vonHeiko Werning 02.01.2010

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Wer am morgigen Sonntag, 3.1.2010, um 20.15 Uhr zur Reformbühne Heim & Welt (mit Ahne, Jakob Hein, Uli Hannemann, Falko Hennig, Uli Hannemann, mir sowie den Gästen Jacinta Nandi und Marco Tschirpke) ins Kaffee Burger kommt, sollte den Video-, DVD- oder Online-Rekorder vorher scharfstellen, um den sehenswerten TATORT “Weil sie böse sind” nicht zu verpassen, den ich vorab für den Tatort-Fundus besprochen habe:

Was für ein Jahreswechsel! Hatte letzte Woche der SWR mit dem Fall „Altlasten“ des Stuttgarter Teams noch einen echten Höhepunkt des TATORT-Jahres 2009 gesetzt, folgt nun der HR mit dem nächsten Paukenschlag und eröffnet den TATORT-Reigen 2010 mit einer Folge, bei der die kommenden Filme des Jahres Schwierigkeiten haben dürften, mitzuhalten.

Denn der vorletzte Fall für das einerseits mit reichlich Preisen und Kritikerlob bedachte Frankfurter Team um die immer leicht an der Borderline tanzende Kommissarin Sänger und dem raubeinigen Kommissar Dellwo, das andererseits wie kein zweites in der jüngeren Vergangenheit die Zuschauer polarisierte, weil ihre Filme eigentlich nie „normale“ TATORTe waren, sondern immer versuchten, an die Grenzen des Genres zu gehen und dabei gleichzeitig Polizeiarbeit und gesellschaftliche Problemlagen möglichst realitätsnah auszuloten, auch dieser Fall verläuft wieder alles andere als erwartbar und fernab des klassischen Ermittler-Krimis. Entsprechend kontrovers dürfte auch dieser Film diskutiert werden, obschon, immerhin, niemand wird klagen können, er sei nur wieder ein depressives Soziodram.

Handfeste Kriminalgeschichte

„Weil sie böse sind“ verfügt vielmehr über eine sehr handfeste Kriminalgeschichte, die auch äußerst dominant im Mittelpunkt des Films steht, fast schnörkellos wird sie erzählt, dabei für einen Sonntagsabendkrimi äußerst originell und überraschend verlaufend, so sehr, dass hier zur Handlung möglichst wenig gesagt werden soll. Hier wäre jedes Wort fast zu viel, denn bereits in der ersten Viertelstunde gibt es einen verblüffenden „turning point“, der am besten wirkt, wenn man ganz unvoreingenommen schauen kann.

Beschränken wir uns also auf die Beschreibung der Ausgangslage. Die ist durchaus frankfurttypisch und wird den ein oder anderen Zuschauer vermutlich bereits erste allergische Stressflecken auf die Wangen treiben, denn zunächst entfaltet sich die schon häufiger abgearbeitete Sozialtristesse: Rolf Herken ist alleinerziehender Vater eines autistischen Sohnes, er kommt finanziell vorne und hinten nicht hin, um dem Kind einen guten Betreuungsplatz mit optimaler therapeutischer Förderung bieten zu können. Rolf ist, das merken wir schnell, ein zwar gutherziger, aber leider etwas unterbelichteter, hoffnungsloser Loosertyp. In seiner Firma wird er kalt ausgebootet: Die Kollegin verkauft seine neue Vertriebsidee als ihre eigene und greift prompt die Beförderung dafür ab, jene Beförderung, die er so dringend gebraucht hätte, um seine finanzielle Situation zu retten. Als er gegen diese Ungerechtigkeit aufbegehrt und bei der Kollegin etwas zu aufgebracht interveniert, nutzt diese den Vorfall, um ihn endgültig abzuservieren; Rolf steht plötzlich vor dem Aus, zumal sein Antrag auf ein Stipendium für den Sohn abgelehnt wurde. In seiner Verzweiflung greift er zu einem letzten, objektiv betrachtet abwegigen, ihm aber noch Hoffnung verheißenden Strohhalm: Das Hobby von Rolf sind ausgiebige genealogische Studien, also Ahnenforschung, und in deren Folge ist er auf die Familie Staupen gestoßen, die heute zu den oberen Zehntausend von Frankfurt zählt und die ausgerechnet jene Stiftung verwalten, die dem Sohn den Therapieplatz gewähren könnte. Rolf bricht auf zum Anwesen der Staupens und versucht, im persönlichen Gespräch den alten Reinhard Staupen dazu zu bewegen, sich für seinen Sohn einzusetzen: „Es kostet Sie doch nur einen Anruf.“ Als der herzlich unsympathische Snob den ungebetenen Besuch wie ein lästiges Insekt abwimmeln will, zieht Rolf seine vermeintliche Trumpfkarte: Im Mittelalter, so haben seine Studien ergeben, hätten die Staupens seine Ahnen übervorteilt und ausgenommen, er könne das alles belegen, nicht zuletzt dadurch sei der heutige Reichtum der Staupens zu begründen, es sei also doch nur recht und billig, wenn er jetzt als kleine, späte Wiedergutmachung für den Therapieplatz des Sohnes sorge. Mit dieser absurd-verzweifelten Argumentationskette konfrontiert, reagiert Staupen, wie man es erwarten würde: Er lacht Rolf aus, und weil er, so viel haben wir in den wenigen Augenblicken schon gemerkt, ein Fiesling erster Güte ist, demütigt und verspottet er Rolf, bis bei diesem die Sicherungen rausfliegen und er mit einer Art Morgenstern aus der Waffensammlung im herrschaftlichen Haus zuschlägt. Staupen ist sofort tot, die Katastrophe perfekt. Rolf aber ist kein kalter Verbrechertyp, er kann und will die Spuren nicht verwischen, zudem registriert er, dass eine Überwachungskamera ihn gefilmt hat, er resigniert, wankt nach Hause, packt seinen Koffer fürs Gefängnis und stellt sich nur nicht gleich selbst, um noch ein wenig Zeit mit dem Sohn verbringen zu können. Doch statt Sänger und Dellwo von der Mordkommission steht kurz darauf Staupens Sohn Balthasar vor seiner Tür, ein schnöseliger Reichen-Bengel, der vor lauter Wohlstand mit seinem Leben so recht nichts anzufangen weiß und einen bizarren Plan gefasst hat …

Meta-Ebene: Absicht oder Zufall?

