Anastácio Peralta ist Sprecher der Guarani-Kaiowá in Brasilien. Derzeit ist er in Europa auf Rundreise, um über die Verteidigung indigener Landrechte gegen mächtige Interessen der Agrarindustrie zu informieren. Mit ihm sprach für Neues Deutschland Martin Ling.
Brasiliens Präsident Lula wird von fast allen Beobachtern ein exzellentes Zeugnis für seine achtjährige Regierungszeit ausgestellt, die im Januar endet. Wie stellt sich seine Bilanz aus indigener Sicht dar?
Unser Leiden begann nicht mit Lula. Unsere Unterdrückung begann vor mehr als 500 Jahren. Eroberung und Gründung Brasiliens zielten nicht darauf, denen zu nützen, die schon dort waren – weder den Ureinwohnern noch den Tieren oder der Natur. Brasilien hat von Beginn an eine Politik ohne Rücksicht auf die Völker betrieben, die schon dort lebten. Die Idee war, dass es irgendwann keine Indianer mehr geben sollte. Sie haben uns die Zweige abgeschnitten, sie haben die Stämme verbrannt, aber es ist ihnen nicht gelungen, unsere Wurzeln zu zerstören. Sie haben sich in uns getäuscht. Wir haben für unsere Rechte gekämpft, vor allem seit den 70er Jahren. Und mit der Unterstützung nationaler und internationaler Partner haben wir es geschafft, dass unsere Rechte 1988 in der Verfassung festgeschrieben wurden.
Die Verfassung von 1988 war ein großer Fortschritt – auf dem Papier. Wie steht es um die Realität?
Der Kampf darum, die Rechte in die Realität umzusetzen, geht seitdem weiter. Das ist sehr schwierig. Vor allem wegen der Mentalität der Politiker in Mato Grosso do Sul, die uns nicht als gleichberechtigte Menschen anerkennen. Für sie ist ein Rind mehr wert als ein Guarani und eine Zuckerrohrpflanze mehr als ein Baum im Wald. Lula bemüht sich. Doch die Gewaltenteilung bremst ihn. Vor allem die Justiz hat Vorurteile. Sie ist gegen die Indigenen voreingenommen und verhindert, dass unsere Territorien demarkiert werden. Nur ausgewiesene Gebiete bieten einen relativen Schutz gegen Landnahme. Auch wenn wir unsere Rechte auf dem Papier haben, hat es Präsident Lula nicht geschafft, sie in die Tat umzusetzen. Selbst wenn wir uns bilden, zur Universität gehen, studieren, nützt uns das wenig, wenn wir kein Land mehr haben, um darauf zu leben. Wir müssen die Mentalität in den Institutionen in unserem Land verändern, denn die ist noch immer dieselbe wie vor 500 Jahren.
Sie haben sich mit Lula letztes Jahr mehrfach getroffen. Nimmt er die Probleme der Indigenen wirklich ernst? Er gilt ja auch als Befürworter großer Infrastrukturprojekte wie des umstrittenen Staudamms Belo Monte.
Das Problem mit Lula ist, dass seine Politik auch auf Monokulturen setzt. Lula führt zwar den Dialog mit uns, aber es gelingt ihm nicht, die Probleme zu lösen. Das liegt nicht in erster Linie an Lula, sondern vor allem am nationalen Parlament. Und noch wesentlicher sind die bundesstaatlichen Parlamente und die lokalen Politiker, die die Umsetzung der indigenen Rechte hintertreiben.
In Mato Grosso do Sul sind die lokalen Politiker eng mit der Agrarindustrie verbunden. Sie haben kein Interesse an der Demarkierung der indigenen Territorien, weil es ihren eigenen Profitinteressen zuwiderliefe. Und das größte Hindernis ist die Justiz: Dort reichen Großgrundbesitzer Beschwerden ein und die voreingenommenen Richter entscheiden häufig zu ihren Gunsten und stoppen so die Demarkation. Das ist Unrecht.
Welche Rolle spielt die Ausweitung der Agrotreibstoff-Produktion bei den Landvertreibungen?
Die Landvertreibungen begannen einst mit der extensiven Viehwirtschaft. Ab den 70er Jahren kam die Sojaproduktion dazu und seit etwa zehn Jahren wird in Mato Grosso do Sul verstärkt Zuckerrohr für Agrotreibstoff angebaut. Teilweise werden die Zuckerrohrpflanzungen sogar auf bereits als indigenes Territorium markiertem Gelände widerrechtlich angelegt. Das Argument der Pflanzer ist: Ihr Indigenen braucht kein Land, weil ihr eh nichts produziert. Wir produzieren anders, nur für unsere Bedürfnisse, nicht für den Profit. Die Agroindustrie verfügt über bewaffnete Milizen. Das führt dazu, dass die mit der Demarkierung betrauten Arbeitsgruppen der Indianerbehörde FUNAI nur noch mit Polizeischutz arbeiten können, weil sie von den Pistolenmännern bedroht werden. Und letztes Jahr wurden zwei unserer Lehrer ermordet. Derzeit gibt es 11 Zucker- und Ethanolfabriken in unserer Region. Weitere 40 sind geplant, auch auf traditionellem Guarani-Land.
Welche Rolle spielen ausländische Unternehmen?
Seit einigen Jahren gibt es im Ethanolsektor zunehmende Aufkäufe durch ausländische Unternehmen. Die Wirtschaftsmacht konzentriert sich mehr und mehr in den Händen bestimmter Wirtschaftsgruppen. Zu den Hauptakteuren unter den ausländischen Investoren gehören die französischen Konzerne Louis Dreyfus und Tereos, der US-Agrokonzern Bunge und der indische Zuckerproduzent Shree Renuka. In Mato Grosso do Sul stellen ausländische Unternehmen 65 Prozent des Kapitals im Ethanolbereich.
Worin besteht der Zweck Ihrer Reise durch Europa?
Wir wollen über unsere Situation aufklären. Wir sprechen über unsere Gefühle, unsere Schmerzen, unseren Ärger. Wir haben zwar unser Land verloren, aber nicht unsere Kultur, unsere Identität, unsere Sprache unsere Gesänge, unsere Poesie. Das ist Teil des Weltkulturerbes. Das muss bewahrt werden. Deswegen bitten wir um Unterstützung auf internationaler Ebene. Wir sind auch Kinder Gottes.
Was erwarten Sie von Ihrem Aufenthalt?
Wir hoffen, dass europäische Regierungen Brasiliens Regierung auf die Probleme ansprechen und sie dafür kritisieren. Vielleicht ist Europa sogar dazu bereit, indigene Organisationen finanziell zu unterstützen, damit sie ihren Kampf um den Erhalt der Natur fortsetzen können. Wenn wir die Natur nicht schützen, wird es eines Tages kein Leben mehr auf unserem Planeten Erde geben.
Survival International hat zwei neue Kurzfilme über die Notlage der Guarani-Kaoiwá veröffentlicht, „Mit Waffen“ und „Man muss Mut haben“.