Schiffe als Poller (in Bergen, Norwegen)
Der serbische Regisseur Zoran Solomun, den ich seit seinem Film über den „Chinesenmarkt“ von Budapest kenne, befindet sich gerade im den Chinesen gehörenden Hafen von Piräus – auf der Suche nach „abandoned ships“, um darauf gestrandeten Seeleute zu interviewen, wobei ihm der lokale Inspektor der Seeleute-Gewerkschaft „International Transportworkers Federation“ (ITF) hilft.
Ich schrieb ihm kürzlich:
Lieber Zoran,
ich glaube diesen Hinweis auf eine „maritime Konferenz“ der Linken im
Herbst 2010 habe ich dir noch nicht geschickt…wäre vielleicht
interessant auch für deine Recherche:
Der Autor des JW-Artikels (vom 26.5.2010) ist Hamburger Rechtsanwalt und
auf Seeleute- und allgemein Schifffahrts-Probleme spezialisiert:Rolf
Geffken.
Den Hinweis bekam ich gestern von einem anderen Küstenwirtschafts-Kenner
aus Bremen, er lebt aber in Berlin in der Wienerstraße: Hartmut Rübner.
Der Historiker hat sich vor allem mit dem ITF beschäftigt, dabei jedoch
auf dessen heorische Phase sich konzentriert: d.h. bis 1945. Seine
Dissertation wollte er ursprünglich von der Bremer
Küstenwirtschaftsforscherin Heide Gerstenberger betreuen lassen.
Zusammen mit einem anderen Historiker, mit dem ich befreundet bin,
Markus Mohr, veröffentlichte er gerade das Buch „Gegnerbestimmung“, in
dem es um die schändliche Zusammenarbeit von immer mehr
Sozialwissenschaftlern mit dem Bundesverfassungsschutz geht, den viele
von ihnen nach 1989 noch zusammen mit der „Stasi“ auflösen wollten. Zu
dieser Personengruppe gehört auch ein taz-Autor, er schaffte es ohne
einstweilige Verfügung, dass der (Unrast-) Verlag das Buch jetzt
einstampfen lassen will.
Hartmut Rübner sowie eine Reihe anderer ITF-Forscher denken nur gut über
diese internationale Gewerkschaftsorganisation – und ihr
antifaschistisches Engagement, das sie in der Arbeiterbewegung zusammen
mit der IWW zu Vorkämpfern machte.
Da spielt auch noch die Begeisterung vieler 68er und 78er für den
expressionistischen Dichter und Schiffsentführer Franz Jung und vor
allem für den Hamburger Seemann und Kominternbeauftragten Hermann
Knüfken eine Rolle.
Und ganz allgemein eine romantische Begeisterung vieler Linker für die
Seefahrt: Für Michel Foucault z.B. ist das Schiff die „Heterotopie“
schlechthin: „tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen
Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann,
zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt
werden.“ Er meint sogar, dass eine Gesellschaft ohne Seefahrt verkümmern
muß.
An anderer Stelle sagt er:
“Es gibt also nicht im Verhältnis zur Macht den einen Punkt der großen
VERWEIGERUNG – die Seele der Revolte, den Brennpunkt aller Rebellionen,
das reine Gesetz des Revolutionärs. Aber es gibt Widerstände, von denen
jeder ein Sonderfall ist: sie sind möglich, notwendig, unwahrscheinlich,
spontan, wild, einzelgängerisch, konzertiert, kriechend, gewalttätig,
unversöhnlich, bereit zu Verhandlungen, eigennützig oder bereit zum
Opfer…” der Literaturwissenschaftler Wolf Kittler nennt dieses
Foucaultsche Resümee einen “Aufruf zum Guerillakrieg”.
Hier nun der JW-Text des See-Rechtsanwalts Rolf Geffken:
Maritimer Klassenkampf
Hintergrund. Vom Seeleute- und Hafenarbeiterstreik 1896/97 bis zum
Widerstand gegen Billigflaggen und Lohndrückerei: Die Seeschiffahrt ist
nach wie vor ein wichtiger Bezugspunkt der internationalen Arbeiterbewegung.
Die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke beabsichtigt, gemeinsam mit
den norddeutschen Landtagsfraktionen der Partei im November 2010 eine
»Maritime Konferenz« durchzuführen, bei der zwar die Bereiche Häfen und
Werften, nicht aber als eigenständiger Aspekt das Thema »Seeschiffahrt«
bzw. »Seeleute« behandelt werden soll. Der Autor sieht in der
Vernachlässigung dieses Aspektes eine Abkopplung der Linken von der
historischen Bedeutung der Seeschiffahrt und eine Verkennung der
Bedeutung dieses Wirtschaftszweiges für die Politik des Kapitals ebenso
wie für die deutsche und internationale Arbeiterbewegung.
