Es war wirklich ein heißer Tag gewesen, und der gepflegte Herrenspaziergang, der uns auf dem Rückweg vom Spielplatz am Arnswalder Platz in einem weiten Bogen über Friedrichshain wieder zurück nach Hause in die Kastanienallee bringen sollte, strengte uns zusehens an. Vor allem Dr. Reiber spürte nun sein Alter. Erst vor wenigen Wochen hatte er in dem Lokal ´Weltempfänger´ seinen 35. Gegurtstag gefeiert.
„Ich gehe nun auf die 40 zu, und weiß der Himmel, ich merke es!“
„Ach, du bist doch erst gefühlte 32, wenn das Wetter mitspielt und die Knochen nicht vom Rheuma geärgert werden.“
„Ja, wenn´s warm ist wie heute, kann einem wenigstens die Gicht keinen Streich spielen.“
Mit einem Ächzen humpelte er weiter. Dabei hatte er sogar eine Freundin. Die durfte solche Ausfallerscheinungen natürlich gar nicht sehen. Vor ihr spielte er immer noch ´den jungen Mann´, was ich aber gut verstand, denn ich tat es bei schönen Vertreterinnen der Facebookgeneration ebenso; das heißt, ich gab mich fit wie ein potentieller Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten. Jackett aus, Oberhemd weit aufgeknöpft, rauhe Stimme, geballte Faust. Da steckte noch Kraft drin, im aktuellen Lottmann. Ich erzählte es meinem Männerfreund, also daß Opel gerettet werden müsse, und dass ich das der jungen Generation auch sagen würde, gerade auch den attraktiven jungen Frauen, die ja Familie und Opel unter einen Hut zu bringen hätten.
„Auch Bini?“ fragte Cornelius etwas zu scharf zurück.
„Was willst du damit sagen?“
„Du weißt doch genau, was ich damit meine. Es war säuisch, wie du dich der jungen Frau gegenüber verhalten hast. Ich bin dein Freund, sonst würde ich nicht mehr mit dir hier spazierengehen. Aber schwer fällt es mir schon.“
„Aber ich habe doch schriftlich alles erklärt. In diesem ´taz´-Block. Hast du das gar nicht gelsen?“
„JEDER hat das gelesen. Es war so eine ´Rette-mich-Aktion´. Total peinlich. Hat alles nur noch schlimmer gemacht.“
„Versteh´ ich nicht.“
Er versuchte, mich noch einmal und umfassend ins Bild zu setzen. Neue Argumente konnte ich dabei nicht erkennen. Aber ich begriff wohl, daß die Menschheitsgeschichte in zwei Teile zerfiel: in die Zeit bis zur Googlefähigkeit von Personen, und in die Zeit seitdem. Wir lebten im zweiten Teil der Menschheitsgeschichte. Man konnte uns googeln. Gerade wir Deutsche mit unserer merkwürdigen Fixierung auf das Stasiphänomen waren nun im gefühlten totalen Überwachungsstaat angekommen, in George Orwells ´1984´, wo ein Mensch, dessen Name einmal im Netz auftauchte, verloren war. Ich schüttelte den Kopf, mußte es aber akzeptieren. Ich wollte nicht meinen letzten Freund verlieren. Ich entschuldigte mich vorsichtshalber noch einmal, denn wir lebten nicht nur in der gefühlten Stasi-, sondern auch der realen Entschuldigungsgesellschaft. Ich sagte also:
„Cornelius, es tut mir leid, was da mit der Bini passiert ist, und wenn ich dabei die Gefühle von Angehörigen und Freunden verletzt haben sollte, so entschuldige ich mich dafür.“
Aber Reiber war nicht so schnell zu besänftigen. Dazu ging es dabei einfach um zuviel:
„Entschuldigen! Du machst mir Spaß! Und das arme Mädchen wird derweil zur Projektionsfläche von… sexuell perversen Phantasien von… aufgegeilten, äh, notgeilen Männern, Wichsern, Internet-Usern aus… allen Schwellenländern dieser Erde! Von Millionen, von MILLIARDEN! Schon mal darüber nachgedacht, wieviele Männer inzwischen Zugang zum Internet haben?!“
„Aber Cornelius, warum sollten sie denn gerade das völlig harmlose Bild von der guten Bini angucken?“
„Es geht um die MÖGLICHKEIT, du Schlafmütze, um die potentielle Potentialität, wie es bei Lacan heißt, die diese notgeilen Typen haben.“
„‚Notgeil‘, was ist das eigentlich? Was ist bloß der Unterschied zu ‚geil‘?“
„Das ist, wenn diese Leute dieses schöne Gesicht, von der Bini, diese kleine Nase, diese… süßen Grübchen…“
Er schnaufte und kam nicht weiter. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Ich half ihm.
