Der französische Künstler Matthieu Martin veröffentlichte 2014 das Buch „Cover-Up“. Mit reichhaltiger eigener Graffiti-Erfahrung im Gepäck, zeigt er darin dokumentarisch Fotos aus verschiedenen Orten der Welt und offenbart, wie globalisiert und uniform weltweit Graffiti übermalt werden und der öffentliche Raum gesäubert wird. Hier das exklusive Interview mit ihm, das Caro vom Fotoblog Streetart am 13.01.2017 mit ihm auf Französisch geführt hat:
Frage: Hallo. Wie heißt du und was machst du? Seit wann? Was sind deine Projekte?
Antwort: Matthieu Martin. 30 Jahre alt. Ich bin Künstler. Seit 2012 lebe und arbeite ich in Berlin. Ich habe Graffiti mit 14 Jahren für mich entdeckt und habe es bis Mitte zwanzig (2008/2009) aktiv betrieben. Seitdem ich Graffiti für mich entdeckt habe, mache ich eigentlich immer so ziemlich das, worauf ich Lust habe. Im Jahr 2011 habe ich meinen Abschluss als bildender Künstler an der Kunsthochschule gemacht. Lass mich kurz die schöne Geschichte erzählen, wie ich mit dem Thema Graffiti in Berührung gekommen bin: Das war in den 1990er Jahren über einen Betreuer in der Schule, der das Street-Kultur-Magazin Radikal gelesen hat. Ich musste eine Strafstunde absitzen und hatte also viel Zeit herumzubringen… Ich kann mich noch gut daran erinnern. Ich saß in einer der ersten Reihen vorne und sah ihn also dieses Heft lesen und habe ihn gefragt, ob ich es mal ausleihen könnte, wenn er fertig ist. Er hat es mir gegeben und beim Durchblättern bin ich auf diesen Artikel über 93 MC, Boxer und so gestoßen. Das war ein 1-seitiger Artikel und ich habe ihn gefragt, ob er ihn mir fotokopieren könnte. Ich habe diese schwarz-weiß-Kopie noch heute bei mir im Atelier! Das war so ein Riesenflash, als ich das entdeckt habe. So hat alles angefangen.
Magazin Radikal
Dann kam es vom einen zum anderen. Ich weiß gar nicht, was es war, was mich so geflasht hat. Ich glaube es hatte mit der Energie zu tun. Ich habe also als 9.-Klässler angefangen selbst zu sprühen und am Anfang war das eher Nachahmung. Ich habe alleine gesprüht. In der Normandie [Nordfrankreich] gab es zwar ein paar Sprüher, aber ich komme aus einer kleinen Stadt, da war ich der Einzige. Ich habe direkt das Monopol gehabt :-). Ich habe andere Sprüher aus meiner Gegend getroffen, und wir haben nach und nach angefangen, so richtig als Gruppe zusammen zu malen. Ich war dann auch öfter mal auf Jams in Paris und drumherum, sogar bis nach Belgien sind wir gefahren. Darauf folgten sieben Jahre intensives Graffitimalen, mit einer Ausrichtung auf große Wandbilder im Kollektiv, die teilweise sehr ehrgeizige Projekte waren. Wir haben uns in den Tagen vorher die Skizzen hin- und hergeschickt, Pläne ausgearbeitet und sind dann los. Beim größten Bild, das wir gemalt haben, waren wir so an die 60 Sprüher. Das war ein Riesending. Es ging bei uns mehr um den Austausch und die Begegnung als um Risiko und Adrenalin. Ich habe eher legal und groß gearbeitet. Durch meinen Familienhintergrund konnte ich es mir nicht leisten, eine Geldstrafe zu kassieren. Dafür hätten ich oder meine Familie in den Knast kommen können. Ich war dadurch vielleicht risikobewusster als andere, weil sich in meinem Milieu eine Geldstrafe verheerender ausgewirkt hätte als bei Kumpels aus bürgerlicheren Familien. Ich hatte nicht so richtig die Wahl.
Frage: 2011 hast Du mit Graffiti aufgehört. Wohin ging es seitdem?
