vonHeiko Werning 26.02.2011

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Für den Tatort-Fundus habe ich wieder eine Rezension des aktuellen Hamburg-TATORTs geschrieben. Für Berliner allerdings gilt: Aufnehmen und zur Reformbühne Heim & Welt kommen. Mit Ahne, Falko Hennig, Jürgen Witte, mir und den Gästen: Roman Israel & Martin Goldenbaum.

Leben gegen Leben
Organhandel ist ein besonders schauriger Wirtschaftszweig. Erst recht natürlich, wenn die zu handelnden Organe noch ordnungsgemäß in ihrem Ursprungskörper sitzen. Die damit vorstellbar werdenden Verbrechen beflügeln die Fantasie auf morbide Weise zwischen modernem Mythos und knallharter Realität.
Mitten in diesem Spannungsfeld ermittelt in seinem neuen Fall Cenk Batu, der Undercover-Cop des LKA in Hamburg. Als Fahrer wurde er in eine Organhändlermafia eingeschleust, und schnell stellt sich heraus, dass die furchtbarsten Mutmaßungen hier Realität geworden sind: Gesunde Straßenkinder und -jugendliche, die niemand groß vermisst, werden entführt und regelrecht ausgeweidet, ihre ausgeplünderte Hülle wird weggeworfen wie Müll. Batu hat sich das Vertrauen der Organhändler erschlichen und wird nun mit einem heiklen Job betraut. Er soll die 14-jährige Amelie zur Organtransplantation fahren, ein deutsches Straßenmädchen, das von zu Hause ausgerissen ist, sich mit ihrem alleinerziehenden Vater überworfen hat und nun von den Frischfleischlieferanten eingefangen und verhökert wurde. Denn die gleichaltrige Sarah ist lebensbedrohlich erkrankt, bedarf rascher Hilfe, aber Spenderorgane stehen nicht zur Verfügung, die Warteliste ist lang. Womöglich zu lang für das Mädchen. In ihrer Verzweiflung haben sich Sarahs Eltern auf den schmutzigen Deal eingelassen. Sie wissen es zwar nicht sicher, aber ahnen, dass die Voruntersuchungen in noblen Hamburger Umland-Villen und die Operation im mobilen OP-Saal nicht nur aufgrund der Umgehung behördlicher Vorschriften nötig sind. Ihre unkommentierte Zerrissenheit ist einer der großen Pluspunkte des Films.
Batu ist ebenfalls in einer moralischen Dilemma-Situation: Wenn er das Mädchen ausliefert, bringt er es in Gefahr. Sein Vorgesetzter Kohnau versichert ihm zwar, dass im Hintergrund alles zum Schutz Amelies Notwendige getan wird, aber um an die Hintermänner zu gelangen, müssen sie auf frischer Tat ertappt werden.
Die Situation spitzt sich dramatisch zu, als Amelie beim Transport einen Unfall provoziert und entkommt. Nun wird Batu selbst zum Gejagten, mitten im Spannungsfeld zwischen Aufdeckung einer hochkriminellen Bande, Schutz eines perspektivlosen Kindes und eigener Sicherheit.
Dieser neue TATORT aus Hamburg ist ein konzentrierter, glänzender Thriller. Die knisternde Spannung rührt von dem Grusel des ungeheuerlichen Verbrechens ebenso wie von den quälenden moralischen Fragen. Wer will es Sarahs Eltern verübeln, wenn sie um das Leben ihres Kindes kämpfen, mit allen Mitteln? Hat Kohnau nicht Recht, dass das Risiko vertretbar ist, Amelie zu gefährden, wenn dafür den Verbrechern das Handwerk gelegt und viele andere zukünftige Opfer verhindert werden können? Das ist auch deswegen so packend, weil trotz dieser an die ethische Substanz gehenden Probleme moraline Passagen unterbleiben. Nicht auszudenken, die Kölner Ermittler wären am Zuge, was wir uns da alles anhören müssten!
Klug vermeidet der Hamburg-TATORT diese Fallen, so wie er wieder einmal überhaupt praktisch alles richtig macht. Batus Migrationshintergrund wird erneut weder groß thematisiert noch erst recht nicht problematisiert, ganz selbstverständlich ist er einfach da und ermöglicht einige schöne Szenen, die in wenigen Augenblicken mehr über Stand und Möglichkeiten der Integration verraten als das ganze Gekeife aller Sarrazine und Broders. Und das auch noch wunderbar beiläufig und sinnvoll in die Handlung integriert. Die vor allem eines ist: spannend und dramatisch. Und dennoch dicht dran an einem gesellschaftlich höchst relevanten Thema.
Erfreulicherweise gibt es keine nervenden Nebengeschichten, keinen Diskurs-Krimi, wo alle Perspektiven auf die Organspenderproblematik durch talkshowartiges Aufsagen der Positionen durchgearbeitet werden, keine parallelen Annäherungen ans Thema durch die Figur der Ermittler, keine persönliche Involviertheit neben jener, die sich im Lauf des Falls von selbst ergibt. Kurz: der ganze oft nervende, sattsam durchgekaute TATORT-Ballast ist über Bord gegangen, ebenso wie die klassische filmische Erzählweise, stattdessen sehen wir erneut eine kalte, moderne und gehetzte Ästhetik.
„Leben gegen Leben“ ist alles andere als ein entspannt-gemütlicher „Wo waren Sie denn gestern um halb zwölf“-Wohlfühlkrimi, sondern ein rasanter, bedrückender, packender Thriller auf der Höhe der Zeit. Und wird wohl gerade deshalb wieder den einen oder anderen Zuschauer vor den Kopf stoßen. Aber für die bleiben ja immer noch genug andere Ermittler im TATORT-Land.
Nach dem Abgang des Frankfurter Teams um Sawatzki und Schüttauf ist der Hamburg-TATORT mit Kurtulus und Jordan derzeit das innovativste, aufregendste Format in der Reihe. Hoffentlich bleibt es uns trotz der eher enttäuschenden Quoten noch lange erhalten. Denn wo sollten solche neuen Formen etabliert werden, wenn nicht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und in einer Reihe, die sich immer schon die künstlerische Experimentierfreude und Genre-Erweiterung auf die Fahnen geschrieben hat?

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