Der Seeleute- und Hafenarbeiterstreik von 1896/97 dauerte über zwei
Monate. Damals gab es noch kein Streikrecht. Das Risiko der
Hafenarbeiter und Seeleute bestand darin, von heute auf morgen ihre
gesamte Existenz zu verlieren. Dennoch beteiligten sich auf dem
Höhepunkt des Arbeitskampfes 17000 Arbeiter, darunter fast 3000
Seeleute. Von Anfang an stand der Kampf der Seeleute in einer
unmittelbaren Verbindung zum Kampf der Hafenarbeiter um bessere
Arbeitsbedingungen. Eine der wichtigsten Forderungen der Seeleute war
die Abschaffung der privaten Arbeitsvermittlung, die die Seeleute in die
Abhängigkeit von Heuerbaasen (Arbeitsvermittler für einen
Schiffskapitän) und »Landhaien« trieb. Eine der wichtigsten Forderungen
der Hafenarbeiter war die Überwindung ihres Status als »Tagelöhner«, die
erst nach 1918 bzw. 1945 mit der Schaffung der »Gesamthafenbetriebe«
(GHB) erfüllt wurde. Der Arbeitskampf selbst, dem die Unternehmer mit
Aussperrung und massivem staatlichen Terror begegneten, blieb erfolglos.
Wichtigstes Resultat des Arbeitskampfes aber war die Organisation vor
allem der Seeleute. Dieser Arbeitskampf bestätigte also, was Karl Marx
und Friedrich Engels schon zuvor 1848 im »Kommunistischen Manifest«
festgestellt hatten: »Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht
der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende
Vereinigung der Arbeiter« (MEW 4, S. 471).
Der Streik hatte darüber hinaus aber auch eine erhebliche politische
Bedeutung, denn der deutsche Imperialismus war zur sogenannten
Kaiserzeit unmittelbar gekoppelt an das Streben des Deutschen Reiches
nach Vorherrschaft »auf See«. Für das Flottenprogramm wurde eine
gigantische Propagandamaschine in Bewegung gesetzt, die tiefe und
nachhaltige kulturelle Wirkungen erzielte: Das bis heute wirksame
»Marineblau« war symbolträchtiger Ausdruck eines künstlichen
»Marine-Bewußtseins«, das mit der Wirklichkeit der Seeschiffahrt nichts
zu tun hatte. Es war zugleich der Beginn einer Fetischisierung des
Schiffes gegenüber den Menschen, die auf den Schiffen ihren Dienst tun
mußten sowie der Romantisierung der Arbeit der Seeleute
(»Seefahrtsromantik« usw.). Die Folgen dieser Ideologie wirken bis heute
nach und lassen sich bisweilen in der Alltagssprache wiederfinden
(»Seemannslieder«, »Windjammerparaden« usw.). Mit der Wirklichkeit
hatten sie schon damals nichts zu tun. Heute auch nicht. Aber bereits
seinerzeit hieß es in einer Denkschrift des Seemannsverbandes: »Jener
Teil des Volkes stellt sich in dem Seemannsleben eine Art
Abenteurerleben vor, ein Leben in lauter Freiheit, Freude und Wonne. Uns
nimmt das nicht wunder, zumal wir die Wege kennen, die eingeschlagen
werden. Die Mittel kaum kennen, die angewandt werden, um dem deutschen
Volke das Leben eines Seemannes als recht romantisch und angenehm zu
schildern.« Nirgendwo sonst konnte jedoch diese Marine-Ideologie so
erfolgreich Fuß fassen wie in Deutschland: Die deutsche Küste war auch
zu Zeiten des Kaiserreiches eine kurze Küste. Die meisten Deutschen
lebten nicht an der Küste und verstanden von Seeschiffahrt nichts.