Antwort: Da hat dann die Lust überwogen, andere Projekte zu machen. Eigentlich war ich schon, seitdem ich 16 Jahre alt war, in Projekte eingebunden: so ein Projekt aufziehen, eine Stadt fragen, ob wir ein großes Wandbild malen können, anfangs war das eher selten möglich, also haben wir dann mehr mit Besitzern verhandelt, die Anträge stellen für Fremdfinanzierung, damit wir die Dosen finanzieren konnten und so. Das hatte ich immer im Kopf. Nach den vielen Jahren praktischer Arbeit, wollte ich auf die Kunsthochschule gehen. Das war eine ganz schöne Herausforderung für mich, da reinzukommen. Schließlich bin ich mit einem guten Freund zusammen auf der Kunsthochschule angenommen worden. Ich hatte mich da mit zwei Books beworben – darin steckten sechs Jahre Graffiti. Der Grund, warum sie mich ausgewählt haben, war vielleicht die große Motivation, die ich mitgebracht habe und auch die Fähigkeit, Projekte aufzuziehen. Ich war immer sehr selbstständig, aber sehr schlecht in der Schule, weil man da immer folgen musste, während ich immer Lust auf meine eigenen Projekte hatte. Als ich die Kunsthochschule angefangen habe, hat das Probleme mit meinen Sprüher-Kumpels mit sich gebracht. Das Studium hat mir so viel neuen Input gegeben, die ganze Kunst- und Kulturwelt habe ich entdeckt. Ich habe die ganze Bibliothek verschlungen. All diese neuen Sachen haben mir Lust gegeben, diese Welt und mich persönlich weiterzuentwickeln. So bin ich nach und nach aus der Graffitiszene weg und in eine experimentellere Richtung gegangen… um später einen neuen Zugang zum Graffiti zu finden. Nach 2,5 Jahren an der Kunsthochschule, wo durch das hohe Arbeitspensum kaum Zeit für persönliche Projekte blieb, hatte ich im dritten Studienjahr wieder mehr Freiheit in Projektarbeiten und bin zurück zum Graffiti – aber mit einem ganz anderen Zugang als vorher. Das waren die Anfänge des „Cover-Up“-Projekts, das übermalte Graffiti dokumentiert. Alles begann mit einer Geste, die ich als extrem gewalttätig erlebt habe. An das Datum kann ich mich ganz genau erinnern, es war der 5. Juni 2009. Ich war damals Student in Caen in der Normandie, wo sich die Strände des „Débarquement“ [Landung der Alliierten an den Stränden der Normandie, am Ärmelkanal in Nordfrankreich] befinden. Der 5. Juni war ein Tag vor den großen Festlichkeiten zum 65. Jahrestag der Befreiung. Sarkozy war ja damals Präsident und es war der Tag, bevor die Konvois der ganzen offiziellen Staatsbesucher (Barack Obama, usw.) kamen. Das ist speziell in der Normandie, dass jedes Jahr, bzw. alle fünf Jahre die ganze politische Weltriege da aufkreuzt. An diesem 5. Juni haben sie jede Brücke, und jedes Stück der 35 km langen Autobahnstrecke, nebst der Stadtautobahn von Caen und Paris gesäubert, sie haben komplett alle Graffiti und jegliche Mitteilung entfernt. Nichts war mehr zu sehen! Wie ein gecrashter Computer auf Reset.
Autobahn bei Caen.
Mein gesamter Alltag wurde da entfernt. Jeden Tag, wenn ich mit meinem Auto auf der Autobahn fuhr, habe ich immer angeguckt, was da geschrieben stand, welche Freunde welche neuen Bilder gemalt haben, hier wurde was verändert, dort ist jemand über ein anderes Bild rübergegangen,… Damals war ich selbst dann schon weniger aktiv, aber ich fand es immer spannend auch zu sehen, was die anderen so machen. Alles war also verschwunden. Am nächsten Tag habe ich dann meinen Fotoapparat mitgenommen und die ersten Cover-Ups sind so entstanden: aus dem fahrenden Auto heraus, auf dem Weg zur Schule, habe ich diese übermalten Flächen fotografiert. Den Titel „Cover-Up“ gab es erst später, aber so hat das Projekt angefangen. In dem Moment ist mir diese Politur des öffentlichen Raums bewusst geworden, dass da eine ständige Säuberung passiert. Und so ziemlich zeitgleich kam die Frage auf, ob das nur in Caen passiert oder überall. Ich bin dann viel gereist. 2009 habe ich zuerst gesäuberte Stellen auf der Stadtautobahn Périphérique in Paris dokumentiert, und damit auch einen starken politischen Willen zur Uniformisierung des öffentlichen Raums, der sich in der Entfernung von Tags bemerkbar macht.
Stadtautobahn Périphérique in Paris.
