Das war ein Osterfest, mein lieber Schwan! Ostern in der deutschen Hauptstadt. Das ist wie eine Woche mit dem Team „Ärzte ohne Grenzen“ im Herzen Somalias. Ständig muß man Einsätze mitmachen, wird irgendwohin gerufen, soll Not lindern, muß depressiven Freunden helfen und so weiter. Ich war von Freitag Mittag an immer wieder mit meinem kleinen, länglichen Lederkoffer unterwegs. Allen Leuten ging es schlecht. Längst sind die großen kollektiven Freuden- und Feiertage große kollektive Paniktage geworden. Das heißt, die Panik steckt alle an. Also die Angst, die Beklemmung, die Depression. Ganze Nächte verbrachte ich geduldig am Bett irgendeiner guten alten Freundin, aus der die Ängste in immer neuen, uneindämmbaren Schüben hervorbrachen, die beruflichen Ängste, die Verlassensängste, die Angst, häßlich zu sein, nicht mehr geliebt zu werden, auf dem sexuellen Markt nicht mehr konkurrenzfähig zu sein. Am Ende half nicht einmal mehr die Spritze, die ich, sehr sparsam dosiert, für solche Fälle in meinem Arztkoffer habe, neben den kleinen grünen Pillen aus der Republik Tschechien. Aber die anderen Freunde und Bekannten waren kaum solider…
Die meisten hatten Berlin natürlich verlassen. Also, den freigewordenen Parkplätzen nach zu urteilen, etwa 70 Prozent der Bewohner. Die oberen sozialen Schichten verschwanden in toto. Die Politiker, Unternehmer, Angestellten, Künstler, Journalisten, Studenten. Die Jugend fuhr zurück nach Baden-Württemberg und Stuttgart. Zurück blieben Gestrandete, Leute, vor denen man sich fürchtete. Menschen, die nicht einmal mehr das Geld für eine rettende Bahnkarte in den Westen besitzen. Das sind in gewisser Weise dieselben Armen, die in New Orleans nicht vor „Kathrina“ flüchten konnten und auf den Dächern ihrer abgesoffenen Häuser stehengeblieben waren… Ich habe diese Kreaturen gesehen, ich war bei ihnen geblieben, wie John Rabe bei seinen Untergebenen in Shanghai. Ich habe sie beobachtet und mit der Kamera festgehalten. Ich habe mir Notizen gemacht.
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