Dies war von vornherein in den skandinavischen Ländern, in
Großbritannien, aber auch in den USA und sogar in Frankreich völlig
anders. Schon Anfang des letzten Jahrhunderts schrieb der Schriftsteller
B. Traven in seinem »Totenschiff«: »Die Romantik der Seegeschichten ist
längst vorbei … Möglich, daß für Kapitäne und Steuerleute eine Romantik
einmal bestanden hat. Für die Mannschaft nie. Die Romantik der
Mannschaft ist immer nur gewesen: Unmenschlich harte Arbeit und eine
tierische Behandlung.«
Doch bis heute werden diese Märchen weitergestrickt. Sie lassen sich bis
hinein in die »Museumspädagogik« des Deutschen Schiffahrtsmuseums (DSM)
in Bremerhaven oder aber des Internationalen Maritimen Museums (IMM) in
Hamburg verfolgen. Diese Seefahrtsromantik schloß natürlich auch das
Bild von dem »Boot, in dem alle sitzen« ein: Die angebliche
Interessenidentität von Kapitänen, Seeleuten und Reedern. Doch es waren
die Reeder selbst, die diese Fiktion noch vor der Jahrhundertwende
glänzend widerlegten. So z.B., als der Reeder Adolf Schiff aus Elsfleth
nach der Havarie eines seiner Schiffe sich in einem privaten Brief
beklagte: »Leider ist die Mannschaft gerettet worden.« »Leider«, weil
auf diese Weise sich seine Versicherungsprämie verkürzte, denn nach der
Seemannsordnung mußte er die Seeleute kostenlos »zurückschaffen.« August
Bebel zitierte im Reichstag ausführlich aus diesem Brief, als dieser
über die zahlreichen Schiffsunglücke diskutierte, denen immer wieder
Seeleute zum Opfer fielen, weil die Reedereien es mit der
Schiffsicherheit nicht so genau nahmen. Die Krone setze dem Ganzen
allerdings der Hamburger Reeder Laeisz auf, als er sich über die
Seeberufsgenossenschaft lustig machte und wörtlich schrieb: »Die
Unfallverhütungsvorschriften haben meines Erachtens weniger einen
direkten praktischen Zweck, als daß sie zur Dekoration dienen, um der
Behörde und dem Publikum zu zeigen, wie vortrefflich die
Seeberufsgenossenschaft alles geregelt hat. (…) Von diesem Gesichtspunkt
meine ich, sollten wir jede auftauchende Frage durch eine hübsche
Unfallverhütungsvorschrift zu lösen trachten. Je harmloser, desto
besser. Die Welt will betrogen sein.«
Konsequenzen für die Glaubwürdigkeit dieses angeblich so »spendablen«
Reeders hatten diese Äußerungen nicht. Im Gegenteil: Noch heute wird das
Andenken an diesen Reeder in der Freien und Hansestadt Hamburg großzügig
gefeiert. So wurde die Hamburger Musikhalle sogar extra in
»Laeisz-Halle« umbenannt und vor dem Hamburger Rathaus und an der
Binnenalster wehen noch heute die Fahnen der Hanseatischen Reedereien,
obwohl diese zu den gewerkschafts- und arbeitnehmerfeindlichsten
Arbeitgebern der deutschen Geschichte gehörten: Beim Norddeutschen Lloyd
kursierten noch ganz offiziell bis 1918 sogenannte schwarze Listen, auf
denen notiert wurde, wer gewerkschaftlich organisiert war und wer nicht.
Gewerkschaftsmitglieder wurden nicht eingestellt. Und 1933 schrieb das
Reederorgan Hansa: »Wir nehmen es willig in Kauf, wird der Augiasstall
nur völlig gereinigt. Nur jetzt nicht auf halbem Wege stehenbleiben. Die
Stunde nutzen, in der alles gewagt werden kann.«
Damit war nichts anderes gemeint als die Inhaftierung von Tausenden
Gewerkschaftern, Kommunisten und schließlich auch Sozialdemokraten, ihre
Unterbringung in Konzentrationslagern und ihre Ermordung.
So sehr die Geschichte der Reedereien von Anfang an auch eine Geschichte
der Globalisierung war, so sehr waren die Reedereien zugleich immer der
reaktionärste Teil der deutschen Großbourgeoisie (neben den sogenannten
Stahlbaronen).
Wie rasch die deutschen Reeder jedoch in ihrem Streben nach Profit
»vaterlandslos« werden konnten, bewiesen sie dann nach dem Zweiten
Weltkrieg. Wie viele andere Großreedereien verbrachten sie bereits
Anfang der 60er Jahre den größten Teil ihrer Schiffstonnage unter
sogenannten »Billigflaggen«, vor allem unter die Flaggen von Panama und
Liberia. Die dann in Monrovia oder in Panama City vermeintlich
beheimateten Schiffe entzogen sich jedem Zugriff der klassischen
Schiffahrtsstaaten. Jahrzehntelang betrieben diese Reeder eine
Dumpingpolitik extremen Ausmaßes.
