Wenige Wochen vor der Bundestagswahl, während das mediale Kandidatinnenflackern schon die Sinne trübte, die Flüsse über ihre Ufer traten und in Kabul das Ende westlicher Interventionen besiegelt wurde, hat die alte Berliner Regierung noch eine Vereinbarung mit der Tschechischen Republik unterzeichnet. Es ging: um einen Fluss.
Die Elbe soll danach ganzjährig für Schiffe befahrbar sein. Deutschland garantiert für den von tschechischer Seite seit Jahrhunderten als Verbindung zum Meer romantisierten Fluss auf den 600 Kilometern deutscher Elbstrecke ganzjährig eine Mindesttiefe von 1, 40 m. Das bedeutet andauerndes Baggern; neben der Beseitigung einiger Hindernisse im Flussbett ist die dauerhafte Unterhaltung der Buhnen erforderlich, jener Steinwälle, die das Wasser in der Mitte des Flusses konzentrieren. Das ökologische Risiko ist beachtlich: Je tiefer sich das Flussbett in die sandige Landschaft der mittleren Elbe einschneidet, desto tiefer sinkt auch der Grundwasserspiegel – Auen, Wälder und Äcker bekommen weniger Wasser. Bereits in den letzten Jahren war der Klimawandel mit immer längeren Dürre- und Niedrigwasserperioden deutlich zu spüren.
Den ökologischen Risiken und ökonomischen Kosten steht in diesem Fall keine Leistung gegenüber. Die mittlere Elbe ist verkehrlich irrelevant, sie ist (anders als die untere, die den Hamburger Hafen anbindet) keine „Schifffahrtstrasse“. Auch mit der Garantietiefe von 1,40 bleibt die Elbschifffahrt eine historische Erinnerung, ein Relikt aus dem 18. und 19. Jahrhundert, als in ganz Europa Flüsse vertieft und Kanäle gebaut wurden, weil nur so schwere Lasten transportiert werden konnten. Mit dem Eisenbahnbau wurden sie überflüssig, heute fahren dort allenfalls schicke Hausboote. Die moderne Schifffahrt benötigt, entsprechend dem Tiefgang heutiger Binnenschiffe, deutlich mehr als 3 Meter – der Rhein-Main-Donau-Kanal etwa ist mehr als 4 Meter tief.
Trotzdem soll, dem Vertrag zufolge, in alle Ewigkeit weiter gebaggert werden, um der garantierten 1,40 Meter willen. Warum? Weshalb verzichtet die Regierung darauf, eine traumhaft schöne Fluss- und Kulturlandschaft mitten in Europa ökologisch zu entwickeln? Das wäre billiger, viele Menschen wären begeistert, es wäre ein Symbol für einen neuen Pakt mit unserer geschundenen Umwelt.
Aber es würde eine Richtungsänderung bedeuten: anhalten, nachdenken, umsteuern. Und dafür fehlt den die Regierung tragenden Parteien die Kraft.
So stehen die Baggerarbeiten an der mittleren Elbe sinnbildlich für den Zustand der Republik am Ende der Ära Merkel. Der Kanzlerin ist es gelungen, die auseinanderstrebenden Bestandteile der deutschen Politik zusammen zu halten, die zwischen Populismus und Liberalität zerrissenen Konservativen, die Sozialdemokraten mit ihrem Festklammern an einem nur für Teile der Bevölkerung errungenen sozialen Status Quo. Angela Merkel war als Person der Kompromiss zwischen den Machtansprüchen der konkurrierenden CDU – und CSU-Fürsten. Ihre Politik bildete, wie Ralf Bollmann in seiner aktuellen Biografie schreibt, die Schnittstelle zwischen Gruppeninteressen. Veränderungen fanden anderswo statt: In einer wachen Gesellschaft, die etwa angefangen hat, Kinderrechte wirklich ernst zu nehmen. Oder durch eine dynamische technische Entwicklung, die die Energierevolution ermöglichte. Und in einer globalen Wirtschaft, die ökonomische Macht digitalisiert und neu verteilt hat.
Politik hieß in der Merkel-Ära, alle mächtigen und öffentlich hörbaren Interessen zu berücksichtigen, oft im letzten möglichen Moment. Politik war das Ausbalancieren von aktuellen Gegebenheiten, also das Gegenteil von vorausschauender Gestaltung. Die Ausnahmen, soweit es sie überhaupt gab, lassen sich an den Händen abzählen. Der Atomausstieg etwa war nur ein Schritt zurück auf den von der Vorgängerregierung gebahnten Pfad. Die Aufnahme der Flüchtlinge im Jahr 2015 sollte verhindern, dass der Zusammenhalt der EU gefährdet wird, nachdem über ein Jahrzehnt hinweg eine europäische Zuwanderungspolitik unterblieben war. Das Management der Euro-Krise versuchte, die ideologischen Ansprüche des überkommenen Bundesbank-Konservatismus mit der internationalen Finanzwirklichkeit zu versöhnen, mit hohen politischen und finanziellen Extrakosten.
