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Jetzt ist die hohe Zeit der Drosophila – aber schon fast wieder vorbei. Dennoch klagte Wladimir Kaminer kürzlich noch: „Die Fruchtfliegen gingen in den letzten Wochen vielen auf den Geist, mit ihrer hektischen Rumfliegerei. Sie waren überall, in der Küche, auf dem Bildschirm, im Bad und auf der Toilette. Sie schwammen in jedem Glas Bier, Wein und Cuba Libre, das man bestellte, man konnte weder Fruchtiges noch Alkoholisches zu sich nehmen, ohne dabei mindestens zwei Fruchtfliegen mit zu verschlucken. Sie waren penetrant und ekelhaft. Trotzdem sind meine Hände sauber geblieben, ich habe mich mit den Fruchtfliegen nicht angelegt, ich habe keine einzige von ihnen umgebracht. Ich konnte gut nachvollziehen, warum sie so nervös waren. Ihre Lebenserwartung ist nämlich zum Durchdrehen kurz, jeder würde in einer solchen Situation ins Glas fallen.“
Ähnlich äußerte sich wenig später – in einer taz-Küchen-Kolumne – auch Arno Frank: „Als ich mich unvorsichtigerweise zum Altglas bückte, steckte plötzlich mein ganzer Kopf in einer dichten Wolke aus Fruchtfliegen bzw. Essigfliegen bzw. Taufliegen, dem Schrecken aller Hausfrauen – und Traum aller Genforscher, weil kaum ein Lebewesen schneller mutiert als die den „Tau“ (drosos) „liebenden“ (philos) drosophilidae. Neuerdings können die Viecher beim Fliegen in regelmäßigen Abständen ihren Rüssel ausstrecken und so Zusatzluft aus Hohlräumen im Kopf in ihre Atemorgane pumpen – sie sind die Turbolader der Evolution. Ich musste also handeln. Aber womit? Chemie? Hygiene? Nein, ich kann einer Fliege einfach nichts zuleide tun.“
Zuletzt klagte auch die an sich in biologischer Hinsicht neugierige Ethnologin Stefanie Peter – am Telefon: Die Fruchtfliegen säßen überall bei ihr in der Wohnung – auf der Marmelade, an gebrauchten Messern und Gabeln usw… Und es gäbe verschiedene Arten – mit unterschiedlich gefärbten Flügeln, Leibern etc..
Das können entflogene Individuen aus den Mutationsstämmen des Genetischen Instituts der FU in Dahlem sein, vermutete ich. Und dachte dabei an mein eigenes Tun: Ende der Siebzigerjahre hatte ich einem Freund, den Biologiestudenten Dieter Lotze, der jetzt Touristenresort-Photograph auf Bali ist und glücklich verheiratet, bei der Abfassung seiner Biologiediplomarbeit geholfen: Sie bestand darin, dass er Drosophila züchtete, die er mit Röntgenstrahlen bombardierte – auf das irgendetwas in ihren Keimzellen derart zerstört wurde, das ihre Nachkommen mit einer Anomalie – z.B. ein Bein am Kopf anstelle eines Fühlers – geboren wurden, die sie dann ihrerseits vererbten. Wenn es dem Diplomanden gelingt, diese Mutanten weiter zu züchten – bis man von einem ebenso stabilen wie reinen neuen Stamm sprechen kann, dann bekommt dieser den Namen des Diplomanten. Das ist dort so üblich. Gut möglich also, dass es sich bei den Fruchtfliegen in der Kreuzberger Wohnküche von Stefanie Peter um „drosophila lotze“ handelte. Aber tausend andere Diplomantennamen sind auch möglich. Ich half Dieter Lotze damals nur beim Aussortieren von unfruchtbaren Drosophilamännchen, die ich mit der Pinzette in Äther tunkte – und somit ausselektierte. Sie waren so voller winziger Milben (die man nur unterm Stereomikroskop sah), dass ihre Geschlechtsorgane damit bedeckt waren und sie sich nicht mehr vermehren