischen Strategien des „Greater London Council/ GLC“ (1981 – 1986), dort war der Begriff der „Lokalen Ökonomie“ geprägt worden. Ein zweite Untersuchung 1987, nachdem der GLC ein Jahr zuvor von der Thatcher-Regierung abgeschafft worden war, ergab: „Alle Projekte, die ausschließlich von öffentlichen Zuwendungen abhängig waren, konnten nicht überleben, aber alle, die sich inzwischen in einer Nachbarschaft oder einem Gemeinwesen (englisch: „community“) verankert hatten, konnten sich sogar weiter entwickeln. Andere Akteure wurden über das ganze Land verstreut und haben dort in den folgenden Jahren von vorne begonnen. Wir haben aus diesen Erfahrungen den Gemeinwesenansatz, d.h. die notwendige Verankerung von lokalökonomischen Initiativen im Gemeinwesen, abgeleitet.“
Ursprünglich wollte die Initiative nach englischem Vorbild eine Genossenschaft gründen, aber deren Verbände waren damals in Deutschland für solche Experimente nicht aufgeschlossen. Außerdem empfahl es sich, zwischen der Rechtsform der Genossenschaft und den genossenschaftlichen Prinzipien der Selbsthilfe, Selbstorganisation und Solidarität (den drei großen S) zu unterscheiden. Diese können auch in anderen Rechtformen verwirklicht werden, z.B. in gemeinnützigen Vereinen oder GmbHs, die wie die PAULA Werke GmbH in ihrem Gesellschaftervertrag ein Verbot privater Gewinnentnahme verankert und festgelegt haben. „In Deutschland sind wir, was die Akzeptanz und Unterstützung der Sozialen Solidarischen Ökonomie angeht, noch Entwicklungsland“, meint Karl Birkhölzer.
Soziale Unternehmen entstehen vor allem dort, wo Markt und Staat die Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Gütern und Dienstleistungen nicht (oder nicht mehr) gewährleisten. „Die ’normalen‘ Menschen sind da sehr erfindungsreich. Wenn irgendwo ein solches Problem entsteht, bildet sich früher oder später eine Initiative oder soziale Bewegung, die auf Abhilfe drängt. Die Geschichte der Ökonomie in den letzten 150 Jahren, könnte so auch als Geschichte der Alternativ-Ökonomie geschrieben werden. Irgendwann nach der Protest-Phase folgt die Erkenntnis: ‚Wir müssen die Ökonomie selbst in die Hand nehmen – zumindest auf lokaler Ebene‘.“ Aus solchen Initiativen – mit ganz unterschiedlichen Ansätzen und kulturellen Rahmenbedingungen – ist inzwischen eine weltweite Bewegung geworden, die sich untereinander austauscht und zu verständigen sucht, was nicht immer leicht ist. „Wir dürfen nicht in den Fehler verfallen, alles, was in diesem Bereich geschieht, unkritisch zu akzeptieren. Es gibt da auch jede Menge Widersprüche und Fehlentwicklungen. Um aber niemand von vornherein auszuschließen, plädieren wir zunächst einmal für ein relativ breites Verständnis von ’sozialer solidarischer Ökonomie‘.“ Das Technologie-Netzwerk Berlin e.V. hat dazu inzwischen mehr als 30 (zumeist transnationale) Forschungs- und Entwicklungsprojekte sowie eine Vielzahl von Veröffentlichungen, Bildungsveranstaltungen, Vorträgen, Projekt- und Unternehmensberatungen im In- und Ausland vorzuweisen und sich einen Ruf als eine der wenigen Expertengruppen auf diesem Gebiet erarbeitet, nicht zuletzt in Osteuropa. So ging es vor kurzem auf Einladung der Karpaten-Stiftung in Ungarn (mit Polen, Rumänen, Slowaken und Ukrainern) um die Frage, wie diese verarmte Bergregion durch Gemeinwesen-Entwicklung gestärkt werden kann? Dabei stehen strategische Ansätze der Rekonstruktion lokaler Ökonomien im Vordergrund.
Noch bis 1945 bestand der Großteil der ländlichen Regionen und auch der Kleinstädte in Europa aus funktionsfähigen lokalen Ökonomien, deren Gefährdung und Auflösung zum Teil erst heute sichtbar wird. Es gab und gibt jedoch auch Gegenbewegungen. So verfügt z.B. Großbritanien über eine langjährige Community-Tradition, die nicht zuletzt auf die Erfahrungen während der deutschen Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg zurückgeht: Da die Großstädte wie z.B. London noch über keinen organisierten Luftschutz verfügten, mussten die Bürger einspringen. Dazu wurde die Stadt, entlang historisch gewachsener Identitäten, in kleinräumige Communities gegliedert, welche neben dem Schutz auch die gegenseitige Hilfe in den Nachbarschaften selbst organisieren und verwalten sollten. Nach dem Krieg sollten sich diese Communities wieder auflösen, aber die Leute haben an ihren so entstandenen Gemeinweseninitiativen und -organisationen festgehalten und sich neue Ziele gesetzt. So bestehen bis heute eine Vielzahl lokaler Community-Centres, die öffentlich finanziert werden und zum Ausgangspunkt vieler neuer Initiativen geworden sind. Von dort war es nur noch ein kurzer Schritt zur Gründung von „Community Businesses“, d.h. von Wirtschaftsunternehmen zur Verbesserung der Lebensqualität in den Nachbarschaften und Stadtteilen: Community Gardens, – News Papers und Radios, – Swimming-Pools, – Heritage Centres, – Libraries, aber auch – Transport Systems, – Wind Parks, – City Farms, – Credit Unions sowie eine Vielzahl von Community Resource and Support Centres für unterschiedliche soziale Gruppen und Stadtteile.
