Deutschland steht vor dem großen Sprung. Nein, nicht dem Sprung ins Unbekannte. Es geht um etwas nie Dagewesenes: Eine moderne Industrienation ohne fossil oder atomar betriebene Dampfmaschinen. Ohne die riesigen Dampfdruckerzeuger und Generatoren, die seit Jahrhunderten so zuverlässig funktionierten und immer mehr Menschen rund um die Uhr die Versorgung mit Strom und Wärme sicherten. Denen wir Modernität, Komfort und hohe Lebenserwartung verdanken.
Dass die neue Energieinfrastruktur aus Sonnen- und Windstrom ebenso zuverlässig funktionieren kann, wird seit langem vorgerechnet, zuerst von dem Visionär Hermann Scheer, dessen Vorschlag für eine „Solare Weltwirtschaft“ schon in den 90er Jahren den Weg bis nach China fand. Und außerdem in zahllosen wissenschaftlichen Studien, zuerst von ökologischen Forschungseinrichtungen, dann von den großen Institutionen der staatlichen Forschung und schließlich auch der deutschen Wirtschaft, bis hin zum BDI.
Mit der Beendigung der Braunkohlenutzung im Rheinischen Revier im Jahr 2030 und der Koalitionsentscheidung vom Montag ist der Übergang zu einer neuen Energiebasis irreversibel. Der Ankauf neuer Brennelemente ist damit vom Tisch, und ebenso der Weiterbetrieb der Atomkraftwerke bis 2024 und darüber hinaus. Im Frühjahr 2023 ist Schluss.
Beendet ist damit auch das Manöver von CDU und FDP, den Parteien, die das Abschaltdatum 2011 beschlossen hatten, jetzt aber mit treuherzigem Augenaufschlag für die Verschiebung auf das Jahr 2024 plädierten. 2024 ist das Jahr der nächsten Bundestagswahl. Dass sie die Gelegenheit hätten verstreichen lassen, daraus ein Plebiszit über weitere Verlängerung und Wiedereinstieg zu machen, ist wenig wahrscheinlich. Ob sich die aktuelle Zustimmung von zu 80 Prozent für den Weiterbetrieb bis dahin gehalten hätte, steht auf einem anderen Blatt.
Dabei ist das Zögern so vieler Menschen vor dem großen Sprung nur zu verständlich. Wir, die deutsche Gesellschaft, haben selbst keine schlechten Erfahrungen mit den Nuklear-Apparaten gemacht. Die alten Meiler für „sicher“ zu erklären, wenn alles andere unsicher geworden ist, fühlt sich irgendwie gut an, und dass sie so lange gelaufen sind, spricht aus dieser Perspektive eher für sie. Schließlich ist Fukushima weit weg, Tschernobyl liegt lang zurück, und die Nutzung von Atomkraftwerken zur nuklearterroristischen Erpressung wie in Saporischschja, ihre Unzuverlässigkeit wie in Frankreich erscheinen hierzulande als ferne Möglichkeit.
Infrastrukturen sind der technische Rahmen, die Basis, auf der Menschen ihren Alltag gestalten. Sie sind Teil unserer Lebenserfahrung, unserer FähigkeitenHandlungsspielräume, prägen unseren Gefühlshaushalt. Das verhält sichist mit der Hütte und dem Acker der Menschen in Pakistan nicht anders als mit einem Atomkraftwerk, das uns in unserer mit elektrischen Maschinen ausgestattetenr Wohnung den Strom für den Morgenkaffee liefert. Verändert sich dieser Rahmen, z. B. durch durch großflächige Überschwemmungen wie in Pakistan, fehlen ihnen den Menschen die Mittel, um zu überleben – sie müssen auf die Hilfe der Regierung hoffen oder in die Slums der Städte ziehen, als Vorboten weiterer katastrophischer Veränderungen durch den Klimawandels. Es gibt also gute Gründe für Angst, wenn Infrastrukturen sich verändern. Auch dann, wenn solche Veränderungen durch Erfahrung und Berechnung gut begründet sind und durch bewusste politische Entscheidung herbeigeführt werden. Schließlich: Kann man den Wissenschaftler:innen vertrauen?