konnten. Hätten sie überhand genommen, wäre der Stamm ausgestorben – noch bevor man ihn nach Lotze hätte benamen können. Und mit seiner Diplomarbeit wäre es auch Essig gewesen. Die Milben hätten im übrigen, so erklärte mir Dieter, ebenfalls unter Milben zu leiden – unter noch winzigeren. Um sie zu sehen, bräuchte man jedoch ein leistunsstärkeres Mikroskop. Ich bekam aber auch so eine Ahnung davon, was Leibniz – ganz ohne Mikroskop – meinte, als er schrieb: „Jedes Stück Materie kann wie ein Garten voller Pflanzen und wie ein Teich voller Fische aufgefaßt werden. Aber jeder Zweig der Pflanze, jedes Glied des Tieres, jeder Tropfen seiner Säfte ist wiederum ein solcher Garten oder ein solcher Teich.“
Im Grund wiederholte Dieter Lotzes „Forschungsarbeit“ nur das, was man mit dem armen „Nummer-Eins-Labortier“ Drosophila melanogaster (Schwarzbäuchige Taufliege) schon seit Beginn der genetischen Experimente anstellte. Seine Arbeit war somit auch eine Einführung in Biologiegeschichte. Bei Wikipedia heißt es dazu: „Als geeigneten Versuchsorganismus nutzte die Drosophila 1901 zuerst der Zoologe und Vererbungsforscher William Ernest Castle. Er untersuchte an Drosophila-Stämmen die Wirkung von Inzucht über zahlreiche Generationen und die nach Kreuzung von Inzuchtlinien auftretenden Effekte. 1910 begann Thomas Hunt Morgan ebenfalls, die Fliegen im Labor zu züchten und systematisch zu untersuchen. Seitdem haben viele andere Genetiker an diesem Modellorganismus wesentliche Erkenntnisse zur Anordnung der Gene in den Chromosomen des Genoms dieser Fliege gewonnen.“ Aber Morgans Labor war das erste, in dem Drosophila die Mäuse und Ratten als Versuchstiere verdrängte – und das sich dadurch „zum sogenannten ‚Fliegenraum‘ wandelte,“ wie Benjamin Bühler und Stefan Rieger in ihrem Buch „Vom Übertier“ schreiben. In ihrem Drosophila-Kapitel zitieren sie vorneweg den Biologen Barthelmess: „Es besteht wenig Aussicht, dass jemals ein Objekt gefunden wird, das die Drosophila in der Kombination so vieler günstiger Eigenschaften übertrifft.“ Dadurch transformierte sich jedoch die Fruchtfliege „in ein Laborobjekt, das kaum mehr Ähnlichkeit mit ihrer Wildform hatte.“
Der erste, der die Taufliegen mit Röntgenstrahlen beschoß, um Mutationen „auszulösen“, war der Genetiker Hermann Joseph Muller. Er steckte nicht nur die russischen Genetiker mit seiner Drosophilabegeisterung an, sondern auch Stalin – mit einem eugenischen Plan zur Verbesserung der gesamten Sowjetbevölkerung, denn für ihn stand schon 1935 fest, was später der Genetiker Jacques Monod behauptete – und wofür er den Nobelpreis bekam: „Was für eine Fruchtfliege gilt – gilt auch für einen Elefanten!“ Und damit eben auch für den Menschen. Insofern ist eine Totschlaghemmung gegenüber der Fruchtfliege identisch mit dem „moralischen Gesetz in mir“ (bzw. dem 5.Gebot: Du sollst nicht töten). Drosophilaforschung ist Menschenforschung. Muller diente als nimmermüder Projektemacher in der Folgezeit so ziemlich allen politischen Systemen seinen grandiosen Menschheitsverbesserungsvorschlag an: Samenbänke, deren Spender „hervorragende Eigenschaften des Herzens, des Geistes und des Körpers erwiesen haben“. Damit sollten systematisch alle Frauen beglückt werden: „An die Stelle der Fruchtfliege ist unversehens der Mensch selbst getreten,“ schreiben Bühler und Rieger.