Doch sie hatten auch einen veritablen Gegner, nämlich die Internationale
Transportarbeiterföderation (ITF). Deren Existenz war wiederum
zurückzuführen auf den bereits eingangs erwähnten berühmten Seeleute-
und Hafenarbeiterstreik 1896/97. Noch im Jahre 1897 fand der erste
internationale Kongreß der Hafenarbeiter, Seeleute und Binnenschiffer in
London statt. Auf dem Stockholmer Kongreß der ITF 1902 kam es zur
Etablierung dieses internationalen Gewerkschaftsverbandes. Wie mutig
diese Organisation gegen jede Art von Unterdrückung auftrat, beweisen
die bis heute vielfach noch unbekannten Aktionen selbst während der
Nazizeit: In enger Verbindung mit der ITF kam es zur Bildung von
illegalen Gewerkschaftsgruppen in norddeutschen Häfen und auf fast 70
deutschen Seeschiffen. 1937 kam es sogar zu einem viertägigen Streik von
Fischdampferbesatzungen in Hamburg, der erfolgreich beendet werden
konnte. Die 1937 erfolgte Heuererhöhung war auf diese Streikaktion
zurückzuführen und nicht etwa auf irgendeine Art von Großzügigkeit der
Nazimachthaber. Das Amsterdamer ITF-Sekretariat versuchte unter dem
Holländer Edo Fimmen, den antifaschistischen Widerstandskampf der
Seeleute zu organisieren und trat für die notwendige Einheit von
Sozialdemokraten und Kommunisten gegen die faschistische Gefahr in ganz
Europa auf.
1956 forderte die ITF in einer Resolution auf einem Kongreß in Wien die
Regierungen der Schiffahrtsstaaten auf, endlich die weitere Tendenz zur
Ausflaggung von Schiffstonnage zu stoppen. Doch die ITF wartete nicht
ab, sondern organisierte systematisch mit Boykottaktionen den Abschluß
fairer Arbeitsbedingungen auch auf sogenannten Billigflaggenschiffen. In
zahlreichen Kampagnen, die sich Jahr für Jahr wiederholten, gelang es
der ITF, immer mehr Schiffstonnage entweder wieder unter die Flaggen
der Schiffahrtsstaaten zu bringen oder aber bessere Arbeitsbedingungen
für die meist asiatischen Billig-Seeleute durchzusetzen. Wie bedeutsam
dieser Kampf um die Verbesserung von Arbeitsbedingungen auf
Billigflaggenschiffen war, verdeutlichen die zahlreichen
Schiffsunglücke, die sich vor allem unter sogenannten Billigflaggen,
z.B. bei Tankern, ereigneten und damit sogar Umweltkatastrophen
auslösten. Von Anfang an möglich waren die Aktionen aber nur im
unmittelbaren Zusammenwirken zwischen der ITF, den Seeleuten und den
Hafenarbeitern. Ohne Hafenarbeiter kein Boykott der Schiffe. Ohne
Boykott kein erfolgreicher Seeleutestreik. Und umgekehrt. Seeleute und
Hafenarbeiter kämpften wie in Hamburg 1896/97 erneut Hand in Hand. Nicht
zufällig waren sie in Deutschland auch beide Mitglied der Gewerkschaft
Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) und als solche wiederum
Mitglied in der ITF. Der im Verein von Seeleuten und Hafenarbeitern
geführte internationale Kampf der ITF trug nicht unwesentlich zum
»Schmuddelimage« der Billigflaggen bei.
Anfang der 70er Jahre kam es zum ersten nationalen Warnstreik der
Seeleute im Westen Deutschlands. Neuer Wind kam auch in die
Gewerkschaften: Während vor der Jahrhundertwende noch oft Gastwirte und
Seemannsheimbesitzer als »Gewerkschaftsfunktionäre« fungierten, entstand
auf der Grundlage des Betriebsverfassungsgesetzes ein ganzes Netz von
Bordvertretungen auf den Schiffen und von Seebetriebsräten an Land.
Kein Zweifel: Die Seeleute wurden stärker. Doch die Reeder sannen
gemeinsam mit der »Politik« nach einem Ausweg abseits der Billigflagge.
Ihre Idee: Am besten unter deutscher Flagge weiterfahren, dann aber an
Bord deutscher Schiffe zu eben solchen Bedingungen, wie sie es auf den
Schiffen der Billigflaggen gab. Wie sollte das passieren? Eine Idee war
geboren: Das sogenannte »Internationale Seeschiffahrtsregister«.
Seeleute sollten dort zu sogenannten »Heimatbedingungen« tätig werden.