„Für mich manifestiert sich darin eine gigantische Suchbewegung nach Auswegen aus Krisensituationen. Ich meine aber jetzt nicht die allgegenwärtige Finanzkrise, sondern die vielen kleinen oder auch großen Krisen in der Daseinsvorsorge und der Versorgung mit den notwendigen Gütern und Dienstleistungen. Zu deren Bewältigung muss heute sehr viel soziales Kapital investiert werden, also sehr viel Zeit und Kraft von vielen Menschen, die Bündelung ihrer Kenntnisse und Fertigkeiten – bis daraus auch wieder physisches und finanzielles Kapital entstehen kann. Und anschließend muss dafür gesorgt werden, dass dieses neu erworbene Kapital auch in der lokalen Ökonomie bleibt.“ Obwohl wir in einer scheinbar reichen Gesellschaft leben, ist die Versorgung der Grundbedürfnisse wie Ernährung, Wohnen, Gesundheit und Bildung nicht (oder nicht mehr ausreichend) für alle gewährleistet. Immer wichtiger wird daneben die Versorgung mit Energie, Wasser, Abwasser, Transport, die sich heute technisch kleinräumig und dezentral organisieren lässt. Ferner geht es um haushaltsnahe Dienste sozialer oder gewerblicher Art, um lokale Kultur, um Naherholung, Umweltreparatur und – vorsorge und schließlich um die kommunale Infrastruktur. Als die PAULA-Projekte vor mehr als 20 Jahren anfingen, sich mit diesen Anliegen zu beschäftigen, waren die Begriffe Lokale und Soziale Ökonomie – zumindest in Deutschland – nahezu unbekannt oder wurden als abwegig oder überflüssig angesehen. „Unsere Angebote in Forschung, Entwicklung und Bildung trafen auf eine offenkundige Marktlücke, in der es möglich war, ohne öffentliche Unterstützung zu überleben. Heute gibt es aber auch auf diesem Gebiet viel mehr Konkurrenz, weshalb es für uns schwieriger geworden ist, entsprechende Aufträge zu akquirieren. Wir sind an einem kritischen Punkt angekommen, an dem vieles davon abhängt, ob es gelingt, auch die öffentliche Hand davon zu überzeugen, dass die Entwicklung der lokalen sozialen Ökonomie – gerade angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftskrise – überlebenswichtig ist und öffentlich gefördert werden muss. So verstehen wir unsere Arbeit in Forschung, Entwicklung und Bildung nicht zuletzt als eine öffentliche Dienstleistung ist, die (zumindest teilweise) auch aus öffentlichen Mitteln bezahlt werden müsste, wie das in anderen europäischen Ländern inzwischen üblich ist“, so Karl Birkhölzer, dessen interdisziplinäres Forschungsprojekt in der Wendezeit einige Jahre lang von der Technischen Universität gefördert wurde, wo er – obwohl inzwischen pensioniert – noch immer ein Büro und sein Archiv hat: Er betreut dafür dort ehrenamtlich studentische Projektwerkstätten.
Im Rahmen eines von der Europäischen Union geförderten Modellprojekts arbeitet er im Augenblick daran, ein europäisches Curriculum und einen Weiterbildungsstudiengang für Multiplikatoren zu entwickeln: „Noch kann man nirgends in Deutschland lokale und soziale Ökonomie lernen: Die Verbindung der Worte „sozial“ und „Ökonomie“ ist hierzulande immer noch eine Provokation, da die Meinung vorherrscht: „Ökonomie“ ist Geld verdienen und „sozial“ ist Geld ausgeben. Ich bin immer wieder erstaunt über das Ausmaß an Unkenntnis in Deutschland über das, was andernorts möglich ist.“
Vom Technologie-Netzwerk Berlin e.V. erschien soeben, mit Unterstützung der Hans- Böckler-Stiftung: „Soziale Ökonomie in Berlin – Perspektive für neue Angebote und sinnvolle Arbeitsplätze in der Hauptstadt“.
Die Referate des 2006 von Technologie-Netzwerk Berlin e.V. mitveranstalteten Kongresses an der TU Berlin „Solidarische Ökonomie im globalen Kapitalismus – Wie wollen wir wirtschaften?“ wurden 2008, herausgegeben von Sven Giegold und Dagmar Embshoff, in Zusammenarbeit mit der taz im VSA-Verlag, Hamburg, veröffentlicht. Sie werden demnächst kostenfrei ins Netz gestellt.
Weitere Informationen: www.technet-berlin.de; www.soziale-oekonomie.de