Mehr und mehr nimmt das nun so groteske wissenschaftliche Formen an wie bei dem englischen Biologen John Maynard Smith, den die Royal Society jüngst für seine Forschungen über die Evolution der Sexualität mit der „Darwin-Medaille“ ehrte. Zur Erklärung, warum z.B. bei unserer „sexuellen Selektion“ die Männer zwar um die Frauen kämpfen (konkurrieren), diese dann jedoch ihre eigene Wahl treffen, bemüht Smith den „Tanz der Taufliegen“: Die Drosophila–Weibchen, so fand er heraus, paaren sich nur „mit den gesündesten Männchen“ – und die finden sie beim Tanz. „Dabei passiert folgendes: Das Männchen sieht das Weibchen, nähert sich und tritt ihm gegenüber. Wenn das Männchen dies tut, schießt das Weibchen schnell auf eine Seite, und das Männchen muß ebenfalls zur Seite schießen, um weiter seinem Weibchen gegenüberzutreten. Es kommt zu einem sehr schnellen Tanz, bei dem das Weibchen sich von einer Seite zur anderen bewegt und das Männchen ihm folgt. Gelingt es ihm, dem Weibchen ein paar Passagen langgegenüberzutreten, steht dieses still, und es kommt zur Paarung. Ist das Männchen ingezüchtet oder alt, fällt es zurück und kann nicht mithalten, und das Weibchen fliegt einfach davon. Somit wählt das Weibchen aus, mit welchem Männchen es sich paart; das tut es durch Tanzen, und es zahlt sich durch gesündere Nachkommen aus.“
Auf eine etwas andere, wenn auch vielleicht nicht weniger dumpfe Weise schlägt der englische Biologe Martin Brookes einen kühnen Bogen von der Drosophila zu den Menschen – und zwar über den feinen Geruchssinn der Fruchtfliegen, der sie zu einer geradezu „olfaktorischen Navigation“ befähigt, wobei „der Alkohol zu den wichtigsten Gerüchen im Erinnerungsspeicher der Fruchtfliege“ gehört. Er ist ein Nebenprodukt von faulendem bzw. gärendem Obst, von dem die Fruchtfliegen leben, so daß „das Betrunkensein für sie und andere Obstesser quasi zum Berufsrisiko gehört“. Und demnach, so folgert der Autor, „könnte also auch unser Faible für Alkohol ein evolutionäres Überbleibsel aus der Vergangenheit sein“ – ähnlich wie die Smithsche „Paarungswahl durch den Tanz“ bei den Drosophila, die sich bei uns heute noch in den Diskotheken beobachten läßt, verbunden mit übermäßigem Alkoholgenuß?
Brookes unterscheidet in seinem Buch „Drosophila“ drei „Phasen der Trunkenheit bei der Fruchtfliege“: 1. die „euphorische und ausgelassene, hyperaktive Phase, als nächstes kommt die unkoordinierte Phase, Fliegen wäre zwar noch möglich, aber den Aufwand nicht wert. Und schließlich findet der Zusammenbruch statt – in einer Komaphase,“ da die Fruchtfliege betrunken in den Rotwein oder das Bier (siehe oben) sinkt, wo sie ertrinkt. Die Ähnlichkeiten mit uns sind damit aber noch nicht zu Ende, schreibt der Autor, denn die „Fliegen neigen dazu, genau wie wir bei einer Blutalkoholkonzentration von 0,2 Prozent betrunken zu werden“. Von da aus kommt der Autor sodann auf die Gene der Drosophila und des Menschen zu sprechen, um die Vererbbarkeit von Alkoholismus in bestimmten Familien zu erklären. Man hat dazu eine Reihe von Laborexperimenten angestellt – u.a. um die „Alkoholtoleranz“ von Fruchtfliegen zu testen – bei „normalen“ und bei „mutierten“. Erstere brauchen rund 20 Minuten, um betrunken zu werden, letztere fünfzehn. Sie wurden dann auch „cheapdate“ getauft, weil sie so wenig vertragen. Es ist die Subvariante einer Fliegenmutation, deren „Lern- und Gedächtnisgen“ beschädigt wurde.