Eigentlich ein klarer Verfassungsbruch, weil auf diese Weise innerhalb
der deutschen Rechtsordnung eine Art »Sondergebiet« geschaffen wurde,
für das es nicht die geringste verfassungsrechtliche oder
staatsrechtliche Grundlage gab. Man stelle sich vor: Der Bundestag
beschließt plötzlich, daß etwa im Gebiet nordöstlich der Elbe nicht
deutsche Jurisdiktion gilt. Nach klassischen Kriterien wäre das eine Art
Hochverrat. Die Abtrennung des Teils eines Staatsgebietes. Doch das
Bundesverfassungsgericht erklärte entgegen allen diesbezüglichen
Bedenken dieses Gesetz für verfassungsgemäß, allerdings nicht ohne auf
die angeblich besondere wirtschaftliche Situation der deutschen
Seeschiffahrt damals einzugehen. Die extreme Verbesserung der
wirtschaftlichen Situation der Seeschiffahrt hatte ihrerseits aber
keineswegs zur Folge, daß nunmehr die gesetzliche Regelung geändert wurde.
Im Gegenteil: Eines der Argumente der Gegner dieses Gesetzes war von
Anfang an, daß auf Dauer damit das sogenannte seemännische Know-how an
der Küste verlorengehen würde. Über kurz oder lang würde es auf den
Schiffen nur noch deutsche Kapitäne und »Chiefs« geben, nicht aber mehr
deutsche Seeleute. Die Folge: Selbst bei der Wasserschutzpolizei oder in
allen anderen schiffahrtsnahen Berufen würde irgendwann das berufliche
Know-how aussterben. Genau dies trat ein. Als dann beim großen
Export-Boom ab Mitte der 90er Jahre (China-Handel) die Reedereien
expandierten, war der Ruf nach qualifizierten Seeleuten groß.
Zwischenzeitlich allerdings hatten die meisten Seefahrtsschulen
geschlossen. Es gab praktisch keine deutschen Seeleute mehr. Hinzu kam,
daß man von heute auf morgen praktisch die gesamte Seeschiffahrt der DDR
»abgewickelt« hatte (bis auf kleine Ausnahmen).
Das »Internationale Schiffahrtsregister« ist ein Beispiel dafür, wie
weit die Politik den Reedern bei der Durchsetzung ihrer Profiinteressen
entgegenzukommen bereit war. Dabei hatten die Reeder schon durch das
Seemannsgesetz von 1957 Privilegien, von denen Unternehmer an Land nur
träumen konnten. Bis 1970 gab es sogar die verfassungswidrige Norm einer
»Desertion«: Das heißt, Seeleute durften bei Strafe das Schiff nicht
einfach verlassen. Das Seemannsgesetz aber war in seiner Grundkonzeption
der Seemannsordnung von 1902 nachgebildet und wies eine durch und durch
demokratiefeindliche Struktur auf. Zu Recht forderten deshalb später
auch die Seeleute innerhalb der ÖTV die Abschaffung des
Seemannsgesetzes. Bis heute allerdings wurde diese Forderung nicht
durchgesetzt. Kein Wunder: Bis auf Kapitäne und einige qualifizierte
Offiziere ist die deutsche »Seemannschaft« faktisch ausgestorben. Sie
wurde ersetzt durch Billigseeleute, die keineswegs nur unter deutschen
Standards beschäftigt werden, sondern die vor allem auch weiterhin (wie
auf den Billigflaggen!) existentiell abhängig sind von sogenannten
»Crewing-Agencies«, also faktischen Menschenhändlerorganisationen.
Damit aber schließt sich ein Kreis: Die sogenannten Landhaie und
Heuerbaase, gegen die sich die Seeleute 1896 wandten, feiern fröhlich
Urständ: Heute unter den Billigflaggen oder beim ISR zu Lasten der
sogenannten Billigseeleute. Damals zu Lasten deutscher Seeleute. Die
Struktur ist dieselbe geblieben. Allerdings ist der Profit auch weitaus
größer, denn die Zahl der eingesetzten Seeleute und die Größe der
Schiffe sowie die Größe der Fracht stehen in gar keinem Verhältnis mehr
zu dem, was um die vorletzte Jahrhundertwende üblich war. »Rückflaggung«
aus der Billigflagge unter die deutsche Billigflagge des ISR kann also
niemals eine Lösung im Interesse der Seeleute und der Bevölkerung sein.
Wohl aber eine staatliche Handelsflotte, wie sie die ÖTV schon 1980
forderte.