Sechs Monate später, im Jahr 2010, bin ich über die Uni nach Kanada gereist. Ich komme also in Toronto an und stelle fest, dass es dort absolut generalisiert überall gesäubert ist. Wenn man nach Nordamerika fährt, erwartet man, dass alles größer ist und so. Und ja, das Phänomen der übermalten Graffiti ist dort wirklich in noch größerem Maßstab zu sehen: überall waren alle Graffiti übermalt! Mit einer unglaublich schnellen Reaktionszeit – innerhalb weniger Stunden – werden Graffiti dort entfernt. Da gibt es so Anti-Graffiti-Brigaden, die sich darum kümmern. Die denken gar nicht darüber nach, was damit vernichtet wird. Das war genau das, was ich daran so spannend fand: da ich ja den Hintergrund ganz gut kannte, wusste ich, wieviel Arbeit in so einem Graffiti drinstecken kann, und war überrascht von der unglaublichen Schnelligkeit, mit der geantwortet wird. Da stimmt doch was nicht, wenn einfach alles gelöscht wird. Da gehen Informationen verloren, die vielleicht interessant sein könnten. Zerstört man da nicht eine gerade entstehende Kunst? Heute wird das so gesehen, aber wie sieht man das im Jahr 2050? Dann habe ich richtig mit dem Dokumentieren begonnen, die Kameraeinstellungen verfeinerten sich. Es entwickelte sich zu einem eigenen Fotoprojekt. Ich habe gespürt, dass ich da an was Wichtigem dran bin.
Zurück in Caen, nach meinem Studienaufenthalt in Kanada, habe ich beschlossen, kein Atelier mehr in der Uni haben zu wollen. Danach habe ich meine Zeit mir Reisen verbracht. Barcelona – genau das gleiche: entfernte Graffiti, dann Berlin: nur wenig entfernte Graffiti. Ich kam mit riesig vielen Eindrücken aus Berlin zurück, aber mit nur wenigen Fotos, weil da eben nur wenig entfernt wird. Das hat mir Lust gemacht, später wieder nach Berlin zu kommen. Dann Italien: Mailand, Rom, andere italienische Städte, Belgien, Budapest. Überall gab es eine Menge übermalte Graffiti. Das war meine zweite Feststellung: dass es wirklich allgemein einen Hang zur Säuberung des öffentlichen Raums gibt. Während meines Aufenthalts in Kanada war ich auch das erste Mal in New York, DER Hauptstadt des Graffiti. Die Vielfalt der Graffiti dort hat mir viel neue Energie gegeben, und dann bin ich zurückgekehrt aus New York… und wenn man dann an anderen Orten die autoritäre Antwort auf diese ganze Kreativität sieht…
Frage: Ja, ich finde das spannend, das Du einerseits feststellst, dass die Übermalung von Graffiti ein weltweites Phänomen ist und gleichzeitig lokal von ganz verschiedenen Akteuren ausgeführt wird. Bei Sarkozy als „Präsident der Repression“, der davon sprach, die „Cités“ mit dem Kärcher-Hochdruckreiniger zu säubern, überraschte seine Order zum Reinigen des öffentlichen Raums nicht. Aber es scheint ja darüber hinaus auch eine grundsätzliche Abmachung unserer Zeit zu sein, dass Wände gesäubert werden sollen.
Antwort: Das Thema verfolgt mich – daher habe ich mich dazu entschieden, das Buch „Cover-Up“ zu veröffentlichen und Kunsthistoriker Denis Ryout zu treffen. Ich habe das immer noch nicht ganz verstanden. Auch diesem globalisierten Aspekt bin ich noch nicht auf den Grund gekommen. Ich habe ein paar Ideen, aber es ist ein weites Feld und teilweise auch nicht nachvollziehbar für mich. Den globalen Sinn darin zu erfassen, ist ziemlich schwer. Da sind verschiedene Aspekte: die Anti-Graffiti-Brigaden, die eigentlich Anbieter einer Dienstleistung sind (Angebote gibt es, wo Nachfrage ist), es gibt die einzelnen politischen Autoritäten und es gibt die abgeleisteten Sozialstunden, während derer ein erwischter Sprüher sein Graffiti entfernen muss. Gerade was den letzten Punkt betrifft, kann ich die Nonchalance eines Sprühers verstehen, der sein Graffiti nicht gerade fein säuberlich übermalt. Aber das Unternehmen, das das Übermalen als Dienstleistung anbietet, oder der Hausbesitzer, der das in Auftrag gibt, warum lassen die so trashiges Übermalen durchgehen? An genau diesem Punkt wird’s komisch: einerseits gibt es den Wunsch die Städte und die Wände zu säubern, aber eigentlich wird etwas kreiert, das viel dreckiger ist als das, was vorher da war. Und gleichzeitig gibt es auch eine gewisse Poetik darin. Die im Buch gezeigten Cover-Ups und die, die mich stärker interessieren, das sind nicht die komplizierten mit mehreren Farbschichten, sondern die, wo es nur einen ganz feinen Unterschied in den Farbtönen der Hauswand und der Übermalung gibt. Das Poetische ist hier eben der Fehler, der sich da einschleicht. Das repressive, brutale Verhältnis der Autoritäten ist in dem Bereich nichts Neues, das interessiert mich eher weniger. Was ich so schön und poetisch finde, ist, dass der Mensch, der eigentlich etwas verbessern möchte, einen Fehler einbaut – das kann ja nur schief laufen! Es hat etwas Komisches und dabei gleichzeitig Ästhetisches, eine Farbe auszuwählen, die 2% von der Untergrundfarbe abweicht, oder eine andere Leuchtkraft hat und ein wunderschönes Rechteck entstehen lässt. Ich mache hier auch eine direkte Referenz zu Rothko, oder anderen abstrakten Malern. Jetzt zu sagen, das ist meine Rothko-Interpretation, wäre zu einfach. Es ist viel spannender etwas Neues zu erfinden. Ich habe mich für den Titel „Cover-Up“ entschieden, als eine Form der urbanen Malerei, die keine abstrakte Malerei à la Rothko ist, die aber ein globalisiertes urbanes Phänomen ist. Das ist einzigartig und neu. Mal schauen, wo es mich noch so hinbringt.