Der Aufbau der fossilen Energieinfrastrukturen hat mehrere hundert Jahre gedauert. Das erste Dampfschiff wurde im Jahr 1783 gebaut. Wenn sich dampfbetriebene Schiffe im 19. Jahrhundert auf die Weltmeere wagten, waren sie allerdings zusätzlich mit Masten und Segelanlagen ausgestattet, um die Unsicherheit des technischen Antriebs durch die uralte Sicherheit der Windkraft zu kompensieren – auf den historischen Abbildungen alter Häfen wie sie z. B. im Hamburger Rathaus zu bewundern sind, ist das zu sehen. Es dauerte bis zum Jahr 1889, bis das erste Dampfschiff nach über hundert Jahren Vertrauensgeschichte den Sprung über den Atlantik ohne Segelanlage antrat.
Die Demgegenüber hat die Entwicklung von Wind- und Solartechnologien zu industriell verfügbaren Versorgunginfrastrukturen hat kaum 20 Jahre gedauert. Nachdem Grüne und SPD durch das Erneuerbare-Energien Gesetz zu Beginn des Jahrtausends einen Markt für die Nutzung von Wind- und Solarstrom geschaffen hatten, entwickelten sich deren Marktanteile ebenso wie ihre Leistungsfähigkeit mit einer Geschwindigkeit, die nur noch durch eine andere Innovation übertroffen wurde: Die Digitalisierung der globalen Kommunikation. Sie hat in noch kürzerer Zeit Milliarden Menschen veranlasst, ihren Alltag umzukrempeln und ihre wirtschaftlichen Strukturen umzubauen. Und sie lieferte dann auch die Voraussetzungen für digitale Steuerungsverfahren, die aus dem erneuerbaren „Flatterstrom“ eine sichere, dezentrale und europäisch vernetzte Energieversorgung machen.
In Expert:innenenkreisen ist diese Option längst Konsens, und auch in den demokratischen Parteien ist dieses Wissen angekommen. In der Alltagskommunikation allerdings verstummen derzeit noch die meisten, wenn die Rede auf die Vollversorgung durch Erneuerbare kommt. Und weil die Kenntnisse über moderne Energieinfrastrukturen und Energiemärkte noch nicht sehr weit verbreitet sind – wie auch kurzem das historisch neue digitale Wissen noch kaum verbreitet war –, finden vor allem Menschen, die den Institutionen prinzipiell misstrauen, hier ein weites Feld für polemische Kurzschlüsse. Haben die Experten etwa vergessen, dass abends die Sonne untergeht? Und woher kommt der Strom, wenn einige Wochen lang die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht? In den sozialen Medien kennt die Wut auf Wissenschaftler und PolitikerInnen, die sich (angeblich) diese Fragen noch nie gestellt haben und deshalb ihre MitbürgerInnen blindlings, aus ideologischer Verblendung, in Blackout und die „Deindustrialisierung“ laufen lassen, keine Grenzen.
Eine angemessene Antwort auf solche Explosionen des „gesunden Menschenverstandes“ östeht aus. Sie müsste die Größe der kommunikativen Aufgabe und den Abstand zwischen der Welt der wissenschaftlichen Expertise und der Alltagskommunikation ernst nehmen. Als Bürger:in weiß man wenig über die meist unsichtbaren Infrastruktursysteme, die in modernen Gesellschaften das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben ermöglichen. Aber man will doch man sicher sein, dass man sich darauf verlassen kann.
