Kreuzberg ist auch nicht mehr, was es mal war. Wenn man sich den umstrittenen Beitrag des ZDF-Magazins „Aspekte“ anschaut, ist es geradezu rührend: Im Wesentlichen scheint die Anbieter und Besucher des „Türkenmarktes“ am Maybachufer trotz des medialen Aufgebots der prominente Besuch von Thilo Sarrazin kaum zu interessieren, einige bemühen sich nach expliziter Ansprache, ihre Verärgerung durchaus argumentativ darzulegen, um sich von Sarrazin mit dem immergleichen „Das habe ich nie gesagt“ oder „Haben Sie mein Buch überhaupt gelesen?“ abbügeln zu lassen. Exemplarisch folgender Dialog:
Türke: Was wollen Sie denn ändern? Die Ausländer bemühen sich doch schon. Haben Sie mal gesehen, wie viele Deutsche betteln? Haben Sie hier einen Ausländer betteln sehen?
Sarrazin: Es geht doch nicht um Ausländer. Ich habe übrigens nie von Ausländern gesprochen.
Zuhörender Pole: Sarrazin hat recht. Ich bin ja selber Pole.
Türke: Aber allgemein. Araber oder Türke, Polen
Sarrazin: Polen sind anders als Türken und Araber. Sie sind nicht aggressiv; Polen beziehen weniger Hartz IV und machen mich nicht beleidigt an wie Sie.
Dafür bleibt der türkische Mann fast bewundernswert gelassen. Was Sarrazin nicht davon abhält, sich bei der Reporterin hinterher zu beschweren: „Das Beleidigtsein des Orientalen ist eine Kampfhaltung, mit der er unangenehme Diskussionen wegwischt.“
Dann tauchen zwei Kreuzberger Ureinwohner auf, ein junges Pärchen, und es kommt zum Äußersten: Sie rufen irgendwas in Richtung „Nazis raus“ und der Hänfling reckt sogar mal das Fäustchen in die Luft dabei. Das ist dem Besitzer des türkischen Restaurants, in den Sarrazin nun gegangen ist, zwar erkennbar lästig, dennoch spricht er weiter ausgesucht höflich mit dem Ex-Senator. Sarrazin selbst schreibt dazu später in der Welt: „Wir begannen ein höfliches Gespräch über die Restaurants und Hotels der Familie Aygün, aber das Gebrülle draußen und der wachsende Menschenauflauf, aus dem der schreiende Mann mit der Sonnenbrille immer mehr Unterstützung erfuhr, konnten nicht ignoriert werden.“ Im Film nun sieht man den Menschenauflauf recht deutlich, und die Autorin des Films benennt ihn sogar präzise: „zwei Passanten“. Zwei Passanten, die „Nazis raus“ rufen, ein paar eher unentschlossen mal kurz guckende Vorbeigehende, das reicht für Sarrazin schon aus, um sich „wie ein geprügelter Hund davongejagt“ zu fühlen. Der Mann muss wirklich tierlieb sein. Und ein echtes Sensibelchen.
Ähnliches wiederholt sich abschließend, als Sarrazin und die Film-Autorin die alevitische Gemeinde besuchen wollen. Dort stehen einige Mitglieder vor der Tür herum und können offenbar nur schwer ihren Reflex unterdrücken, den Bestsellerautor ein bisschen aufmunternd zu knuddeln, während sie in äußerst wohlgesetzten Worten vom Blatt vorlesen, warum sie es jetzt doch keine so gute Idee mehr finden, jemand, der sie in millionenfacher Auflage als Bedrohung für die Zukunft Deutschlands und als genetisch bedingte Deppen diffamiert hat, nun auch noch ein inszeniertes Forum für ein paar Sekundenschnipsel in einem Fernseh-Magazinbeitrag zu bieten. Das ist alles. Wie gesagt, Kreuzberg ist irgendwie auch nicht mehr, was es mal war.