Frage: An deinem Projekt finde ich auch spannend, dass die übermalenden Akteure wahrscheinlich keinen künstlerischen Anspruch an ihr Tun haben. Da geht es um das Entfernen, um „ich mache eben einfach meine Arbeit“, um chemische Prozesse…
Antwort: Ja, das finde ich auch so spannend. Es gibt auch ein paar andere Leute, die sich mit dem Thema befassen. Manche Künstler haben versucht, das nachzumalen. Das kann natürlich nicht klappen. Die Künstlerpersönlichkeit wird sich darin immer zu Worte melden, die können z.B. niemals diesen poetischen Sinn für den Fehler reproduzieren, diese Unbewusstheit des Handelns. Ein Künstler wird das Gesehene immer transformieren.
Hier im Buch z.B., auf Seite 18. Das muss mir mal einer erklären: ein in Schwarz übermaltes Graffiti an einer gelben Hauswand!
Da würde ich gerne den Urheber fragen, was er da gemacht hat. Vielleicht war es ja ein Künstler, der einen Witz gemacht hat, aber ich kann mir das kaum vorstellen. Es gibt hier auch dieses Moment von dringender Notwendigkeit, von „muss-getan-werden“,.. Man sieht diese trashigen Übermalungen, die schnell durchgeführt werden, mit den begrenzten Mitteln des Moments. Es hat auch etwas Lustiges. Für mich können via der Cover-Ups Einstellung eines ganzen Teils der Gesellschaft abgelesen werden. Hier kommen Methoden zum Einsatz und Rollen werden gespielt, die unsere Gesellschaft spiegeln. Aber alles in allem habe ich das Phänomen noch nicht umfassend ergründet.
Frage: Du triffst auch eine ästhetische Wahl beim Fotografieren, oder? Oft stehst du der Wand gegenüber, spielst mit den Linien, beziehst auch ein wenig den urbanen Kontext mit ein…
Antwort: Die Kameraeinstellungen haben sich eigentlich fast von selbst verfeinert. Klar hatte ich auch die Vorstellung, eine Referenz zur Malerei zu setzen. Wenn man schön genau gegenüber steht und die Linien schön gerade sind, ist man schon fast im Kontext von Malerei. Ich mag es auch, wenn einige Bilder etwas verschoben sind, dann sieht man mehr vom Kontext. Das ist ja hier auch nur die eingegrenzte Auswahl, die ich für das Buch getroffen habe (60 Bilder). Es gibt auch noch die größere Auswahl in Form einer Diashow für die Ausstellung (ca. 250 bis 300 Bilder). Und in meinem Archiv sind es noch viel mehr. Seit ein paar Monaten gibt es auch Bilder auf Instagramm.
Frage: Welche anderen Projekte verfolgst du, neben Cover-Up?