Statt der „Paarung durch Tanz“-Forschung referiert Brookes eine Drosophila-Forschung in London, die sich mit der Paarung durch Gesang beschäftigt. Das „Singen“ geschieht mittels Flügelvibrationen: „Im Laufe des Lieds variiert das Männchen sein Lied auf zyklische Art und Weise, beschleunigt, wird langsamer und beschleunigt erneut…Das Lied soll das Weibchen in eine romantische Stimmung versetzen.“ Auch hier haben wir es wieder mit dumpfesten Anthropomorphismus zu tun. „Und so geht es weiter. Noch mehr Gesang, immer wieder Küsse…Die Kopulation bei Fruchtfliegen dauert üblicherweise etwa 20 Minuten.“
Über den Pionier der künstlichen Herbeiführung von Mutationen durch Röntgenbestrahlung, Hermann Joseph Muller, der sie damit zum „Modellorganismus Nummer 1“ machte, schreibt Brookes: „Wären die Fruchtfliegen jemals auf die Idee gekommen, jemanden zu suchen, der schuld war an ihrem erbärmlichen (Labor-) Schicksal, wäre Muller die richtige Adresse gewesen.“ Er war auch die richtige Adresse für die Proteste sowjetischer Frauenverbände, Wissenschaftler und Journalisten, als er Stalin 1935 seinen großen eugenischen Plan zur Massenproduktion des Neuen Menschen vorlegte, den er „Aus dem Dunkel der Nacht“ betitelte: „Viele zukünftige Mütter, befreit vom religiösen Aberglauben, werden stolz sein, ihr Keimplasma mit dem eines Lenin oder Darwin zu mischen, um der Gesellschaft mit einem Kind von ihren biologischen Eigenschaften zu dienen…Echte Eugenik kann nur ein Produkt des Sozialismus sein“.
Nicht nur wurde Mullers „Plan“ verworfen, wenig später wurde sogar die ganze „bürgerliche Genetik“ aus der sowjetischen Forschung verbannt. Stattdessen propagierte man eine auf die Steigerung der Agrarerträge gerichtete „proletarische Biologie“, die eher an Lamarck als an Darwin angelehnt war, wenn ihre Verfechter dabei auch von einem „schöpferischen Darwinismus“ sprachen. Dazu gehörte dann – allen voran – der spätere Landwirtschaftsminister Trofim Denissowitsch Lyssenko. Er bekämpfte die Anhänger des „Mendelismus-Morganismus“ und beschuldigte sie der stupiden und für den Aufbau des Sozialismus gänzlich unnützen „Fliegenbeinzählerei“. 3000 Genetiker verloren ihren Arbeitsplatz.
Einer konnte sich jedoch absetzen – und weiter mit Fruchtfliegen forschen: Nikolai Timofejew-Ressowski, genannt „Ur“. Er tat das am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin-Buch – unter nationalsozialistischer Führung, seine Forschungsergebnisse veröffentlichte er in deren Zeitschrift „Der Erbarzt“. In Buch wurden damals auch Versuche zur Atomkernspaltung unternommen. Ein Atom – ein Gen! Zusammen mit dem Mathematiker Max Delbrück veröffentlichte Timofejew-Ressowski dann „ein Werk über Genmutationen“, schreibt Wikipedia, „in dem sie als erste vorschlugen, Gene als komplexe Atomverbände aufzufassen. Damit begann die moderne Genetik,“ das, was man später „Populationsgenetik“ nannte. Der sowjetische Schriftsteller Daniil Granin schrieb in den Siebzigerjahren einen lobhudelnden Roman über Timofejew-Ressowski, der 1945 erst einmal von der Roten Armee inhaftiert wurde, dann jedoch – zunächst fast heimlich am Ural – wieder eine genetische Forschung etablierte, die zur Keimzelle der neuen sowjetischen Genetik wurde, nachdem man die „proletarische Biologie“ als Irrweg abgetan hatte. Kürzlich wurde ein Labor-Neubau in Buch nach Timofejew-Ressowski benannt.