Wer als Regierung den größten Infrastrukturumbau seit vielen Jahrzehnten durchsetzt sollte die Zweifel in der Bevölkerung ernst nehmen und sie nicht als Mangel an Glauben oder Ignoranz gegenüber den Risiken der Atomtechnik oder den Folgen der Klimakatastrophe missverstehen. Was ansteht, ist nicht einfach eine Nachschulung in Energiekunde, sondern eine Verständigungsaufgabe, die über die kommunikativen Möglichkeiten auch des gelungensten Talk-Show-Auftrittes hinausgeht. Es ginge darum,: auf wenigen Bildern und in wenigen Zeilen, für alle BürgerInnen und Bürger verständlich darzustellen, wie das neue System funktionieren wird: Dass wetterbedingte Lücken in der regenerativen Versorgung heute gut vorhersehbar sind, dass sie mit dem Ausbau der regenerativen Kapazitäten und der Europäisierung der Stromversorgung weniger werden, dass sie mit Erdgas und später mit Wasserstoff, für die ausreichende Speicherkapazitäten zur Verfügung stehen, zuverlässig ausgeglichen werden können und dabei sehr viel weniger Gas verstromt werden muss als heute usw. usf. All das kann man zwar gelegentlich in fundierten Publikationen nachlesen. Aber dass die bereitliegen, reicht nicht aus. Gebraucht wird politische Kommunikation „auf der Höhe der Zeit“, mit den Instrumenten, die für solche Aufgaben in modernen Gesellschaften vorhanden sind – oder neu entwickelt werden müssen.
Zumal es auch demokratische Parteien gibt, die Unsicherheiten und Ängste mitten in den sich akkumulierenden Krisen nutzen wollen, sei es, um ein angeblich „konservatives“ Profil zu schärfen oder um hinter einer unverstandenen Wählerbasis her zu irrlichtern. Was dabei auffällt, ist die fehlende Unterstützung aus den großen Wirtschaftsverbänden für solche Kampagnen: Wo präzise gerechnet wird, ist längst klar, dass ein weiterer teurer Rücktritt vom Atomausstieg die demokratischen Institutionen beschädigen, einen sinnlosen Konflikt auf Dauer stellen und Deutschland international lächerlich machen würde.
Wenn der große Sprung gelingen soll, ist einnachholendes gesellschaftliches Lernen angesagt. Dann muss die Regierung ihren Bürger:innen – und das heißt: auch jener Mehrheit, die sich für die Details heutiger Energiesysteme bisher nicht interessiert hat, weil sie mit Recht der Meinung ist, darum sollten sich andere kümmern – verständlich machen, wohin der Weg führt. Weshalb es Atomkraftwerke und andere Dampfmaschinen, die rund um die Uhr „Grundlaststrom“ erzeugen, künftig nicht mehr braucht. Ein kleiner Teil der derzeit so großzügig verteilten Milliarden sollte ausreichen, um zu erklären, woher künftig der Strom kommt, wie er verteilt wird und was er kostet. Und was die Menschen selbst zum Gelingen des klimafreundlichen Umbaus beitragen können.
Denn ja, wir sind dabei, einen riesengroßen Schritt zu machen, der zur Zeit noch hinter allgemein sinnfreien politischen Machtintrigen verborgen ist. Einen Schritt auf dem Weg zur Zukunft der Menschheit jenseits der Fossilität, von der vor wenigen Jahren noch fast niemand zu träumen wagte.
Wohltuend klare Aussagen zur insbesondere auch psychischen Gesamtsituation in der Umbruchssituation nach jahrelangem Merkel-Schlaf mit Aufschrecken durch Kriegsfolgen und Klimakatastrophen. Ich möchte aber doch gegen die – schon im vorigen Blog – sehr
harmonisierenden Tendenzen ein Bisschen protestieren: Die trotz allem r e l a t i v e Ruhe und
die eher milde Reaktionen gegen Merkel, wenn derzeit die Rede auf sie kommt, dürften u.a. mit einem heimlichen Schuldgefühl zu tun haben: Wir haben es eigentlich schon länger gewusst, wollten es aber einfach nicht wahrhaben, dass es so nicht weitergehen konnte.
Das Verdrängen fand sehr bewusstseinsnah statt, unsere Autos und sonstige Wohlstandsinsignien und Gewohnheiten waren einfach zu schön, die Geschäfte liefen zu gut, als dass man sich trennen wollte. Lieber die Grünen als Verbotspartei verleumden, den Klimawandel leugnen u.s.w., engagierte und opferbereite Menschen als Spinner darstellen, wir kennen das ja alle.