Antwort: Neben dem Cover-Up-Projekt habe ich das Projekt „Sprayed“ gemacht. Die Idee dahinter war, das, was ich in der Straße gesehen hatte, auszudehnen. Das habe ich mit Graffiti-Zeitschriften gemacht. Auf den ersten Blick kann man vielleicht denken, dass es eine zweifelhafte Entscheidung ist, Graffiti-Bilder in so einer Zeitschrift zu übermalen. Vom Malerischen her eine recht einfache Sache, nämlich, die Graffiti aus der Zeitschrift zu entfernen. Eine radikale Geste. Das spiegelt ganz gut, was in der Realität passiert. Ich habe dann also mit Sprühfarbe diese Graffiti-Magazine in grauer makelloser Glätte bemalt. Das waren dann recht abstrakte, manchmal einfarbige Malereien. Aber es gibt manchmal Indizien, die das Übermalte zeigen. Zum Beispiel ist das Bild grau, aber in einer Pfütze, spiegelt sich das Graffiti, das habe ich nicht übermalt. Da muss man dann etwas subtiler suchen. Auch bei Cover-Up steht im Buch immer das Datum und der Ort. Das ist typisch Graffiti und hat immer miteinander zu tun. Das Graffiti selbst ist übermalt noch sehr präsent.
Frage: Sind die Cover-Ups von Stadt zu Stadt austauschbar?
Antwort: Ob das nun in Sankt Petersburg oder Toronto übermalt wurde, die Bilder ähneln sich. Aber es gibt auch Eigenheiten!
Frage: Wie reagieren eigentlich die Leute auf deine Bilder? Du bist ja auch in der etablierteren Kunstszene unterwegs, in die Streetart in den letzten Jahren auch ein wenig Eingang gefunden hat. Aber Graffiti ist immer getrennt davon in der Wahrnehmung, habe ich das Gefühl. Für die meisten Leute ist Graffiti in der Straße ziemlich unsichtbar, aber die Cover-Ups sind ja so richtig unsichtbar. Du machst das Unsichtbare sichtbar.
Antwort: Ja, ich bin viel in der zeitgenössischen Kunstszene unterwegs. Was ich lustig finde, ist, dass viele Künstler meiner Generation, und auch die etwas älteren, über Graffiti zur Kunst gefunden haben. Also finden sich viele Leute darin wieder, haben ihre eigenen Referenzen und Anekdoten (entdecken im Nachhinein, wer früher welchen Namen gemalt hat usw.). Graffiti nährt eine ganze Generation neuer Künstler – das ist ein großer Schatz des Graffiti. Ein Großteil der Künstler, die heute im öffentlichen Bereich aktiv sind, waren vorher Sprüher, das ist toll.
Ich weiß nicht, wie offen die Leute im Allgemeinen auf meine Kunst reagieren. Ich mache gerne Sachen sichtbar. Wenn man dann eine Ausstellung macht, trifft man eigentlich nicht viele Leute. Man redet mit ein paar Leuten bei der Vernissage, aber was die Leute tief innen drin über meine Kunst denken, weiß ich dann trotzdem nicht. Ich hab auch keine genaue Vorstellung davon, was es mit ihnen macht. Ich hoffe jedenfalls, dass sie draußen die Übermalungen wahrnehmen und dann an mich denken :-). Dass sie sich vielleicht mal sagen: Das hätte auch ein Bild in der Ausstellung sein können. Ich glaube es ist mir eigentlich wichtiger, den Leuten die Augen zu öffnen, als mich auszutauschen.
Ich wollte noch diese Anekdote erzählen: Als ich 2009/2010 angefangen habe, die Fotos in Kanada zu machen, da bin ich mir bewusst geworden über die Sofortigkeit der Entfernung von Graffiti, den potenziellen Verlust, den das mit sich bringt. Seitdem sind ja einige Unfälle passiert, wo ein Bild von Banksy entfernt wurde, oder wo die Autoritäten was von JR in Istanbul haben entfernen lassen. Das sind ja sehr etablierte Künstler, es ist interessant, dass es zeigt, dass die Regeln für alle gleich sind und dass das also jeden gleich betrifft.
Ein weiteres einschneidendes Erlebnis war für mich, als das Graffiti-Mekka „Five Pointz“ in New York zerstört wurde, am 19. November 2013. Das war ein wichtiger Moment für mein Projekt. Ich denke, das ist wirklich ein großer Verlust für die Welt, dort gab es eine wirklich starke Energie. Mir ist klar, dass Graffiti eine flüchtige Sache ist, und überhaupt, bevor die Autoritäten ein Graffiti entfernen lassen, ist man schon vorher vom Sprüher danach übermalt worden. Genau da spielt sich ja alles ab. Man muss es schaffen, sichtbar zu sein, in einer Welt wo sich jeder gegenseitig löscht. Die Autoritäten sind dabei nur eine Schicht von vielen. Jede übermalte Schicht ist wie ein neues Blatt Papier, das nur mehr noch dazu einlädt, bemalt zu werden. Das ist ein endloses Spiel. Ich bin extra nach New York geflogen, um mir das anzuschauen, wie sie Five Pointz kaputt gemacht haben. Was diesen Ort so speziell gemacht hat, war, dass es weit mehr war als eine Wand, ein Gebäude oder eine Straße, es war ja der ganze Häuserblock. Von oben bis unten besprüht, kein einziger Quadratmeter Platz…eigentlich eine moderne Höhle, wie damals von den malenden Höhlenmenschen. Jetzt ist alles vorbei, alles abgerissen! Ich bin da hingefahren, weil die Art und Weise, wie der Abriss stattgefunden hat, ein Highlight des Cover-Up Buchprojekts für mich war. Die letzten Fotos im Buch zeigen das entfernte Graffiti-Mekka „Five Pointz“. Hier auf Seite 10, das ist New York, Five Pointz, in Queens.