Ein handelnder, gar ein planender, proaktiver Staat gehört nicht in das Bild dieser Jahre. Selbst auf die Wahrnehmung einfacher Kontrollaufgaben – ein unverzichtbares Element jeder „sozialen Marktwirtschaft“ – haben die Spitzen-Institutionen in Deutschland verzichtet. Die Liste reicht von der Typzulassung manipulierter Dieselmotoren durch das Kraftfahrbundesamt über betrügerische Finanzunternehmen oder ausufernde Geldwäsche bis zur institutionalisierten Tierquälerei und zu legal-ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in der Fleischwirtschaft – während zugleich ein rechter Verschwörungstheoretiker zum Chef des deutschen Geheimdienstes ernannt wurde. Und in den Merkel-Jahren galt: Was einmal begonnen ist, wird auch dann fortgesetzt, wenn kein Sinn mehr erkennbar ist. So wie all die Straßenbaupläne, von denen niemand weiß, wann sie je zu einem Ende kommen werden, weil es genug Straßen gibt. Oder die Landwirtschaftssubventionen, die seit 70 Jahren kleine Betriebe erhalten sollen und sie stattdessen ersticken. Ein hyperkomplexes, undurchdringliches Weiter-So ist zur politischen Realität der Burn-out-Gesellschaft geworden.
Die bürokratischen Alltagsparadiese gut vernetzter Interessengruppen sind in den Merkeljahren, ob sie schwarzgelb oder mittels Groko regiert wurden, sakrosankt gewesen. Da mischte sich niemand ein, schon gar nicht die Kanzlerin. Entscheidungen, wenn sie denn unvermeidlich waren, wurden in den Fachministerien getroffen, die sich als Vertretung ihrer jeweiligen Klientel verstanden und zuvor so heruntergehandelt, dass sie politisch möglichst risikofrei blieben. Politik hieß, die Veränderung so zu verlangsamen, dass sie nicht mehr spürbar war und niemand einen Nachteil reklamieren konnte.
Der Einbruch der Wirklichkeit ist – als Klimakrise, als Ende der westlichen Intervention in Afghanistan, als Coronapandemie oder als neue Machtverteilung auf den Weltmärkten umso schmerzhafter. Die deutsche Politik ist auf derartige globale Umwälzungen nicht vorbereitet. Ihr Personal ist ausgezehrt. Auch ein sehr überschaubares Projekt wie die Rettung der afghanischen Ortskräfte ist mit den geballten Kräften von Außen-, Innen- und Verteidigungsministerium zusammen nicht mehr zu bewältigen. Zugleich zwingt die welthistorische Veränderung im Klimaregime jene PolitikerInnen, die sich gerade noch für Kohlestrom und Dieselmotoren stark gemacht hatten, zu utopischen Verrenkungen und zu Versprechungen, deren Konsequenzen sie selbst nicht verstehen. Und über deren Verwirklichung sie nie ernsthaft nachgedacht haben.
Gebraucht würde ein neuer Modus der Politik, also etwas, was die meisten der gegenwärtigen AkteurInnen nicht gelernt haben. Im Zentrum des staatlichen Handelns stünde dann nicht der Talkshow-Auftritt des Spitzenpersonals, sondern die politische Planung und das Management in klüger gestalteten staatlichen Institutionen, mit gut bezahltem, hochqualifiziertem und engagiertem Personal. Es ginge nicht um noch krassere CO2-Reduktionsszenarien, deren Halbwertszeit in Monaten zu rechnen ist, sondern um sorgfältig gestaltete Schnittstellen zwischen Wissenschaft, Verwaltung und Politik. Und um neue Formen der Kommunikation und Kooperation zwischen dem Staat und seinen BürgerInnen, oder, anders gesagt, zwischen den BürgerInnen und ihrem Staat.
Dass es die Gesellschaft selbst ist, die für Veränderung sorgt, während die Politik sie im besten Fall nicht verhindert – das war das Signum der letzten 16 Jahre. Nur ist sie damit an das Ende ihrer Möglichkeiten gelangt. Die vernachlässigten und unterbewerteten Institutionen der Politikstecken währenddessen in ihren Sackgassen fest, gleich ob man auf die Ministerien für Innen-, Außen-, Wirtschafts- oder Umwelt schaut, von Verkehr, Landwirtschaft oder Gesundheit nicht zu reden. Die Gesellschaft braucht ihren Staat, damit es weiter geht, und zwar: jetzt.
Dass die Mehrheit der WählerInnen den politischen Parteien die nötigen Veränderungen anvertrauen möchte, ist bisher nicht erkennbar – auch wenn es für viele Lösungen große Mehrheiten gibt. Die engagierten Minderheiten in Politik und Gesellschaft werden also weiter um Einfluss kämpfen müssen, und vielleicht hilft ihnen ja das Glück, auf das die Klimapolitik jetzt ohnehin so dringend angewiesen ist. Irgendwann würde dann wirksam entschieden. Und irgendwann würde dann auch das Baggern an der Elbe beendet.