Die ganze Widersprüchlichkeit und Unglaubwürdigkeit der offiziellen
Politik in Sachen Seeschiffahrt wurde nicht zuletzt deutlich am Thema
»Piraterie«: Da wurde beispielsweise der Einsatz von Militär zugunsten
eines »deutschen Schiffes« diskutiert, obwohl es sich nur um das Schiff
eines deutschen Reeders handelte, das Schiff selbst aber die Flagge von
Antigua führte, also wiederum eine sogenannte Billigflagge. Während man
also auf der einen Seite dem Reeder zubilligte, durch einen
manipulativen Rechtsakt das Schiff der deutschen staatlichen Kontrolle
zu entziehen, wurde es auf dem Umweg über die reinen wirtschaftlichen
Interessen des deutschen Reeders wieder zu einem »deutschen Schiff« mit
der Folge, daß die Politik sogar den Einsatz von Kriegsschiffen
diskutierte. Dies zeigt nicht nur die Unglaubwürdigkeit der gesamten
Politik im Bezug auf Billigflaggen, sondern auch, daß bis heute das
eigentliche internationalrechtliche Problem der Billigflaggen von
Politik und Gesetzgebung umgangen wird: Nach dem Genfer Abkommen über
die Hohe See von 1957 muß zwischen dem sogenannten Flaggenstaat und dem
Schiff eine »natürliche Verbindung« bestehen. Das heißt: Der
Flaggenstaat muß über das Schiff eine natürliche Kontrolle ausüben und
nicht eine fiktive (vor allem über die Schiffssicherheit). Ein Schiff,
das in Antigua beheimatet ist, aber einem deutschen Reeder gehört und
niemals nach Antigua fährt, oder ein Schiff, das in Liberia beheimatet
ist und einem französischen Reeder gehört, aber niemals nach Monrovia
fährt, verfügt nicht über eine solche »natürliche Verbindung«. Deshalb
wäre die viele Jahre später durch internationale Abkommen eingeführte
»Hafenkontrolle«, das heißt die Kontrolle den Hafen anlaufender Schiffe
auf die Einhaltung von internationalen Sicherheitsstandards eigentlich
gar nicht notwendig gewesen, da solche Billigflaggenschiffen
internationalrechtlich eigentlich immer »rechtlos bzw. staatenlos«
waren. Nur: Niemand traute sich gegen die mächtigen Interessen der
großen Reedereien zu handeln, so daß man die Billigflaggen tatsächlich
rechtlich für bare Münze nahm und als »Flaggen« anerkannte.
Dieser Zusammenhang wurde auch nicht in der sogenannten
Viking-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes beachtet. Dort war
der Boykott von Schiffen durch Hafenarbeiter mit dem Ziel der
Verhinderung einer Ausflaggung für rechtswidrig erklärt worden.
Tatsächlich war auch in diesem Falle die Ausflaggung nichts anderes als
eine Umgehung der Befugnisse des eigentlichen Flaggenstaates durch
Rechtsmißbrauch gewesen: Es sollte eine andere Flagge gehißt werden, um
die Kontrolle des ursprünglichen Schiffahrtslandes zu verhindern und
zugleich Dumpinglöhne durchzusetzen. Mit dem Verdikt des Gerichts in
Luxemburg wurden über 100 Jahre Geschichte der Seeleutebewegung mit
einem Federstrich beseitigt: Den Richtern war offensichtlich überhaupt
nicht der Zusammenhang zwischen Seeleuten und Hafenarbeitern bekannt.
Nicht etwa nur der theoretische, sondern der durch die Geschichte
gewachsene und selbstverständlich auch in den Arbeitsbeziehungen der
Schiffahrtsnationen längst anerkannte Zusammenhang zwischen Seeleuten
und Hafenarbeitern.
Alle Diskussion über die regionale und nationale Bedeutung von Häfen,
insbesondere über die zum Teil unsinnige Konkurrenz etwa zwischen dem
Hafenprojekt Wilhelmshaven auf der einen Seite und dem Bremischen und
dem Hamburgischen Hafen auf der anderen Seite oder aber zum Beispiel die
jahrzehntelange völlig unsinnige Ausgrenzung eines Hafens in Cuxhaven
zugunsten der Hamburgischen Hafenbetriebe oder die Konkurrenz zwischen
dem Hamburger Containerhafen und dem Containerhafen in Bremerhaven sind
unlösbar mit dem wirtschaftlichen Druck der großen internationalen
Reedereien verbunden: Weder die Hafenbetriebe noch die lokale Politik
entscheiden letztlich über eine Hafenpolitik im Interesse der
Küstenregionen. Umgekehrt diktieren die großen internationalen
Reedereien die Bedingungen, zu denen Häfen (vor allem ihre
Überkapazitäten!) anbieten und verursachen so einen Preisverfall zu
Lasten der Beschäftigten und der öffentlichen Haushalte. An dieser
Stelle ist nicht mehr die Solidarität von Hafenarbeitern für Seeleute,
sondern die Solidarität von Seeleuten und allen anderen Beschäftigten
für die Hafenarbeiter und die Hafenstädte gefordert: Der Einfluß der
Reedereien ist inzwischen so groß, daß inzwischen nicht mehr nur Häfen
gegeneinander, sondern auch einzelne Staaten innerhalb der Europäischen
Union und darüber hinaus gegeneinander ausgespielt werden. Längst sind
nicht mehr nur Seeleute – und erst recht nicht nur Billigseeleute – das
Opfer des Reederdiktats, sondern über den Umweg einer verfehlten
Hafenpolitik ganze Regionen und auch Nationen.