Die Drosophila-Experimente gingen unterdes in einem „winzigen Heidelberger Labor“ weiter, in dem Christiane Nüsslein-Vollhard und Eric Wieschaus forschen: „Sie wollten Tausenden erwachsenen Fruchtfliegen mutagene Chemikalien verabreichen, in der Hoffnung, ein reichhaltiges Repertoire an Mutationen zu bekommen. Jede einzelne Fruchtfliege würde wahrscheinlich nur eine oder zwei neue Mutationen vorweisen. Aber zusammengenommen ergäbe die Fliegensammlung Mutationen, die den gesamten Gensatz der Fruchtfliege abdeckten. Sie wollten sehen, welche dieser Mutationen ernsthafte Störungen während der Entwicklung verursachte, und hofften, daraus Schlüsse ziehen zu können, was geschähe, wenn alles gut ginge, und somit eine Folge von Entwicklungsereignissen vom Ei bis zum Embryo zusammenstückeln.“ Sie wollten mithin alle Gene identifizieren, die die Entwicklung eines Lebewesens steuern. 1995 bekamen sie für ihre Forschung den Nobelpreis für Medizin und Physiologie.
„Nichts in der Biologie macht Sinn – außer im Lichte der Evolution,“ so hatte es der berühmte russische Morgan-Schüler Theodosius Dobzhansky gesagt, der in den Dreißigerjahren die Arbeit mit der „gezähmten Drosophila melanogaster“ aufgab – zugunsten einer Forschung mit der „wilden Drosophila pseudoobscura“, er verband dabei Feld- und Laborarbeit, d.h. „er kombinierte sowohl Elemente der experimentellen als auch der naturalistischen Tradition und verknüpfte die Genetik mit der Darwinschen Evolution,“ schreibt Bookes, „so trug er mit dazu bei, dass daraus die neue Wissenschaft der Evolutionsgenetik geschmiedet wurde.“
Dennoch geriet die Drosophila damals als „Modellorganismus“, so wie zuvor die Ratten und Mäuse (die nun wieder zunehmen), in den Hintergrund: Während sie im Osten zusammen mit den Genetikern aus den Labors verschwand, wurde sie im Westen von Bakterien und Pilzen verdrängt, aber ihr gelang ein Comeback: „Die Siebzigerjahren waren eine Glanzzeit für die Fruchtfliege,“ schreibt Brookes. Das war auch die hohe Zeit der Drosophilaexperimente an der FU. In England und in den USA ging es dabei u.a. um die Lebensverlängerung – d.h. um die Identifizierung von Genen, die das Altern beeinflussen. Laut Brookes „leben heute die Laborfliegen länger als jemals zuvor und altern dementsprechend mit mehr Würde“ (wieder so ein anthropomorpher Quatsch, der in diesem Fall nicht einmal für Menschen stimmt). Im Durchschnitt leben Fruchtfliegen „etwa 50 bis 60 Tage“. Aber eine kalifornische Züchtung zeigte auch danach noch „keine Anzeichen körperlichen Verfalls. Sie blieb selbst nach 100 Tagen noch topfit“ und konnte auch sehr viel länger ohne Nahrung auskommen, außerdem war sie hitzeunempfindlicher. Der Grund war „eine Mutation in einem einzelnen Gen“ – das dann „Methusalem“ genannt wurde.