In einer einzigen Nacht ist das ganze Gebäude entfernt worden, von (einer Armee Hooligans – nee, das ist ein Scherz) einem Team im Auftrag des Bauträgers, das nachts gekommen ist. Das sagt ja eigentlich schon alles aus, in der Art und Weise und den Beziehungen und dem Spiel der Spannungen, die im öffentlichen Raum manchmal herrschen. Sie haben in einer Nacht mit einem Hochdruckstrahl und Farbpistolen dort alles entfernt und übermalt. Ich weiß nicht genau, wie sie das technisch gemacht haben, aber das Ergebnis war echt beeindruckend. Damit nicht gleich wieder Graffiti darüber gemalt werden, haben sie an jeder Hausecke Sicherheitsleute aufgestellt, die rund um die Uhr Wache gehalten haben. Und danach haben sie das ganze Gebäude abgerissen. Die haben als Grund eine Asbestbelastung vorgeschoben – so wie beim Palast der Republik in Berlin – wo sie zuerst die Asbestbelastung vorschieben und dann bevor sie das Gebäude abreißen, eh den Asbest entfernen müssen und dann eben ein gesäubertes Gebäude abreißen. Das sind die gleichen Logiken, die dahinter stehen. Heute entstehen da zwei große Hochhaustürme. Es ist wirklich schade, dass nicht ein total reicher Mensch diesen Ort aufkaufen konnte. Und parallel dazu werden überall total sterile Urban Art Museen eröffnet, während es dort ein bereits bestehendes Museum gab, man hätte nichts weiter machen müssen, es war alles schon da. Gut, es gab das Problem mit dem Asbest, aber sie hätten ja eventuell auch Eintritt nehmen können. So hätten sie diesen Ort erhalten können, oder länger zugänglich machen können. Es macht total Sinn, solche Orte zu erhalten. Nicht umsonst wurde der Ort ja schließlich auch „Mekka“, wie der Pilgerort, genannt. Es war ein wichtiges Symbol. Für mich war es wirklich wichtig, dort gewesen zu sein. Da habe ich beschlossen, dass mein Projekt ein Buch werden wird.
Als ich das erste Mal in Five Pointz war, hatte ich gesehen, dass sie gegenüber das PS1 – das neue MoMa – hin gebaut haben. Ich war aber dort, um mir Five Pointz anzuschauen und nicht PS1! Das zeigt eigentlich ganz gut meinen Lebenslauf. Mal schauen, was mein weiterer Weg noch bringen wird.
Danach habe ich ein Kunstwerk zum Thema des Abrisses von Five Pointz geschaffen, es ist eine Ansammlung von Sachen, die ich vor Ort gefunden habe, Mauerstücke (gewissermaßen eine Referenz zu den Mauerstücken der Berliner Mauer), ich habe Fragmente mitgenommen, die die Dicke der Schichten zeigen (das waren ja schließlich 30 Jahre Graffiti übereinander!). Es war wegen der Sicherheitsleute im übrigen auch nicht einfach für mich, die Mauerstücke und andere Fragmente zu sammeln: die Wachen ablenken, den richtigen Moment abpassen usw. Es ist ein dokumentarisches und sehr kaltes Kunstwerk.
Ich hoffe, dass ich damit die Geschichte des Ortes verlängern kann :-). Ich finde es unvorstellbar, dass dieser Ort verschwunden ist. Als ich 15 Jahre alt war, kristallisierte sich über diesen Ort in mir der Wunsch, nach New York zu fahren. Ich bin ja dann erst mit Anfang 20 da hingefahren.
