vonHans Cousto 01.11.2010

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Im drogenpolitischen Diskurs bürgern sich derzeit zwei neue Begriffe ein: »Substantismus« und »Substanzismus«. Beide Begriffe sind von dem Wort »Substanz« respektive lateinisch »substantia« abgeleitet. Das lateinische Wort »substantia« wird übersetzt mit »Bestand, Wesenheit, Existenz, Wesen, Inbegriff« und ist selbst von dem lateinischen Verb »substare« mit der Bedeutung »darunter sein, darin vorhanden sein« abgeleitet. Das Verb »substare« ist eine Zusammensetzung aus der lateinischen Vorsilbe »sub« gleichbedeutend mit »unter« und dem Verb »stare« gleichbedeutend mit »stehen«. Bildlich gesehen ist die »substantia« ursprünglich das Ding, das sich unter der »statua« befindet, also der Sockel auf dem die Statue respektive das Standbild steht. Vom Wort »substantia« sind zahlreiche weitere Ableitungen gebräuchlich: substantial = substantiell (wesentlich, gehaltvoll), Substantialismus (philosophische Lehre, nach der die Seele eine Substanz, ein dinghaftes Wesen ist), substantiieren (durch Tatsachen belegen, begründen), Substantiv (Hauptwort, Dingwort) wie auch substantivieren (zum Dingwort machen) und Substantivierung (substantivisch gebrauchtes Wort eines nichtsubstantivischen Wortes).

Ein »Ismus« ist eine oft abwertend gemeinte Bezeichnung für eine bloße Theorie, eine der vielen auf …ismus endenden Lehrmeinungen und Systemen. Die Wortendung »ismus« ist die Ableitungssilbe für ein System. »Substantismus« und »Substanzismus« sind also Systeme, die sich auf den Begriff »Substanz« beziehen.

Substantismus im Universalienstreit

Der Universalienstreit respektive das Universalienproblem betrifft die Frage, ob es Allgemeinbegriffe wirklich gibt oder ob sie menschliche Konstruktionen sind. Ausgangspunkt der Debatte über die Universalien ist die Ideenlehre Platons, der z.B. im Phaidon die These vertrat, dass Ideen eine eigenständige Existenz haben. Als Universalien wurden im Lauf der Auseinandersetzungen sehr unterschiedliche gedankliche Prinzipien gekennzeichnet. Neben den angesprochenen Ideen Platons waren dies vor allem Regeln, Tugenden, Transzendentalien, Kategorien oder Werte. Die Position, die von der Existenz solcher abstrakter Entitäten ausgeht, wird Realismus genannt. Die Vertreter der Gegenposition, des Nominalismus (lateinisch nomen = Name), sind der grundsätzlichen Auffassung, dass alle Allgemeinbegriffe gedankliche Abstraktionen sind, die als Bezeichnungen von Menschen gebildet werden. Sie würden demnach nicht von der Idee eines Tellers reden, sondern den Begriff »Teller« als Namen für eine Gruppe von Gegenständen auffassen. Realität kommt nach Auffassung von Nominalisten nur den Einzeldingen zu. Da der Nominalismus der historisch neuere Standpunkt ist, entstand im Mittelalter dafür die Bezeichnung Via moderna, während die entgegengesetzte Position Via antiqua genannt wird.

Als einer der Begründer des extremen Nominalismus gilt Johannes Roscelinus von Compiègne, ein französischer Philosoph und Theologe, der im 11. Jahrhundert den Substanzismus der Begriffswelt lehrte. Seine Auffassung ist überwiegend durch seine Kritiker überliefert. Danach existieren nur Gegenstände, die mit den Sinnesorganen wahrgenommen werden können. Sie sind besonders (partikulär) und unteilbar (individuell). Begriffe dagegen – die von den Realisten als eigentlich existierend angesehen werden – seien lediglich Bezeichnungen und als solche nur Schall und Rauch.

Roscelin wandte sich mit seiner großartigen Dialektik an den wichtigsten Punkt der Theologie, an die Lehre von der Einheit und Dreiheit, der Dreieinigkeit oder Dreifaltigkeit Gottes. Er lehrte: »Sind die drei Personen nur ein göttliches Wesen, so muss alles, was der einen Person zukommt, auch der andern, oder der Gottheit selbst zukommen; kommt aber der einen oder anderen Person etwas Besonderes zu, so sind es drei verschiedene Wesen. Nun enthält die christliche Lehre den Satz, dass die zweite Person der Gottheit Mensch geworden ist, und nicht die erste und die dritte. Machen die drei Personen aber ein göttliches Wesen aus, so entscheidet die Vernunft, dass nicht allein die zweite, sondern auch die erste und die dritte mit der zweiten Mensch geworden ist.« (Quelle: Ignaz Paul Vitalis Troxler: Logik: Bildungsgeschichte der Wissenschaft, Stuttgart und Tübingen 1830, S. 59)

Der Begriff Transsubstantiation (Wesensverwandlung, volkstümlich auch Heilige Wandlung) bezeichnet in der Theologie die Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu Christi während der Heiligen Messe vor dem heiligen Abendmahl. Nach der Lehre des Substanzismus wird durch die Transsubstantiation jedoch nicht nur der Leib Christi in die Wandlung einbezogen, sondern auch der Gottvater und der Heilige Geist, da sie eins sind respektive da alles, was der einen Person zukommt, auch der andern, oder der Gottheit selbst zukommen muss. Da diese Schlussfolgerung nach den Kriterien der Vernunft im Widerspruch zur Trinitätslehre der Kirche steht, die die Wesens-Einheit von Gott Vater, Gott Sohn (Jesus Christus) und Gott Heiliger Geist als drei Personen, nicht aber als drei Substanzen oder drei Götter auffasst, wurde Roscelin der Häresie bezichtigt.

