vonAndreas Herteux 10.07.2021

Objektive Subjektivität

Ein Blog von Andreas Herteux, der sich mit Zeitfragen beschäftigt. Und das immer objektiv-subjektiv. Headerfoto: Berny Steiner / Unsplash

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Alles beginnt einmal; auch dieser Blog und bei einem ersten Eintrag kommen einem Schreiberling Gedanken auf, womit man seine potentiellen Leserinnen und Leser konfrontieren möchte und vor allem auch auf welche Art und Weise.

Warum nicht schlicht mit ein paar grundlegenden Gedanken zur Gesellschaft? Das ist zwar, so sei es zu vermuten, ein klein wenig polarisierend, aber doch auch etwas, womit ich mich gerne beschäftige. Warum nicht schlicht ein paar gängige Erklärungsmuster verwerfen und neue präsentieren?

Was es zu dieser Gesellschaft festzustellen gibt? Nun, sie zerfällt und damit meine ich in viele kleine Teile und eben nicht in zwei Lager, wie meiner Meinung nach, viel zu oft behauptet wird.

Milieuerosion

Die Gesellschaft zerbröselt in immer kleinere Lebenswirklichkeiten, die auch als soziale Milieus bezeichnet werden. Jedes davon definiert sich dadurch, dass diejenigen, die ihnen angehören spezifische Weltansichten, Verhaltensmuster, Normen, Werte oder Vorstellungen von einem guten Leben teilen. Je nachdem, welchen Studien und Erhebungen man trauen mag,  existieren davon in Deutschland bis zu 19, wobei hier auch die Submilieus kumuliert werden. Und die Erosion endet nicht, sondern setzt sich im rasenden Tempo fort.

Milieukonflikte- und kämpfe

Bei so vielen, aufeinanderprallenden, Interessen erscheint die Annahme, dass es zwischen verschiedenen Milieus ein erhöhtes Konfliktpotential gibt, eine legitime, denn heute treffen mehr unterschiedliche Weltbetrachtungen aufeinander als je zuvor. Die daraus resultierenden Auseinandersetzungen lassen sich unter dem Begriff des Milieukampfes zusammenfassen. Das bedeutet, dass sich zwischen den Lebenswirklichkeiten (Milieus) einer Gesellschaft (oder mehrerer Gesellschaften) Konflikte ergeben, die aktiv oder passiv ausgetragen werden. Dem Milieukampf gehen dabei stets Milieukonflikte voraus. Das sind dabei Konflikte, die dann begründet werden, wenn die Bedürfnisse der Milieubildenden teilweise oder gänzlich unerfüllt bleiben bzw. das Selbstverständnis der Lebenswirklichkeit attackiert wird.

Nun können diese offen auftreten, beispielsweise wenn konservative auf sozial-ökologische Positionen treffen, allerdings sind die gefährlicheren die, bei denen die Angehörigen einer Lebenswirklichkeit nicht die Möglichkeit haben, sich Gehör und Geltung zu verschaffen. Nehmen wir als Beispiel weniger begüterte Traditionelle oder Hedonisten. Dann gären die Konflikte, mal fröhlicher, mal weniger erbauend, vor sich hin, bis sie sich schließlich – scheinbar irrational – entladen können. Wer daher schon immer wissen wollte, wie es Donald Trump ins Präsidentenamt schaffte, ist hier genauso richtig, wie derjenige, der fassungslos über die Ursachen über die randalierende Partygesellschaft in Stuttgart sinniert.

Ja, unterschiedliche Lebenswirklichkeiten können kurzfristig an einem Strang ziehen oder es aber so aussehen lassen. Allerdings verfolgen sie immer nur ureigene Interessen. Aus temporären oder scheinbaren Milieukoalitionen allerdings zwei starre Blöcke machen zu wollen, wäre töricht, denn diese existieren nicht. Im Gegenteil werden dadurch nur neue Konflikte erzeugt, die auf die Entladung waren – ein wahrer Teufelskreis. Möchte man die einzelnen Lebenswirklichkeiten erreichen, ist es von Nöten, die individuellen Bedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen und nicht die Schubladen zu öffnen und möglichst viele Milieus in wenigen davon zu platzieren. Das ist zweifellos aufwendiger als die klassische Lagerbildung und das beliebte „wir“ gegen „die“, aber der einzige Weg zu dauerhaftem gesellschaftlichen Frieden. Vielleicht ist es auch kurzfristig weniger nützlich, allerdings dafür ein langfristiger Garant für Stabilität und zumindest Waffenstillständen.