Five Pointz war ein wirklich demokratischer Ort um zu malen, im Gegensatz zu den Urban Art Museen. Wer trifft da die Auswahl? Wenn eine Jury die Auswahl trifft, wird der Prozess gleich unklar. Freunde von mir, die da gemalt haben, haben berichtet, dass es in Five Pointz verboten war, einfach so über jemanden drüber zu malen. Es gab da diese Website, auf der man angekündigt hat, dass jemand die Wand bemalt. Das war die einzige Voraussetzung um da zu malen. Keine Jury, kein Auswahlverfahren. Der betreffende Sprüher hat dann sein Flugticket gekauft, die Dosen eingepackt und schon konnte es losgehen. Das finde ich wirklich eine schöne Philosophie: es gibt da was zu machen, also machen wir’s, ohne monatelange Vorarbeit. Tja, jetzt gibt es diesen Ort nicht mehr.
Frage: Hast du im Rahmen des Projekts Cover-Up auch Kontakt aufgenommen zu den Akteuren der Zerstörung? Also, die Firmen, die die Übermalungen ausführen, z. B.?
Antwort: Nein, das habe ich nie gemacht. Witzig ist jedoch, dass hinter meinem Atelier am Südkreuz eine Graffitientfernungs-Firma sitzt. Das ist mir erst vor Kurzem aufgefallen. Ich habe immer gesehen, wie sie riesige Flächen mit einem Hochdruckreiniger säubern. Bisher habe ich einfach nicht das Gefühl gehabt, diese Akteure treffen zu müssen. Ich finde es wichtig, dass die Perspektive des Fotos einfach und klar gehalten ist. Es ist ja ein kleines Buch. Und das Format ist nicht ohne Grund gewählt. Ich bin ja nicht derjenige, der die Sachen übermalt hat, also stelle ich selbst keine Fotos aus. Ich habe eine Diashow und das Buch, das ein paar der Fotos zeigt. Ich wollte eine gewisse Distanz und eine Bescheidenheit einhalten zu dieser Geste, die von anderen ausgeführt wird. Vielleicht habe ich deswegen nie den Kontakt zu den Akteuren gesucht. Ich finde, man sollte sich in diese Übermalungsgeste nicht einmischen.
Frage: Eine Frage noch in Bezug auf das Thema „globalisierte Säuberung des öffentlichen Raums“: Gibt es deines Wissens noch andere Menschen, die sich mit der globalen Perspektive auf das Thema befassen? Hier in Berlin sieht man das ja im Kleinen. Je mehr öffentlicher Raum privatisiert (z.B. Mediaspree), oder gentrifiziert wird, desto sauberer das Erscheinungsbild der Strassen. Das sind ja globalisierte urbane Themen, die alle Metropolen der Welt betreffen.
Antwort: Ich hoffe, dass ich der Erste bin, der sich da so reingehängt hat, der diese ganzen Reisen bezahlt hat. Es ist mir wichtig die Fotos zu zeigen und auch, dass das nicht nur in New York so ist. Zum Teil sind das Orte, die total abseits liegen. Es sind Beispiele aus sehr großen, aus mittleren und aus sehr kleinen Städten. Hier sieht man z. B. auf einer Doppelseite links Charenton-le-Pont und auf der rechten Seite Toronto! Es gibt sicher andere Leute, die Cover-Ups in ihrem Umfeld an einem Gebäude, oder in einer Straße dokumentiert haben, aber ich hoffe, der Erste zu sein, der das Thema so global angegangen ist. Ich weiß nicht, ob es da ein Bewusstsein für gibt. Sicher gibt es da auch einfach Unternehmen, die gemerkt haben, dass das ein ausbaubares Geschäft ist, wofür es Nachfrage gibt, und das sich auch zunehmend internationalisiert (Filialen in anderen Teilen der Welt), nehme ich an. Es gibt in der Architekturwelt auch zunehmend die Frage, wie gebaut werden kann, um Graffiti zu unterbinden. Es ist spannend zu sehen, dass Graffiti nach 40 Jahren Existenz nun einen zunehmenden Einfluss auf den öffentlichen Raum hat! Es werden Mauern mit extra-Ecken gebaut, mit strukturierten Oberflächen, mit Außenverkleidung. Das macht jetzt ein neues Thema auf, aber es hat auch damit zu tun. Man möchte an der Farbschicht zum Übermalen sparen, indem man verquere Wände baut. Gleichzeitig war die Erfindung von Sprühfarbe echt verheerend. Innerhalb weniger Sekunden können quadratmeterweise Wände beschmutzt werden. Die Farbe hält auf fast jedem Untergrund. Nun sind die Feuerlöscher dazu gekommen, mit denen noch drastischer ganze Hauswände voll gespritzt werden. Da steht ja weniger der ästhetische Gedanke im Vordergrund, sondern mehr die gefüllte Fläche an der Hauswand. Das war lustig in Toronto, wo es eine ziemlich große Feuerlöscher-Szene gab. Dort gibt es ja riesige Wände und dementsprechend riesengroße Bilder, das hatte also zur Folge, dass es unglaublich große Cover-Ups gab – zum Beispiel an einem Parkplatz etwa 10m x 30m!