Substanzismus im drogenpolitischen Diskurs

Der Begriff »Substanzismus« fand im drogenpolitischen Diskurs Eingang im Rahmen von Debatten bezüglich der Ausrichtung der Hanfparade. Im Forum »Hanfburg« beschwerten sich diverse Personen über die Tatsache, dass auf der Hanfparade nicht nur für die Legalisierung von Cannabis demonstriert wird, sondern auch für die Legalisierung von anderen Substanzen wie z.B. Zauberpilzen. Diese Personen wurden in der Folge von anderen Personen als Substanzfaschisten beschimpft, die dem Substanzismus frönten.

Die Organisatoren der Hanfparade reagierten konsequent und hoben mit dem Motto »40 Jahre sind genug – BtMG ade!« für die Parade am 6. August 2011 ihre antisubstanzistische Weltanschauung hervor. Dies wurde im Forum »Hanfburg« auch von einem Teilnehmer in einem Beitrag vom 10. September 2010 gelobt: »Deshalb finde ich es gut, dass die Hanfparade bei diesem Substanzismus nicht mitmacht, und ganz offen gegen den “Krieg gegen Drogen” Stellung nimmt, anstatt bloß zu jammern, wie arg benachteiligt Hanffreunde sind!«

Die »Antisubstanzistische Aktion« definiert den Begriff »Substanzismus« wie folgt: »Sub|stanz|is|mus – die Reduzierung eines komplexen Sachverhaltes oder einer Person auf Drogen(-konsum). Diskriminierung bzw. Vorverurteilung von Substanzen und Drogengebrauchende, die zur Folge die Reduzierung von Menschen auf ihre Substanzaffinität hat und deshalb als Unterdrückungsmechanismus zu sehen ist.«

Selbst unter vergleichsweise aufgeklärten (Cannabis-)Konsumenten gibt es Zeitgenossen, die prinzipiell am bestehenden System der Ausgrenzung bestimmter Drogen festhalten wollen. Den eigenen Rausch befreien wollen alle, aber wenn es um die Masse der Rauschmittel geht, die sie nicht selbst konsumieren, dann verfallen manche Menschen in alte, überholte Denkmuster. Meine Droge sei besser als deine Droge, denkt so mancher Konsument. Diese Art des Denkens wird »Substanzismus« respektive »Substanzfaschismus« genannt. Steffen Geyer schreibt hierzu unter dem Titel »Vom Substanzfaschismus zur Suchtpolitik« in seinem Blog: »Ich spreche vom Phänomen des Substanzfaschismus, also der Idee, dass (m)eine Droge die einzig richtige sei. Dabei ist keine Droge per Definition gut oder böse. Entscheidend ist wie der Konsument mit ihr umgeht – das Konsummuster.«

Substantismus im drogenpolitischen Diskurs

Das Betäubungsmittelgesetz betrifft Substanzen respektive Stoffe, die in den Anlagen I bis III zu § 1 BtMG aufgelistet sind. Diese Anlagen sind substanzistisch im Sinne des Substanzismus von Roscelin. Die Drogenpolitik beschränkt sich jedoch nicht auf die in den Anlagen aufgeführten Substanzen, sondern fügt in zeitlich recht nahen, jedoch unregelmäßigen Abständen diesen Anlagen neuen Substanzen aus dem substantiell nicht definierten Pool psychotrop wirkender Substanzen hinzu. Dieser Pool von substantiell noch nicht definierten Substanzen kann im Sinne von Roscelin nicht als substanzistisch bezeichnet werden, also dem Substanzismus nicht zugeordnet werden. Substanzismus bezieht sich nur auf sinnlich wahrnehmbare Substanzen, nicht aber auf potentiell wahrnehmbare Substanzen, denen eine Wirkung zugeschrieben wird.

Um eine Drogenpolitik zu definieren, die sich auf sinnlich wahrnehmbare als auch auf potentiell wahrnehmbare Substanzen bezieht, also auch jene Substanzen einbezieht, die dem substantiell nicht definierten Pool psychotrop wirkender Substanzen zugehörig sind, musste ein neuer Begriff her: Substantismus.

In der Sprache der Mengenlehre ist der Substanzismus eine Teilmenge des Substantismus. Substanzismus bezieht sich auf real existierende Substanzen, Substantismus auch auf noch nicht existierenden Substanzen. In der Drogenpolitik wird der Unterschied sehr deutlich, wenn man die Vorgehensweise bei neuen Designerdrogen etwas näher betracht. Die Drogenpolitik konzentriert sich derzeit mehr und mehr auf den nicht definierten Pool psychotrop wirkender Substanzen, überschreitet also die Grenzen des klassischen Substanzismus und begibt sich auf das erweiterte Terrain des Substantismus. Deshalb wird zum Beispiel im drogenpolitischen respektive suchtpolitischen Diskurs in der Piratenpartei nicht von Substanzismus, sondern von Substantismus gesprochen.

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