Vor einigen Wochen, also Mitte April, lud mich der Frontmann und Gründer der Klezmer Band ‚Moise‘ Tex Rubinowitz zu einer Reise nach Baku, Aserbaidschan ein. Er müsse dort die Teilnahme des kleinen Landes an dem sogenannten European Song Contest organisieren. Ich konnte nicht glauben, daß das stimmte. Lag dieses fernasiatische Gebiet überhaupt in Europa? Gehörte es nicht eher zur Sowjetunion? Oder zu Burma, Miramar, Ossetien, Transkaukasien? Selbst Karl May wären bei dieser Entfernung die Phantasien ausgegangen. Bei der Einladung von Tex stimmte anscheinend ALLES nicht, oder vieles, oder… einmal der Reihe nach:
Daß dieses Land den Eurovision Song Contest gewonnen hat, heute früh um 0.43 Uhr Ortszeit, ist klar. Auch, daß Tex Rubinowitz tatsächlich vorher nach Baku geflogen ist und dort noch immer feiert. Auch, daß es diese Band von ihm gibt. Wahr ist auch, daß er mir das alles vorher prophezeiht hatte, nämlich mit folgender Nachricht auf Facebook:
„Lottus, kommst Du mit am 29.4. nach Baku, Azerbeijan? Flieger geht um 9 Uhr 55, also 5 vor 10, das müsste zu schaffen sein, Flugzeit beträgt 4 Stunden, wir erreichen eine Höhe von zehntausend Metern, und bleiben bis 16.5., der Grund wird sein, dass wir Zeuge einer Revolution werden, nicht einer samtenen oder orangenen, auch keiner Nelkenrevolution wie 1974 in Portugal, sondern einer Schlagerrevolution, denn ich prophezeie, dass Azerbeijan dieses Jahr den Songcontest gewinnen wird, dieses Monster aus Hannover vom Thron stoßen wird.“
Ich war natürlich begeistert. Schon einmal, 2002, hatte er mich zu einer Reise eingeladen, nämlich in den Iran. Ich werde sie nie vergessen. Ich sagte also spontan zu und ließ es zu, daß Tex einen Flug für mich buchte und von unbekannten Stellen bezahlen ließ. Danach kam folgende Nachricht, etwa eine Woche später, quasi als weiteren Motivationsversuch:
„Azerbeijan ist nicht reizvoll, Azerbeijan, und speziell Baku ist die Perle des kaspischen Meeres, wie in einer Muschel liegt dieses Schmuckkästchen, für dass das Wort Stadt viel zu schnöde, profan, zu abgeriffen ist, in die sichere Bucht geschmiegt, leckt das in den buntesten Farben schillernde, ölige Wasser an seine Kaimauern, Pistazien sind neben dem ’schwarzen Gold‘ die Hauptexportware, unvorstellbar große Pistazienwälder im Hinterland, aber auch, und das ist weitestgehend unbekannt, Sumoringer gehen von hier aus nach Japan, einen haben sie ja neulich hops genommen, weil man bei einer Routinekontrolle in Tokio in seinem Geldbörserl einen dicken Joint (Ofen) fand, das mögen die Japaner gar nicht (erinnere Dich an Paul MacCartney (Macca), den sie auch mit „Stoff“ erwischt hatten und der 3 Tage saß, und danach stinksauer schwor, Japan nie wieder betreten zu wollen), der Sumoringer bekam lebenslanges Berufsverbot und 3 Jahre unbedingt aufgebrummt, dem bleibt nichts anderes übrig als in sein Heimatland zurückzukehren und wieder Pistazien zu ernten, stell Dir die Pikanterie vor, wenn die Japaner Macca mit einem Berufsverbot belegt hätten und in die Pistazienhain-GuLag Azerbejans verbannt hätten, na, das wär doch mal eine Ansage, und der Welt wäre die plombenaufweichende Edelschnulze Mull of Kintyre erspart geblieben. Montag hol ich mir mein Visum, Flug geht, wie gesagt am 29.4. um 9 Uhr 55, ab Wien Schwechat direkt.“
Ich warf letzte Bedenken über Bord und flog mir, allerdings nur für knappe zehn Tage. Ich erlebte einen sehr unsicheren, dennoch zielstrebigen Mann, der offenbar genau wußte, was er tat. Unsere Abenteuer dort sind ausführlich in einer Reportage für die Zeitschrift ‚Falter‘ dokumentiert.