Etwa die Hälfte aller auf der Welt vorkommenden Fruchtfliegenarten lebt auf den Inseln von Hawaii, wobei eine „Art“ seit Dobzhansky durch die Möglichkeit ihrer Individuen definiert wird, sich untereinander paaren zu können. Manchmal kann sich eine Drosophila-Art auch – wie bei den Vögeln – durch ihren Gesang definieren – begrenzen. So unterscheiden sich Drosophila melanogaster und Drosophila simulans so gut wie gar nicht körperlich voneinander, es gibt jedoch einen „winzigen Unterschied in ihrem Werbegesang…: „Spielen Sie ein simulans-Lied – Sie werden damit simulans-Weibchen auf Trab bringen, während melanogaster-Weibchen das alles kalt läßt. Wenn Sie aber das Lied ein wenig abbremsen auf einen fetten melanogaster-Groove, können Sie einen Rollentausch beobachten: Die simulans-Weibchen verlieren das Interesse, während die melanogaster-Weibchen allmählich in Stimmung kommen.“ Da sie über ihren Gesang zueinander finden, können die Fruchtfliegen sich auch im Dunkeln paaren – bis auf Drosophila subobscura, die sich dabei auf „visuelle Anhaltspunkte verläßt“.
Vor einigen Jahren ist das Drosophila-Genom „vollständig entziffert“ worden: „alle 180 Millionen DNA-Buchstaben in den 13.600 Genen der Fruchtfliege“. Die Gattung Drosophila hat etwa 1500 Arten, aufgrund ihrer Artenvielfalt wurde die Gattung in diverse Untergattungen aufgeteilt (17 werden in einer Wikipedia-Eintragung aufgezählt). Darüberhinaus gibt es inzwischen eine Reihe von Mutantenstämme, die gewissermaßen standardisiert sind und auch international gehandelt werden: u.a. heißen sie „Chico“, „Shaker“, „Eagle“, „Goucho“ „Van Gogh“ und „Dschingis Khan“. Letztere zeichnet sich durch besonders kräftige Muskeln aus. Fruchtfliegen können innerhalb von 14 Tagen rund 200 Nachkommen zeugen. Wenn alle durchkämen und sich genauso wie ihre Eltern vermehren würden, gäbe es am Ende eines Jahres „eine Billion Billion Billion Billion Billion Billion Billion Fruchtfliegen.“
Bei mir zu Hause in der Küche, wo ich sie mit einer halben Zitrone alle paar Tage das ganze Jahr über halte – damit sie meine vier Pflanzen am Fenster unterhalten (die sonst an völliger sensorischer Deprivation leiden würden), steuer ich das Wachstum des „Schwarms“ durch vorübergehenden Zitronenentzug – und im Sommer schwirren sie sowieso alle draußen herum. Leider habe ich noch nicht herausbekommen, auf welche Entfernung Drosophila Fruchtsäure bzw. Alkohol riechen kann, im „stern“ fand ich dann immerhin schon mal diese Meldung:
„Taufliegen nehmen Gerüche mit zwei Nasen wahr und können so den Ursprung des Geruchs besser finden und sich leichter orientieren. Das haben amerikanische Wissenschaftler bei Experimenten mit Fliegen der Art Drosophila melanogaster herausgefunden. Die Forscher um Matthieu Louis von der Rockefeller-Universität in New York schalteten Geruchsrezeptoren im linken oder im rechten Geruchsorgan am Kopf der Fliegen aus und schauten, wie sich die Tiere in Gegenwart von Duftstoffen verhielten. Wie Menschen ihre zwei Augen und zwei Ohren nutzen, verwenden die Fliegen ihre beiden Nasen, um räumliche Informationen über ihre Umgebung zu erhalten, schreiben Louis und seine Kollegen im Fachmagazin ‚Nature Neuroscience‘.“