vondie verantwortlichen 28.02.2023

Die Verantwortlichen

Roland Schaeffer fragt sich, warum vieles schief läuft und manches gut. Und wer dafür verantwortlich ist.

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Wenn man hört, wie die Nachbarn im übernächsten Haus um Hilfe rufen, weil sie von einer Mörderbande überfallen worden sind – und wenn man dann Waffen über den Zaun reicht, damit sie sich wehren können – eskaliert man damit den „Konflikt“? Ist man gar „beteiligt“?

Und wäre man es nicht, wenn man sich stattdessen die Ohren verstopfte? So gehen nun also seit einem Jahr die Gespräche an den europäischen Abendbrottischen.

Auf das, was gerade im Osten Europas vor sich geht, sind wir westeuropäisch gelernten Menschen nicht vorbereitet. Wir haben in einer weltpolitischen Blase, einer einmaligen historischen Ausnahmesituation existiert, in der besonders wir selbst, als Deutsche, meinen konnten, künftig keine Waffen mehr zu brauchen. Was in beiden deutschen Staaten eine Beruhigung bedeutete: Schließlich hatten wir es bis zum 8. Mai 1945 mit dem Überfall auf unsere Nachbarn und die Auflösung aller völkerrechtlichen Grenzen zu einem beispiellosen Massenmord und zur Selbstzerstörung geschafft. Und konnten uns anschließend, als uns niemand mehr traute, auf einen eisernen Vorhang verlassen, der so gesichert war, dass niemand je ernsthaft versucht hat, ihn militärisch zu durchbrechen. Von unserer Seite im Westen des Zauns war das leicht, schließlich befanden wir uns auf der Schokoladenseite und waren damit beschäftigt, dieses unerwartete und ziemlich unverdiente Glück zu genießen.

Hinzu kam, dass Krieg den Einsatz von Atomwaffen bedeutet hätte. So sahen wir Boomer es, der 80er-Jahre-Spruch an einer Frankfurter Hauswand ist unvergessen: „Keine neuen Atomraketen bevor die alten nicht verbraucht sind“. Deutschland wäre, so glaubten wir, atomares Schlachtfeld geworden – also nach den damaligen Vorstellungen nicht Ort eines militärischen Konfliktes, sondern der Apokalypse, des Endes aller erlebbaren Konflikte. Dass von Osten Gefahr drohen könnte, nahmen wir angesichts dieser absoluten Gefahr nicht ernst. Militär hielten viele für überflüssig. Die sozialliberale Ostpolitik schien uns die logische Antwort auf diese Situation zu sein. Und hatten die bürokratischen Apparate, diese staubigen Zentralkommittees und „kommunistischen“ Parteischranzen, nicht selbst das größte Interesse daran, den status quo zu erhalten?

Wir lebten in einem Pazifismus, den man sich leisten können musste. Wir verdankten ihn der Tatsache, dass die Grenzen, die uns schützten und begrenzten, von zwei Weltmächten festgelegt und bewaffnet worden waren, die uns weder gefragt hatten noch an unserer Meinung wirklich interessiert waren. Wir hatten Glück, man kann es nicht oft genug wiederholen, wir wohnten auf der Schokoladenseite. Wir brauchten an all diesen Entscheidungen nicht mitzuwirken, sie nicht mit zu diskutieren. Die Entscheidungen und die Verantwortung lagen anderswo.

Vorbei. Nach dem Zusammenbruch des bürokratischen Sozialismus ist im ehemaligen Zentrum des Staatssozialismus eine kleptokratische und gewaltsüchtige Diktatur entstanden. Sie führt kontinuierlich Kriege gegen die eigenen Bürger, gegen ihre Nachbarn und sonst alle, die auf der Welt Selbstbestimmung anstreben, für das eigene Leben oder als Gesellschaft. Ein aggressiver Mafiastaat, dem Grenzen nichts bedeuten und der Gewalt nach innen wie nach außen als sozialen Kitt verwendet – anstatt die Lebensbedingungen seiner Bevölkerung zu verbessern, die zu 70 Prozent in großer Armut lebt. Und nein, dieses Bild ist keine westliche Erfindung, es wird von russischen liberalen und linken Oppositionellen wie dem Soziologen Greg Yudin geteilt, der es in seinem jüngsten Essay auf dem Onlineportal Meduza gerade noch einmal gezeichnet hat. Nach russischen Kriegen in Tschetschenien, Georgien, Moldau und Syrien ist seit 2014 die Bevölkerung der Ukraine gezwungen, sich zu wehren, wenn sie ihr Schicksal selbst bestimmen will. Es geht diesmal, anders als unter der Sowjetherrschaft, um die Zerstörung der nationalen Identität des Nachbarstaates. Und anders als damals gibt es keinen eisernen Vorhang mehr, der uns von den dortigen Ereignissen trennt.

