vondie verantwortlichen 26.04.2021

Die Verantwortlichen

Roland Schaeffer fragt sich, warum vieles schief läuft und manches gut. Und wer dafür verantwortlich ist.

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„…die vielen Lockdowns haben Zehntausenden das Leben gerettet. Daher machen wir das. Und wir erklären es jeden Tag. Nicht nur `die Regierung´. Man nennt es Wissenschaft.“ Dass Karl Lauterbauch es noch einmal erklären muss, liegt auch an einem Schauspieler namens Jan Josef Liefers, der sich mit 50 KollegInnen öffentlich in streitbarer ironischer Form geäußert hatte.Der Wissenschaftler und Politiker Lauterbach sagt dazu: „Aber seine Inhalte sind fern jeder Realität.“

Twitter ist gewiss ein Medium, das Übertreibungen und Zuspitzungen fördert, darin der Ironie durchaus verwandt. Aber dieser Tweet hat es in sich: Ein „Lockdown“ ist bekanntlich ein Bündel von Maßnahmen. Mit den „vielen Lockdowns“ allerdings hat man auch Verbote durchgesetzt, die gewiss niemanden gerettet, dafür aber vielen Menschen das Leben erschwert und Panik verbreitet haben. Das einsame Sitzen auf Parkbänken etwa oder das Maskentragen beim Joggen draußen etwa.

Und nein, solche bürokratischen Irrwege nennt man nicht Wissenschaft. Es waren politische Entscheidungen, die aufgrund von wissenschaftlich mehr oder weniger gut begründeten Vermutungen getroffen wurden. Manchmal auch getroffen werden mussten, weil man vieles nicht wusste und auf die Pandemie nicht vorbereitet sein konnte. Wissenschaftlich kluge Bescheidenheit war bisher daran zu erkennen, dass diese Tatsache anerkannt und Fehler in aller Ruhe zu korrigiert wurden. Zumal die „andere Seite“, die Gesellschaft, die Bevölkerung, wir also, den staatlichen Institutionen das Recht auf solche Fehler damals sehr weitgehend zugebilligt haben. Niemand wusste sehr viel, und weil wir im gemeinsamen Interesse mit unserem Staat kooperieren wollten, haben wir ihm Irrtümer verziehen.

Inzwischen scheint diese Bereitschaft erschöpft. Wie genau welche Maßnahmen in den zahllosen „ Lockdowns“ wirken, ist noch immer genauso unklar. Aber nach einem Jahr ist die Toleranz für Nichtwissen aufgebraucht.

Eine Ausgangssperre ab 22 Uhr zum Beispiel gilt nicht nur unter den beliebten Klischeejugendlichen in den Feierszenen als mangelhaft begründet – sie  wurde  gerade vom Oberverwaltungsgericht in Lüneburg gekippt. Sind deutsche Verwaltungsgericht wissenschaftsfeindlich? Oder ist die Vermutung, dass es feiernde Jugendliche seien, die nachts auf die Straße gehen und das Virus verbreiten, einfach nur klischeegetrieben? Während die höchsten Inzidenzen seit Monaten in ländlichen Regionen von Thüringen und Bayern mit überdurchschnittlich alten BürgerInnen gemessen werden?

Wissenschaft bedeutet, dass man Hypothesen anhand von empirischen Beobachtungen zu überprüft. Bei einem neuen Ereignis wie einer Corona-Pandemie kann es durchaus längere Zeit dauern, bis die Abläufe soweit verstanden sind, dass die Gesellschaft im Alltag damit zu Recht kommt. Deshalb muss in  modernen Gesellschaften  möglichst transparent und öffentlich über den Erkenntnisfortschritt kommuniziert werden: Wir, die BürgerInnen, sollten verstehen können, worum es geht, vor allem auch, damit wir uns selbst und unsere Umgebung schützen können.

Es ginge also um die Kooperation zwischen Staat, Wissenschaft und Bevölkerung. Um gemeinsame Arbeit an einem gemeinsamen Problem. Und die funktioniert offenbar nicht gut.

Was die Wissenschaft angeht war sie dort erfolgreich, wo exzellente WissenschaftlerInnen in eigenen Institutionen ihre Ziele definieren und in medizinische Produkte umsetzen konnten. Biontech ist das deutsche Musterbeispiel, und wenn die Pandemie in den Industriestaaten im Sommer allmählich abklingen sollte, wird sie nach diesem Muster besiegt worden sein.

Wo hingegen Behörden die Aufgaben definieren und „die Politik“ ihnen die Richtung vorgibt, kann man dasselbe nicht behaupten. Nicht nur, weil viele staatlichen Institutionen in der digitalen Moderne nicht angekommen sind. Viel gravierender wirkt sich aus, wie viele Institutionen ihre Aufgaben in der aktuellen Pandemie definieren – welche  Antworten sie schuldig bleiben, weil sie die Fragen nie gestellt haben. Wie wirksam sind z. b. die zu hunderten Millionen verkauften Corona-Schnelltests? Die Hamburger Gesundheitsbehörde hat dazu gerade noch einmal mitgeteilt, sie seien in einem Drittel der Fälle „falsch posititv“, die angeblich Erkrankten also in Wahrheit gesund. Das war konnte man herausfinden, weil die positiv Getesteten sich anschließend einem offiziellen PCR-Test unterzogen. Wichtiger wäre es allerdings zu wissen, wie viele Infektionen durch die Schnelltests übersehen werden. Weil die häufig nicht auffallen, müsste man die Wirksamkeit durch eigene Studien gezielt untersuchen. Zumal sich auf dem deutschen Markt, so berichtet es das ZDF, einige hundert verschiedene Hersteller tummeln. Das für die Zulassung zuständige Paul-Ehrlich-Institut allerdings prüft nurDaten, die diese  selbst vorlegen, und manche Tests wurden bereits wieder aus dem Verkehr gezogen. „Man nennt es Wissenschaft“? Geht es nicht besser? Oder spielt hier unser Staat, der sich sonst so vieles leisten kann, eine teure Form von Lotterie mit Menschen, die doch dringend auf diese Tests angewiesen sind?