Individualisierung

Doch, was schreibe ich da. Natürlich ist da Phänomen des Milieukampfes nur eines von vielen, was die moderne Zeit ausmacht. Es wäre schön, wenn es so einfach wäre. Ist es das aber? Nein, das ist es nicht, denn zerfallende Gesellschaften sowie Milieukonflikte- und Kämpfe sind nur eine Säule eines neuen Zeitalters. Eine weitere wäre die rasante Entwicklung des Einzelnen, getragen von Verhaltenskapitalismus, einer Kraft, die ebenso unterschätzt wird, wie einst der Finanzkapitalismus, und moderner Reizgesellschaft, die den Menschen zum Homo stimulus formen.

Kollektiver Individualismus

Ja, ein neues Zeitalter hat begonnen, doch, wie bei Epochenwechsel üblich, geschehen solche Übertritte unbemerkt und erscheinen erst in der Nachbetrachtung logisch, unausweichlich und selbstverständlich. So wird es auch bei der dynamischen Ära des kollektiven Individualismus sein.

Im Rückblick hat man es dann immer gewusst und, selbstverständlich. Doch heißt es, um die Gegenrede selbst zu beginnen, noch schon bei Goethe dazu passend, dass es innerhalb einer Epoche keinen Standpunkt gäbe, eine Epoche zu betrachten?  Gilt das aber auch für eine Periode, in denen Informationen leichter zugänglich sind als je zuvor? Darf man es sich so einfach machen?

 

Kollektiver Individualismus
    Einflüsse auf das Individuum im 21. Jahrhundert

Alte Wege verlassen und neue einschlagen

Wir können natürlich auf die Retroperspektive warten und weiter obsolete Konstrukte aus längst vergangenen Tagen auf gesellschaftliche Phänomen des 21. Jahrhunderts übertragen. Ja, es mag manchmal auch strategisch nützlich sein; das wurde schon erwähnt. Und selbstredend; wenn das Ganze nicht passen mag, so wird es eben passend gemacht. Nur, was wird dadurch erreicht? Der Zeitenwandel lässt sich so nicht stoppen und es bleibt auf Dauer nur der Rückzug in die eigene Lebenswirklichkeit. Und wer glaubt wirklich, dass solche Veränderungen vor der kleinen, individuellen Realität haltmachen, in die man sich in solchen Fällen gerne zurückzieht? Einem neuen Zeitalter kann man manchmal ausweichen, entkommen kann man ihm nicht.

Alles lässt sich diskutieren

Warum die Welt dann nicht sehen, wie sie ist, denn, müsste man sie nicht erst verstehen, bevor man sie verändern kann? Irgendwie aufrütteln und erklären.  Ob das meiner Wenigkeit mit diesen Worten gelungen ist? Diese kritische Frage muss sein und ebenso schnell werde ich mich ihr mit dem Hinweis auf den Namen dieses Blogs entziehen: Es ist eine Meinung der objektiven Subjektivität. An dieser Stelle lässt sich daher alles diskutieren und damit denke ich, dass für den ersten Eintrag genug schwadroniert wurde. Ob er gelungen ist, das entscheidet der Leser.

Andreas Herteux ist Publizist, Philosoph und der Leiter der Erich von Werner Gesellschaft, einer unabhängigen Einrichtung für Zeitfragen. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Seine Ideen zur Gesellschaft des 21. Jahrhunderts hat er in dem Buch “Grundlagen gesellschaftlicher Entwicklungen im 21. Jahrhundert – Neue Erklärungsansätze zum Verständnis eines komplexen Zeitalters” zusammengefasst.

 

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