Der Illusionismus, das künstlerische Spiel mit fantastischen Wirklichkeiten, ist sicher älter als das Barock. Natürlich war die Fortsetzung der Architektur in Gemälden, wobei das Gemalte unmerklich in plastischen Stuck überging, ein Hauptanliegen der Barockmalerei. Schliesslich versuchte man damit, dem bereits halb aufgeklärten Menschen die Beschränktheit der menschlichen Sinne vor Augen zu führen; man sollte nicht nur seinen Augen trauen – sondern die substanzielle Existenz eines Übersinnlichen anerkennen.
Beindruckende optische Effekte sind wohl eines der älteste Themen der bildenden Künste überhaupt. Ob nun durch die Führung des Blicks der Betrachter in ein Gemälde hineingezogen wird, oder die äussere Wirklichkeit täuschend echt auf einem Bildträger nachgebildet ist – perspektivische Raumillusion, vorgetäuschte Dreidimensionalität, hyperreale Dekoration, ja sogar verborgene Geometrien – das alles findet sich schon in der von den Autoren des Barockzeitalters viel geschmähten Gotik.
St. Stephan zum Beispiel, dieser Paradefall eines gotischen Doms, ist reich an Illusionsarchitektur. Das beginnt mit der Fünfgliederung der Westfassade, die dem durch das Riesentor Eintretenden einen fünf- und nicht einen dreischiffigen Kirchenraum erwarten lässt. Es setzt sich im Inneren fort mit der Figurenausstattung an den Säulen, die sich exakt auf der Höhe der Fürstenempore befindet (was dem Fürsten einen imaginären Heiligenschein andichtete). Selbst das Dekor des berühmten Südturms ist so raffiniert angelegt, dass man vom Boden aus ab etwa der Mitte des Bauwerks nicht mehr mit freiem Auge auszumachen vermag, welches Steinwerk nun eine tragende Funktion hat und welches nur der höheren Ehre Gottes dient.
Soweit zum überzeitlichen Phänomen des Illusionismus in der Kunst. Erstaunlicherweise finden sich Illussionismen aber auch in der Natur. Bei meinem ersten Nacht-Trekking im madegassischen Dornenwald scheuchte ich davor zurück, Makis auf den Bäumen mit der Taschenlampe länger als zwei Atemzüge lang anzuleuchten. Ich fürchtete, sie mit meinem Lichtstrahl zu blenden. Erst später erfuhr ich, dass hinter der Netzhaut dieser Baumbewohner eine reflektierende Schicht sitzt, die nicht absorbiertes Licht durch die Sinneszellen zurückwirft. Photonen (Lichtquanten), die nicht in das Auge eingelassen werden, verlassen es wieder in Richtung Lichtquelle und erzeugen so die Illusion einer leuchtenden Pupille.
Das Sehorgan der Makis ist keineswegs das einzige Phänomen dieser Art. Ich will noch von einem zweiten Fall berichten. Ich habe eigentlich kein Lieblingstier, aber wenn ich doch eines nennen muss, sage ich gerne: das Totenkopfäffchen. Dieses Tier ist ein besonders ausdrucksstarker Vertreter des Illusionismus in der Natur. Das Totenkopfäffchen wirkt auf unser Gemüt wie ein aus der Natur ragender Zeigefinger, der die Vergänglichkeit alles Irdischen einmahnt. Das Totenkopfäffchen ist ein lebendes Memento mori in der biologischen Sprache der Fellzeichnung. Dieses kapuzinerartiges Neuwelttier kennzeichnet ein ganz maskenartiges Gesicht, es wirkt in unseren Augen wie eine Allegorie auf die Eitelkeiten des menschlichen Lebens.
Wozu noch Musikinstrumente, wozu Weinkrüge, um sinnliche Genüsse zu symbolisieren? Wozu Uhren, gelöschte Fackeln, ausgeblasene Lampen, um darzustellen, dass Reichtum, Wissen, Macht und Vergnügen vergänglich sind und wir eines Tages sterben müssen? Hier bitte hüpft ein kleiner Knochen-Kerl quietschlebendig von Ast zu Ast, er kaut begeistert an Trauben oder zupft sich selbstvergessen den Bart.
Sicher: Das Totenkopfäffchen kann nichts für meine Projektionen (Gegenfrage: Was kann ich dafür?) – Das Totenkopfäffchen trägt die Nasenlöcher seitlich und ist von Natur aus weitsichtig. So entgeht ihm zumeist die melancholische Stimmung, die mich bei seinem Anblick beschleicht.
Das Totenkopfäffchen besitzt – man staune – im Verhältnis zum Körpergewicht das grösste Gehirn aller Primaten. Soll es mir deshalb mehr bedeuten als andere Affen? – Nein, sage ich, diese Kreatur ist ein gewöhnlicher Allesfresser, sie wird in der Regel nach zehn Monaten selbstständig, sie lebt in Verbänden von 500 Artgenossen und reibt sich zum Wiedererkennen das Fell mit dem eigenen Urin ein. Darüber hinaus ist wissenschaftlich nichts an ihm festzuhalten.
© Wolfgang Koch 2009