Ich mußte dann dringend zurück nach Wien, um meinen Roman UNTER ÄRZTEN zu lektorieren sowie eine Lesung für die Anthologie ‚Brennstoff‘ zu absolvieren (Czernin Verlag, 498 Seiten, 39,99 Euro). Inzwischen leistete mein Freund offenbar ganze Arbeit, wie wir jetzt merken. Aber nochmal, ganz von vorn:
Was stimmt, und was nicht? Hat Tex den Song Contest beeinflußt? Nun, er hat Verträge mit örtlichen Behörden, die all seine Kosten tragen. Er hat bereits im Vorjahr dasselbe gemacht (sein Schützling erreichte Platz fünf). Er hat ein Buch darüber geschrieben (‚Der Bremsenflüsterer / Nachrichten von Unterwegs‘, Falter Verlag). Er hat darin auch ein breites, wortmächtiges Bekenntnis zu diesem Wettbewerb abgelegt.
Soweit, so richtig. Falsch dagegen ist, was Rubinowitz über die Qualität der vorgestellten Songs berichtet. Nicht die seiner selbstgehypten Bands aus Aserbaidschan, sondern die der chancenlosen Mitbewerber. Auch diese ‚Musiker‘ brächten bahnbrechend Signifikantes zustande, aller Neider zum Trotz. In ‚Der Bremsenflüsterer‘ schreibt er zum Beispiel:
„Riesengroßer Jubel bei ‚Satellite‘, Lenas bombastische Hymne, die ausladende Chereographie dazu, das bringt die ganze monströse Halle zum Heulen und Mitwimmern, wie bei einer Christoph-Marthaler-Inszenierung, und da ist er wieder, der Geist der großen Zeit des Song Contests der Sechziger-, Siebziegerjahre, Vicky Leandros, Nicole, Toto Contuno, diese komprimierten Miniopern! Szenen wie diese sind es, die den Song Contest wieder zu dem machen, der er einmal war, was er sein soll und weswegen er so beliebt ist. Am Ende siegt die Gerechtigkeit, die ausladende, grenzüberschreitende Geste.“
Und das ist leider alles Unsinn. In den letzten 20 oder auch 50 Jahren hat dieser Wettbewerb tausende von Liedchen hervorgebracht, aber keinen einzigen Hit. Ein Hit ist ein Tonträger, der von Millionen Menschen freiwillig gekauft wird. Und zwar, weil er einen ganz bestimmten historischen Moment musikalisch unverwechselbar zum Ausdruck bringt. Ein Hit wird von Künstlern gemacht. Er ist das Ergebnis einer Inspiration. Die industriell gefertigten lalala-Karaoke-Liedchen des Eurovision Wettbewerbs sind dagegen verwechselbar, wertlos, ahistorisch und dämlich. Kein Mensch gibt fünf Euro dafür aus, um eines der Liedchen zu Hause mehrmals am Tag zu hören. ‚Taken by a stranger‘ ist einfach nur eines: ein schlechter Witz. Und damit noch mehr als der ganze Rest des Gesäusels.
Wie also kommt nun ein so ganz besonders scharfsinniger und hellsichtiger Mitbürger wie Tex Rubinowitz, der ohne Frage niemanden hat, der auf Augenhöhe mit ihm kommunizieren könnte, zu solch einer seltsamen Wertschätzung des European Song Contests? Hat er einfach Jahre vor uns anderen begriffen, daß es eine Popmusik gar nicht mehr gibt, da die dazugehörige Musikindustrie zusammengebrochen ist? Das Internet-Downloaden hat diesen Teil der Kultur ja vernichtet, und andere. Ist also der ehemalige Grand Prix de la Eurovision der makabre Vorläufer einer furchtbaren kulturellen Auslöschung? Eine Mondlandschaft im Vergleich zur einst üppig sprießenden Musikwelt der Pop-Ära? Ja, selbstverständlich, das ist die Erklärung. Es ist also eine Form von verzweifeltem Humor, manchmal irrigerweise auch Galgenhumor genannt, mit dem Rubinowitz seine scheinbar so erfolgreichen Schleifen durch die Medien zieht. Sein Lachen über den Sieg in Baku muß man sich wie ein nach Außen gewendetes Weinen vorstellen.
Gott würfelt nicht, heißt es bei Einstein, und bei Tex könnte man hinzufügen: dann tut er es halt aus Spaß.
Foto: So wurde um 0.43 Uhr nachts in Wien der Sieg des aserbaidschanischen Duos gefeiert.