Nur eine Staatsreederei wäre in der Lage, den kurzfristigen
gewinnorientierten Reedereiinteressen gegenzusteuern und zugleich faire
Arbeitsbedingungen an Bord der Schiffe wie in den Häfen zu garantieren.
Schon um die vorletzte Jahrhundertwende war klar: Schiffssicherheit
bedeutete Arbeitssicherheit. Für private Reeder war und ist eine Havarie
immer nur eine Frage der Kosten. Für Seeleute aber war und ist sie eine
Frage des Überlebens. Heute kommt etwas anderes hinzu: Havarien bedeuten
fast auch immer eine Gefährdung der Umwelt. Wer Umweltschutz auf See
will, muß sich auch um die Arbeitsbedingungen der Seeleute kümmern und
das Billigflaggenunwesen bekämpfen.
Nur eine Staatsreederei könnte im übrigen im Verein mit einer staatlich
organisierten Bildungspolitik und im Zusammenwirken mit den Betroffenen
auf Dauer seemännisches Know-how und einen hohen Ausbildungsstand an
Bord der Schiffe dauerhaft sichern. Doch gegen Forderungen dieser Art
richtet sich die mediale Verwirrung der Reeder und ihrer mächtigen Lobby
in Politik und Öffentlichkeit. Ausdruck dieser Verwirrung sind nicht
zuletzt auch solche Einrichtungen wie das DSM und das IMM. Sie sind weit
mehr als »nur Museen«. Nein: In ihnen und durch sie verdichtet sich das
System eines gezielt betriebenen Schiffsfetischismus und einer
Neuauflage der sattsam bekannten Seefahrtsromantik. Dafür bedarf es zwar
nicht mehr unbedingt der Ideologie des kaiserlichen »Marineblau«, wohl
aber spielt die ideologische Vernebelung in diesem Bereich immer noch
und immer wieder eine zentrale Rolle. Ihr fallen wiederholt auch
»kritische« Geister zum Opfer.
All dies macht deutlich, daß man die »maritime« Dimension der Politik
niemals aussparen kann und darf, und zwar nicht nur, wenn es »bloß« um
deutsche Häfen geht. Allerdings erkennt man in solchen Momenten deutlich
– trotz aller künstlichen Marinepropaganda: Deutschland war nie eine
maritime Nation. Und eben deshalb hat auch die Linke es nicht einfach,
ein klares Verhältnis zur Seeschiffahrt zu gewinnen. Wer aber erst
einmal die jahrzehntelang betriebene ideologische Vernebelung in diesem
Bereich erkannt hat, dürfte die unterschiedlichen Fronten dabei
deutlicher erkennen. Zugleich wird er erkennen: Der Kampf der Seeleute
und Hafenarbeiter ist immer noch (und immer wieder) ein leuchtendes
Symbol der internationalen Arbeiterbewegung in einer globalisierten
Arbeitswelt.
(Anm: Der Autor Rolf Geffken veröffentlichte 1988 im VAR-Verlag das Buch
„Jammer und Wind. Eine alternative Geschichte der deutschen
Seeschifffahrt.“)
Theaterschiff TAU. Photo: baumschutz.wordpress.com
Es folgt ein Bericht über dieses „abandoned ship“, das bis heute im
Kreuzberger Urbanhafen liegt – und immer mehr verkommt:
Schiffbruch mit Zuschauern
1997 lernte ich in Berlin einen Schiffshausmeister kennen: Murat
Celikel. Der gelernte Ökonom aus Istanbul war nebenbei noch Regisseur
sowie Geschäftsführer und Kapitän des Theaterschiffs TAU am Urbanhafen.
Er hatte es 1995 in Rostock gekauft, wo er es umbauen und dann für noch
einmal zigtausend Mark in den Landwehrkanal schleppen ließ.
Murat wollte damit eine freie internationale Theaterstätte (im
Schiffsbauch) schaffen, die sich durch die Gastronomie (unter Deck sowie
auf dem glasüberdachten Sonnendeck) finanzieren sollte. Daneben fanden
dann auf den Decks noch Lesungen und kleinere Konzerte statt: mit
Künstlern – unter anderem aus Argentinien, Georgien, Russland und Persien.