„Ach, Cornelius! Natürlich hat sie was Nettes, die junge Bini. Aber das Foto war doch alles andere als aufreizend oder, wie sagst du?, aufgeilend. Sondern im kalten Februar auf dem Hackeschen Markt aufgenommen, von mir selbst, mit meinem wackeligen Fotohandy. Bini war bis zur Nase mit Mantel und Schal bedeckt, fast wie eine Araberfrau!“
„Das kümmert die wenig, die Araber.“
„Nein, Cornelius, nein. Außerdem war das Foto nur wenige Stunden im Netz. Noch am selben Tag hat der ‚taz‘-Blockwart den ganzen Beitrag samt Fotos gelöscht, nach den Protesten überall. Daher – aus die Maus!“
„Bist du eigentlich WAHNSINNIG? Das Internet vergißt nie! Hörst du – NIE!! Das Internet vergißt nicht, niemals, nicht bis zum Jüngsten Tag, das ist doch gerade der Unterschied zu Archiven wie der Birthler-Behörde oder anderen Geheimdiensten! Sag, mal, in welcher Welt lebst du eigentlich?!“
Er hatte mich an den Schultern gepackt und schüttelte mich, wobei er nochmal, mit aufgerissenen Augen, rief, das Internet vergesse nie.
„Ja, davon habe ich auch schon gehört. Warum eigentlich?“
„Weil – irgendwer hat es sich runtergeladen und wird sich wahrscheinlich gerade jetzt, während wir hier dumm rumlabern, einen darauf runterholen! Vielleicht sogar ihr Chef, bei dem sie sich womöglich um eine Stelle beworben hat!“
„W- wie soll denn gerade ihr… ihr Chef… also, wie das denn nun wieder? Wie soll denn das technisch gehen, wenn das Foto gelöscht wurde?“
Reiber sah mich an, als hielte er mich nun WIRKLICH für geistig behindert. Er quetschte hervor:
„Wenn’s einer runtergeladen hat, kann er’s auch wieder ins Netz stellen!“
Ich gab ihm recht. Es war technisch möglich (*). Und ich lebte noch in der Welt vor der Googlefähigkeit der Menschen. Ich sprach ruhig auf ihn ein. Obwohl er, mein Freund Cornelius Reiber, auf der richtigen Seite stehe, möge er mit mir gnädig umgehen, denn:
„Wie auch immer: Daß unsere heutigen Mitmenschen in einem Bewußtsein leben, das so ist, wie du es gerade beschreibst, ein Bewußtsein der realen Verfolgung, finde ich nun doch auch abscheulich. Wie muß es in den Köpfen der jungen Leute bloß finster aussehen!“
„Auch der alten Leute, du Neandertaler.“
„Maxim Biller denkt bestimmt nicht so.“
Dr. Reiber sah mich kurz und haßerfüllt an, verkniff sich aber jede (möglicherweise weltanschauliche) Erklärung dafür, daß ausgerechnet Maxim Biller hier ein abweichendes Verhalten zeigte. Mit einer schroffen Handbewegung machte er klar, daß das Thema ´Bini´ für ihn nun erledigt sei. Kein Wort mehr über die 24jährige, die es schwer genug hatte!
Es war gar nicht leicht, wieder auf normale, freundliche Gesprächstemperatur zu kommen. Ich versuchte es mit Fußball; damit kommt man bei jedem Deutschen gut an:
„Wird denn Barca gewinnen am Mittwoch, oder Manchester United?“
„Oh, ich bin ein großer Freund von Lionel Messi…“
Nun ging es wieder. Messis Werdegang, den mir mein letzter Freund nun darlegte, war wirklich interessant. Der große Fußballstar war abnorm kleinwüchsig gewesen als Kind, und bereits auf eine Sonderschule abgeschoben worden. Erst nach der Pubertät bekam er noch einen völlig unerwarteten Wachstumsschub, und nun war er fast schon so groß wie Diego.
Wir unterhielten uns noch lange über Messi, Diego und vor allem Christiano Ronaldo, bis wir uns mit dem Versprechen verabschiedeten, beim Spiel am Mittwoch aneinander zu denken.
(und Schluß)
P.S.:
Ja, ich habe das nachgeprüft. Ein Artikel von mir, der in der WamS online erschien und dann durch eine Intervention Volker Hages gelöscht wurde, kann durch einen einzigen User, der ihn zufällig downgeloaded hat, wieder zum Internetleben erweckt werden (und dann ewig weiterleben). Du kannst es selbst ausprobieren:
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