Geradezu herzzerreißend ist die Reaktion Sarrazins, sicherheitshalber Tage vor Ausstrahlung des Aspekte-Beitrags in der „Welt“ veröffentlicht, ehe sich versehentlich jemand selbst ein Bild machen konnte. Er schreibt: „Ein verdienter ehemaliger Berliner Senator“, damit muss er wohl sich meinen, und kein Redakteur redigiert ihm das raus, „Ein verdienter ehemaliger Berliner Senator, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen, außer ein Buch mit unwillkommenen Zahlen und deren Analyse zu schreiben, wird aus einem zentralen Berliner Stadtteil, der nach eigenem Selbstverständnis die Speerspitze der Integration in Deutschland darstellt, förmlich herausgemobbt.“
Henryk M. Broder springt dem geprügelten Hund bei und vergleicht nach dem Nicht-Ereignis in Kreuzberg prompt mit den „No go Areas“ in Ostdeutschland: „Es ist still geworden um die sogenannten national befreiten Zonen im Osten der Bundesrepublik, von deren Betreten man Menschen mit dunkler Hautfarbe, Rastalocken oder einfach einem „undeutschen“ Aussehen abraten musste“, aber: „In jedem Fall scheint das Beispiel inzwischen auch im Westen Schule zu machen, mitten in Berlin, im multikulturell aufgekratzten Kreuzberg, dem Utopia der alternativen Subkultur, die sich von der Gesellschaft abgespalten hat, um ein selbstbestimmtes, von ökonomischen Zwängen befreites Leben zu führen.“
Abgesehen davon, dass es interessant wäre zu erfahren, wie sich das selbstbestimmte Kreuzberg von der Gesellschaft und den ökonomischen Zwängen befreit hat – etwa durch das eifrige Packen von Obst- und Gemüsekisten, wie im „aspekte“-Film zu sehen? Abgesehen davon jedenfalls ist man ja doch etwas verwundert über den Analog-Schluss. Womöglich hat man sich ja ein ganz falsches Bild über den Umgang der Nazis mit Undeutschen gemacht? Vielleicht haben die den Dunkelhäutigen auch immer nur in wohlgesetzten Worten Erklärungen vom Papier vorgelesen, in denen sie begründen, warum sie sie nicht in ihre Kameradschaftsheime hineinlassen? Und die haben sich in der Verzweiflung darüber anschließend selbst erschlagen?
Aber immer, wenn man denkt, noch dümmer kann es ja wirklich nicht gehen, kommt Vera Lengsfeld daher und belehrt uns eines Besseren. Noch nach der Ausstrahlung des Films schreibt sie vom „Besuch Thilo Sarazzins, der wegen tätlicher Haßattacken auf den ehemaligen Finanzsenator abgebrochen werden musste.“ Dabei kann jeder sehen, dass die beiden Kreuzberg-Abenteuertouristen alle geplanten Stationen ihres Besuchs vollständig und unversehrt abfahren konnten, nur, dass sich die Kreuzberger eben dabei nicht so geäußert haben, wie Herr Sarrazin sich das womöglich gewünscht hat. Sondern, einfach so und ganz unangemeldet, eine eigene Meinung haben zu jemand, der von genetischen Unterschieden zwischen den Rassen predigt, von der Gefahr, die durch die Massenvermehrung der falschen Rasse ausgeht, und die ihn deswegen einfach so als Rassist bezeichnen. Weshalb, so Vera Lengsfeld, „die Kreuzberger Intoleranz einen neuen Höhepunkt erreicht hat“. Vielleicht, so überlegt sie, sollte der Film ja nur zeigen, „wie weit die Kreuzberger Szene bei der Unterdrückung von Meinungsfreiheit zu gehen bereit ist“ und schlussfolgert: „Aus geschichtlicher Erfahrung wissen wir, dass, wenn der Mob erst mal in Schwung gekommen ist, er kein Halten mehr kennt.“ Kurzum: Es herrscht, so die Überschrift ihres Beitrags, „Finsterstes Mittelalter in Kreuzberg“.
Das schreibt sie im Blog „Die Achse des Guten“, zwischen all den anderen Einträgen über Gutmenschen, Linksfaschisten, Linksgrüne, Linksreaktionäre Faschisten und natürlich immer wieder die 68er, die Multikulti-Träumer, die links gesteuerten Mainstreammedien und natürlich dem obsessiven Gefasel von der Islamisierung Europas.
Sie schreibt das am Freitagnachmittag um 15.32 Uhr. Ziemlich genau zeitgleich, als in Oslo die Bombe von Anders Bervick hochging. Etwa eine Stunde, nachdem dieser Bervick ein 1500seitiges „Manifest“ verschickt hatte, indem er kumulativ die Inhalte von Sarrazins Schriften, Teilen der „Achse des Guten“ und vor allem ihrer Klartext-Fanboys von „Politically Incorrect“ sowie all den anderen für die Meinungsfreiheit streitenden Freidenkern wiedergegeben und seine ganz eigenen Schlüsse daraus gezogen hat.
Man darf gespannt sein, ob Thilo Sarrazin nun gegen den Jungschriftsteller Anders Bervick eine Plagiatsklage anstrengen wird. Zumal der sein Manifest einfach so umsonst ins Netz gestellt hat und damit den ganzen Markt kaputt macht. Da nutzen dann am Ende auch alle PR-Aktionen wie Besuche von Türkenmärkten und No-go-Stadtbezirken nichts mehr.