Die Konsequenzen dieser dramatischen Veränderung haben wir verschonten Westler bisher kaum verstanden und schon gar nicht in unseren Gefühlshaushalt integriert. Dass nicht mehr der Verzicht auf Gewalt und ihre Infrastrukturen, das Umschmieden der „Schwertern zu Pflugscharen“, die Chance ist, die Europäerinnen und Europäer künftig in einer besseren Welt leben lässt. Wir meinten, dass uns eigentlich nichts passieren kann, wenn wir nur nett zu möglichen Angreifern sind und sie nicht „provozieren“ oder zu eng an die Amerikaner binden, die Putin als Hauptfeind betrachtet. Dabei sind dem russischen Diktator unser Verhalten und unsere Meinungen ziemlich egal – solange sie nicht seine Macht begrenzen, den Zugriff auf alles, was er irgendwie historisch als „russisches“ Land zu beanspruchen wünscht, bis hin nach Ostdeutschland. Was er hingegen ernst nimmt, weil er es ernst nehmen muss, sind die Organisationen, Infrastrukturen und Techniken der zwischenstaatlichen Gewalt: das Militär. Militärisch schützt uns die NATO mit den USA als Garant im Hintergrund. Aber auch diese Garantie bröckelt. Wenn das demokratische Europa bestehen bleiben will, wird es die militärischen Voraussetzungen dafür selbst schaffen müssen. „Sich wehren zu können“ und andere bei der Verteidigung ihres Landes und in ihrer durch die UN-Charta garantierten Selbstbestimmung zu unterstützen, ist auch für uns wieder zur Existenzbedingung geworden.

Währenddessen wollen die geistige Welt und die praktische Lebenswirklichkeit, in der der die meisten der heute Verantwortlichen aufgewachsen sind, dazu nicht passen. Gewiss versuchen wir zu lernen und uns mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren und selbst Jürgen Habermas, der wie kein anderer die angelsächsische Welt für die Deutschen erschlossen hat, kommt in einem langen Text nicht zu einem Ergebnis. Aber klingt es nicht heimatlich vertraut, wenn Margot Käßmann in der ZEIT sagt: „Am Ende können Waffen keinen Frieden schaffen. Pazifisten haben das langfristige Ziel, dass wir in einer Welt ohne Waffen leben…“? Die zunehmende Vermeidung von Gewalt war ja tatsächlich in den modernen westlichen Gesellschaften der riesengroße, historisch völlig unerwartete zivilisatorische Fortschritt der letzten Jahrzehnte. Jahrhundertelang für selbstverständlich gehaltene Gewaltverhältnisse wie das Schlagen von Schwächeren, von Kindern, die Vergewaltigung in der Ehe, haben sich weitgehend aufgelöst. Die Voraussetzungen für diesen Fortschritt – dass wir nach außen stabil gesichert waren und in einem Rechtsstaat lebten, in dem eine durchaus auch mit Waffen ausgestattete Polizei das Gewaltmonopol garantierte und selbst zu einem Teil des Zivilisierungsprozesses werden konnte – die kannten wir, gewiss. Aber sie standen nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit.

Es mag auch eine moralische Frage sein, ob man dem überfallenen Nachbarn mit Waffen hilft – vor allem aber ist es schlichter Eigennutz. Europas Grenzen wurden nach 1989 durch die Demokratisierung Osteuropas neu gezogen. Nicht erst mit seinem Angriff auf die Ukraine stellt Russland eine Vielzahl weiterer Grenzen in Frage. Um in der Diskussion über Kampfpanzer einen Rückfall in „Kriegsverherrlichung“ zu vermuten, muss man jedenfalls zeithistorisch kenntnislos sein. Es geht um eine bittere Notwendigkeit – um den Schutz der Staatenordnung und die Begrenzung der Möglichkeiten des Aggressors.

Das gilt auch für die Gefahr einer atomaren Eskalation. Wenn die direkte Konfrontation zwischen den Atommächten vermieden werden soll, muss der Aggressor von den Nato-Grenzen ferngehalten werden. Dass die Ukraine sich wehrt, sich wehren kann, sorgt auch dafür, dass Russland zu den nächsten Schritten gegen Georgien, Moldau, gegen die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken bis hin zum Baltikum, nicht in der Lage ist.

Europa, lange Zeit der weiche Bauch des Westens, hat begonnen, aktiv für die eigene Sicherheit zu sorgen. Je entschiedener und schneller das geschieht, umso eher kommt Frieden und endet der Krieg. Deutschland als wirtschaftlich stärkste Macht wird dabei eine führende Rolle spielen müssen – so fremd das in heutigen Ohren noch immer klingen mag. Weil in unserer direkten Nachbarschaft seit 1989 ein russischer Staat entstanden ist, in dem als einziger Wirtschaftssektor die Kriegswirtschaft funktioniert. Mit einem Machthaber, der Frieden nicht erträgt, wie Greg Yudin so einleuchtend schreibt, weil er glaubt, dass Frieden sein Ende wäre, und der die Zerstörungen seiner Kriege in andere Länder trägt, während das eigene Territorium nuklear gesichert ist. Der vor ein paar Monaten von Putin zum „Generalleutnant“ ernannte Bandenführer Kadyrow, (den das ZDF höflich den „Präsidenten“ der von ihm terrorisierten russischen Teilrepublik Tschetschenien nennt), hat kürzlich Ostdeutschland als „unser Land“ bezeichnet. Das klingt das zwar ziemlich albern. Aber es ist nicht zum Lachen. Es ist der Ton der neuen Welt.

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