Seit 2012 lebe und arbeite ich in Berlin. Ich hatte bei einer Reise vorher starke Eindrücke aus Berlin mitgenommen, auch vom Tacheles, und festgestellt, dass der öffentliche Raum recht wenig übermalt wird. Und ich hatte mich gefragt, ob ich der Entwicklung des massiveren Übermalens hier auch beiwohnen würde. Der öffentliche Raum wird hier in Berlin einfach anders gehandhabt. Es gibt hier vergleichsweise wirklich wenige Cover-Ups. Als ich bei meiner ersten Reise nach Berlin die meterhohen Graffiti in den Straßen Kreuzbergs gesehen habe, ist mein Sprüherherz aufgegangen und ich wollte unbedingt wiederkommen.
Frage: Du setzt in deinem Buch die Kunstwerke der „wilden“ Graffitiwelt in Verbindung mit den Texten von Denis Ryout, der ja Kunsthistoriker ist. Dadurch wird das ganze Phänomen in den Kontext der Kunstgeschichte gesetzt. Spiegelt das deine Biographie?
Antwort: Ja, das hat sich alles wie von selbst zusammen gefügt. Das erklärt sich aus meinem bisherigen Weg: meine Sprüherzeit, mein Kunststudium, die ganzen Begegnungen mit Menschen auf dem Weg, das hat sich dann so zusammen gefügt. Meine Fotos sind Zeugen eines Rundgangs durch die Stadt. Für den Ausschnitt nehme ich mir nur kurz Zeit, viele Fotos entstehen im Vorbeigehen. Graffiti war meine erste große Prägung, das ist wirklich fundamental in meinem Leben. Danach habe ich erst Kunst studiert. Das Tollste, was ich da entdeckt habe, war die Bibliothek, die ich nach und nach in mich aufgesogen habe. Ich ging da hin, wählte die Bücher eher so aus Zufall aus und habe sie alle verschlungen. Manche habe ich nur durchgeblättert, aber jedes einzelne Buch in der Bibliothek hatte ich mal in der Hand. Am Ende des Studiums war ich der einzige, der dort essen durfte, ich war einer der ganz Wenigen, der einen Schlüssel hatte. Als ich entdeckt habe, dass es einen ganzen Bereich der Philosophie namens Ästhetik gibt, habe ich mich da total reinvertieft. Oder die ganzen Theorien zum öffentlichen Raum, darüber habe ich tonnenweise gelesen. Das war meine zweite Bildung. Danach ist das Cover-Up-Projekt an diesem 05. Juni 2009 in mir gewachsen. Ich war losgegangen, dass ich nun zeitgenössicher Künstler werde, dass ich Ausstellungen in Museen und Galerien machen würde. Es ist zwar meine persönliche Arbeit, aber ich möchte sie mit anderen teilen. Aber mein Leben davor, die Flüchtigkeit und die Mobilität, der öffentliche Raum, das hat in jedem Fall einen wirklich prägenden Einfluss auf meine Arbeit heute. Ich konnte noch nie lange in einem geschlossenen Raum an einem Schreibtisch sitzen :-). Heute habe ich zwar ein Atelier, aber es ist mehr ein Ort, um Sachen zu lagern, meine Base. Es kann ja nicht angehen, ein Leben lang in der Küche zu arbeiten. Wenn langsam eine kleine Familie entsteht, muss man auch mal freiräumen :-).
Frage: Als Ausblick in die Zukunft. Was denkst du, wohin geht’s? Mit dem öffentlichen Raum im Allgemeinen, mit den Möglichkeiten des Einzelnen, sich im öffentlichen Raum bemerkbar zu machen?
Antwort: Ja, gute Frage! Ich frage mich auch zeitweise, wohin uns das alles führt. Ich frage mich auch, im weiteren Sinne als nur im öffentlichen Raum, wohin die Welt gerade geht. Ich bin ein großer Optimist, vielleicht ist es besser, wenn wir nicht wissen, wohin es mit uns geht. Ich persönlich versuche jedenfalls, zu mehr Offenheit und Mischung in der Kultur und in den Begegnungen zu finden.
Vielen Dank für das spannende und inspirierende Interview, Matthieu! Danke C. für’s Korrekturlesen! Alle Fotos (außer anders angegeben) von Matthieu Martin – danke!
Matthieu Martin: http://matthieumartin.fr/
Infos zum Buch: http://matthieumartin.fr/works/cover-up/
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