Und mehr wird hier nicht verraten, denn der Film setzt nun zu einer wahnwitzigen Wendung an, die sich gewaschen hat. Rolf gerät in einen Strudel von Ereignissen, die er weder steuern noch verstehen kann. Gleichzeitig tappen Sänger und Dellwo einerseits im Dunkeln, andererseits sind sie ohnehin mehr mit sich selbst beschäftigt. Wie ja längst ungewöhnlich öffentlich geworden ist, haben die Schauspieler Andrea Sawatzki und Jörg Schüttauf größere Probleme miteinander, ihr Verhältnis sei gar zerrüttet, wurde kolportiert, was letztlich auch der Grund für das bevorstehenden Aus des Frankfurter Teams ist. Diese Personalie einschließlich der Suche nach einem Nachfolgerteam wurde in den Medien in einer Weise diskutiert, wie man sie sonst eher bei der Neubesetzung von Minister- oder Parteivorsitzendenämtern kennt, was einerseits die Rolle des TATORTs in der deutschen Gesellschaft widerspiegelt, andererseits aber vor allem etwas befremdlich wirkte. Entweder ist es Zufall, oder Buch und Regie haben beschlossen, diesen Hintergrund einfach mit einzubauen – so oder so ist dieser Teil der Handlung aber ein weiterer Geniestreich dieses herausragenden Films. Denn Rudi Fromm, der Leiter der Mordkommission, plant, in den vorgezogenen Ruhestand zu gehen, hat dies aber noch nicht öffentlich gemacht. Dennoch weiß der „Flurfunk“ bestens Bescheid, und Staatsanwalt Dr. Scheer drängt Kommissarin Sänger dazu, sich auf die Stelle zu bewerben, damit bloß Dellwo sie nicht bekommen möge. Sänger zögert nur kurz, dann erklärt sie sich einverstanden. Dellwo bekommt Wind von der Sache, geht seinerseits in die Offensive und verkündet Kollegen am Kaffeeautomaten, dass er sich bewerben wolle. Miteinander reden die beiden Ermittler aber nicht über die Angelegenheit, stattdessen misstrauen sie sich zunehmend und zerstreiten sich schließlich heillos, nur widerwillig und unprofessionell machen sie sich an die Aufklärungsarbeit in Sachen Staupen. Diese Doppelbödigkeit – als Zuschauer fragt man sich natürlich ständig: Ist die Abneigung der beiden jetzt gerade sozusagen echt oder eben nur gespielt – macht diese Nebenhandlung zu einer der originellsten seit Langem, eine solche Verkopplung von Spiel- und Meta-Ebene hat es meines Wissens im TATORT noch nie gegeben, überhaupt ist sie – Zufall? Absicht? – wohl recht einzigartig für einen nicht-satirischen Fernsehfilm.

Das Wesen des Bösen

Aber allzu viel Raum nehmen die Ermittler – liegt es daran, dass die Schauspieler nicht miteinander arbeiten wollen, ist es vom von vornherein Buch so gewollt? – in diesem Fall ohnehin nicht ein. Stattdessen erleben wir, wie der von der Welt hoffnungslos überforderte, in seinem Kern trotz seiner Mordtat doch eigentlich „gute“ Rolf plötzlich mit dem tatsächlich Bösen konfrontiert wird, denn das ist das Hauptthema des Films, im gut gewählten, aber zunächst merkwürdig wirkenden Titel schon hinreichend angedeutet. Und dass es um diese Auseinandersetzung geht – ja nicht zum ersten Mal in der neuen Frankfurter Ära, wir erinnern uns an den Meilenstein „Das Böse“ –, wird gleich zu Beginn klar gemacht, wenn noch vor dem Titel das zugehörige vollständige Rosseau-Zitat eingeblendet wird: „Wir hassen die Bösen nicht, weil sie uns schaden, sondern weil sie böse sind.

Die irrwitzige Reise des grundguten Rolf H. durch die Welt des Bösen ist ein perfekt inszenierter Film mit perfekt besetzten Rollen. Vor allem die Hauptpersonen – Milan Peschel als Rolf Herken und Matthias Schweighöfer als Balthasar Staupen – brillieren durch ein derart intensives Spiel, dass sich die Glaubwürdigkeitsfrage des wagemutig konstruierten Plots überhaupt nicht stellt: Man sieht es und glaubt es. Der Film schwebt über den Dingen, irgendwo zwischen Komödie, Thriller und Drama, er fesselt von der ersten bis zur letzten Minute und endet in einem ebenso unerbittlichen, überraschenden wie letztlich ebenso fast glücklich machenden wie verstörenden Finale und hat sogar fast so etwas wie eine Moral: Wir sollten mal wieder miteinander reden, sagen Sänger und Dellwo sich am Ende, nachdem sie letztlich vollständig gescheitert sind. Großartig.

„Aber das ist doch gar kein richtiger TATORT“, höre ich es schon in Diskussionsforen und Blogs quengeln. Wir aber werden lächelnd antworten: Na und? Dafür einer der besten Filme, die diese Reihe je hervorgebracht hat.

Auf ein gutes neues TATORT-Jahr 2010!

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