Murat selbst inszenierte im „Bauch“ sein Stück „Godot an Bord“. Er hätte
gerne mehr Theater dort gemacht, aber einen Großteil seiner Zeit
verschlang der Papierkrieg. Drei Jahre brauchte er alleine, bis er die
Liegegenehmigung im Urbanhafen bekam: Sämtliche Grünenpolitiker und ihre
Ämter stellten sich quer – dagegen standen Murats Arbeitsplatz- und
Kultur-Argumente. Als alles klar war, wurde ihm absurderweise der Steg –
für den Landgang – verweigert. Dann musste er allein für die Abwässer
des Schiffes 34.000 Mark jährlich zahlen.
Bald mangelte es ihm an Geld für die Werbung. Deswegen schaffte er es
wiederum nicht richtig, sein Schiff samt Gastronomie öfter für
geschlossene Veranstaltungen zu vermieten. Außerdem hätte er eigentlich
auch noch einen Verein gründen müssen, um für seine Theaterprojekte
staatliche und private Spenden akquirieren zu können.
Die Promeniermeile am Urbanhafen, an seinem Schiff vorbei, geriet
derweil immer gutbürgerlicher. Was vor dem Krieg für die Kreuzberger
Happy Few das Engelbecken in 36 war, wurde nun der Urbanhafen in 61,
wobei es sich meistens um SPD- und Grünenpolitiker handelte. Dazwischen
tummelte sich jedoch noch immer ein ärmeres Völkergemisch – Patienten
des Urbankrankenhauses mit ihren Angehörigen.
Für diese Flaneure lagen dort im Hafen bereits drei holländische
Cappuccino-Schiffe: „van Loon“, „Philippa“ und „Josephine“. Hinter der
Baerwaldbrücke gab es an Land ein toskanisch aufgemotztes Restaurant mit
Minigolfplatz, dessen italienische Pächter wir zuvor vergeblich mit
Solidarveranstaltungen unterstützt hatten. Und auf der anderen Seite
nahe der Admiralsbrücke lag und liegt das vor zwei Jahren ausgebrannte
türkische Restaurantschiff „Iskele“ – ebenfalls ein „abandoned ship“ jetzt.
Dazwischen dümpelte das TAU – auf
Höhe des Urbankrankenhauses. Dieses sollte erst geschlossen werden und
wurde dann nach Protesten in die pseudoprivate Übergangsstruktur namens
Vivantes eingegliedert, die es nun auf seine „Kernkompetenzen“ reduziert
– und mit dem Rest ein Immobilienspekulationsgeschäft betreibt, bei dem
die Kranken, aber auch das weißgekittelte Personal nur stören.
Zurück zum TAU: Über die armenische Konzert- und Kunstorganisatorin
Karine frequentierten bald auch immer mehr Russen das Theaterschiff. Es
war von einer türkisch-jüdisch-sowjetischen Theaterproduktion die Rede.
Rund 350 „Theaterprojekte“ gibt es in Berlin, das TAU hatte gute
Chancen, zu einem der interessanten zu werden. Aber dann gab Murat – für
uns, die wir auf dem verglasten Oberdeck Kaffee tranken, überraschend –
auf. Sein Schiff wurde geschlossen.
Einige Wochen später machte es jedoch wieder auf – ohne Murat. Die Crew
sah jetzt aus wie ein typisches Kreuzberger Kollektiv mit leicht
schwäbischem Akzent. Dieser konnte sich jedoch anscheinend nicht
durchsetzen: Erneut machte das Theaterschiff zu. Diesmal blieb es auch
zu – bis heute. Zwischendurch kletterten nächtens immer mal wieder
Jugendliche über die Absperrung vor der Gangway – und schmissen eine
Scheibe ein oder sprühten irgendwelche kryptischen Botschaften an die
Bordwände, deren grauer Lack langsam abblätterte.
„Das Schiff sieht inzwischen richtig Scheiße aus“, meinen viele, die
daran regelmäßig vorbeipromenieren. Wir fingen an, Murat zu suchen.
Vielleicht sind alle möglichen Behörden hinter ihm her, um ihn wegen
ausstehender Liegegebühren, Hafenverschandelung etc. zu verklagen – und
er ist deswegen untergetaucht, vermuteten wir irgendwann, denn er war
nirgendwo zu finden. Dann erlitt auch noch das
Spreerestaurantboots-Abenteuer eines anderen Bekannten in 36 – an der
Oberbaumbrücke – Schiffbruch. Ich kann mir das nur damit erklären, dass
diese Landratten auf dem Wasser einfach überfordert waren.
Poller vor Matrosen (Singapur). Photos: Peter Grosse