Nach einem Jahr harter Zumutungen für die Bevölkerung, besonders für Jugendliche und junge Erwachsene, ist die Liste der wissenschaftlichen und politischen Unterlassungen lang. Lüftungsgeräte können Infektionen wirksam vermindern oder ganz unterbinden. Das sagen Wissenschaftler, nämlich die Gesellschaft für Aerosolforschcung. Aber sehen wir einen großflächigen Einsatz dieser Geräte in Schulen und Universitäten? Wenigstens einen großangelegten Modellversuch, um ihre Effizienz zu prüfen? Stattdessen lässt man den Präsenzunterricht vielerorts wohl auch für das Wintersemester ausfallen – und weder die menschlichen noch die finanziellen Kosten sind ein Thema. Oder: Während der Bundestag das Infektionsschutzgesetz verschärft, berichtet die  „Süddeutsche“ , Amazon habe für sein Lager in Winsen an der Luhe das Tragen von FFP2-Masken verboten – die durch diese Masken verursachten Arbeitspausen wurden zu lang.

Am schwersten wiegt: „Die Wissenschaft“ hat auch nach einem Jahr kaum Antworten auf die Frage, wie und wo genau sich welche Menschen anstecken. Die wenigen öffentlich bekannten Nachrichten über die soziale Verteilung des Virus sind dramatisch. Aktuelle Kölner Zahlen etwa deuten darauf hin, dass die Inzidenz in ärmeren Stadtteilen über 500 liegt, in den besseren Gegenden hingegen bei nahe Null. Wenn in Hamburg Blankenese Polizisten damit beschäftigt sind, biertrinkende Halbwüchsige durch einen Park zu jagen oder in der Eimsbütteler Osterstrasse auf 100 Metern 3 Testzentren öffnen, hat das mit der Realität des Virus offenbar wenig zu tun.

Der Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, Jens Beckert, stellt der empirischen Corona-Ansteckungsforschung auf „ZEIT online“ ein katastrophales Zeugnis aus: „Die politische Pandemiebekämpfung ist auch deshalb so mutlos, weil sie über diese sozial unterschiedlichen Faktoren fast nichts weiß. Das Wort wird von der Virologie geführt. Dieser virologisch bestimmte Diskurs aber enthebt uns der präzisen Frage danach, wo wie genau gehandelt werden könnte. Auf dem bayrischen oder thüringischen Land mag die Geselligkeit und Vertrauensseligkeit bei den Infektionen eine Rolle spielen, das ließe sich ja erforschen, aber die Dramatik liegt darin, dass wir es eben nicht wissen. Wir stehen ratlos vor ziemlich weißen Landkarten. Die vorliegenden Daten aus der Kontaktverfolgung werden wohl nicht ausgewertet, und die Datenerhebung ist zu einseitig oder zu sporadisch. So entstehen vor allem Impressionen, Meinungen, Vorurteile. Und ungenaue, zumal verspätete Inzidenzzahlen sind als Daten für politisches Handeln eben nicht hinreichend.“

Warum die Kooperation zwischen dem Staat, den unterschiedlichen Wissenschaften und den BürgerInnen derart scheitert – auch dazu kann man in dem kurzen Tweet von Karl Lauterbach einen Hinweis  finden. Die Inhalte der streitbaren Videos seien, so meint er , „fern jeder Realität“. Dass manche geschmacklos daher witzeln, ist keine Frage. Aber sie machen unsere, die Realität all der Eltern und Kinder, RentnerInnen und Studenten, Schauspielerinnen und Aldi-Verkäufer, die seit einem Jahr diesem Staat die Treue halten, die seine Maßnahmen verstehen und mit seinem Versagen zu Recht kommen wollen, zum Thema.  Und gewiss können sich viele von den Clips angegriffen fühlen. Aber es ist auch eine scharfe Aggression, wenn man Menschen abzuspricht, dass ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen zur gemeinsamen Wirklichkeit gehören.

Die kommunikativen Blasen laden sich offenbar mit der Dauer der Pandemie immer weiter mit Wut auf. Während in der Gesundheitsbürokratie die alte bürokratische Logik weiterlebt, nach der das bearbeitet wird, was auf den Tisch kommt und die Verständigung der Gesellschaft keinerlei Priorität hat, und während die Politik auf ihr tägliches Überleben im Medienstrudel starrt, werden wir immer blinder für das, was außerhalb der je eigenen Blase passiert. Jemand wie Karl Lauterbach ist davon als Opfer von Hetze besonders betroffen. Trotzdem könnte Robert Habecks Twitterpause auch für ihn ein Beispiel sein.

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