vonBlogwart 22.04.2009

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Interessant, wie unterschiedlich zwei Personen einen Text verstehen können! In der taz erschien gestern eine Reportage aus einem Discountbordell. Eine Leserin sieht darin Werbung der taz für dieses Haus und eine Verherrlichung der Prostitution. Ich finde die in dem Artikel beschriebenen Zustände dagegen ekelhaft und skandalös und den Artikel als eine Anklage gegen diese Zustände. Anbei der komplette Leserbrief und meine Antwort. Und vor allem interessiert mich: Wie haben andere Leserinnen und Leser den Text verstanden?

Leserbrief von Judith Berendsen

Sehr geehrte taz,

Ich versteh es einfach nicht. Diese Zeitung berichtet unter anderem tagtäglich über Menschenrechtsverletzungen, spricht von Taten und sozialer Solidarität, berichtet unabhängig, gut recherchiert und gibt sich intellektuell.

Und dann verherrlicht sie Prostitution. Schreibt über ein “Billig-Bordell” wie eine Werbebroschüre über einen Freizeitpark. Mit einem Titel, der den schlimmsten Boulevard-Schlagzeilen in nichts nachsteht und unter der Rubik “Alltag”. Ja sie berichtet noch nicht mal so wie über einen Supermarkt, was schon mehr als zynisch wäre, denn bei Supermärkten legt sie ja bisweilen offene Konsum- oder Kritik an den Arbeitsbedingungen an den Tag. Noch nicht mal dafür reicht es hier also. Dieses Maß an Zynismus bestürzt mich außerordentlich.

Sie klagen den Neoliberalismus an und propagieren den Kauf von Frauen als Normalität. Als pure Normalität, ohne all das Leid das es verursacht (und sollten sie mit mir auch nicht einverstanden sein, dass es ein Verletzung gegen die Menschenwürde ist, jenes können sie nicht abstreiten) in Deutschland und im Rest der Welt überhaupt zu erwähnen. Das Deutschland verschlimmert. Den Zynismus und die Auswirkungen auf den Blick er Menschen aufeinander. Dass Deutschland eine beinahe singuläre Position im Kampf gegen Menschenhandel und Prostitution auf der Welt einnimmt, nämlich eine affirmative. Wobei doch so viel belegt, dass eine Legalisierung alles verschlimmert, alle Argumente entkräftet sind? Die Liste ließe sich endlos weiterführen.

Warum tut sie das also, berichtet falsch, verschließt die Augen vor der Wahrheit, will mit allen Mitteln dieses Verbrechen, das Freiertum, propagieren und reizt mich damit im Wortsinn zu bitteren Tränen? Nun zum ersten aus Chauvinismus natürlich wohl, war sie auch von jenen, die vor 30 Jahren auch noch über Gewalt gegen Frauen witzelten und es so wieder tun möchte?

Ich bin 21, ich war nicht dabei. Und deswegen weiß ich auch nicht ob es das Phänomen ist, dass ich des öfteren bei dieser Generation beobachte: Aus Angst vor Prüderie, blinder Abneigung gegen sie, die sicher wohlbegründet ist, alles was mit Sex zu tun hat unreflektiert zu bejahen, um in der Hauptsache nicht reaktionär, christlich, “altbacken” zu sein. Nun ihre Rebellion gegen Konservativismus in allen Ehren, aber dafür ist dieses andere dritte Thema noch wichtig, das sie sich sonst auf die Fahnen schreiben, nämlich Menschenrechte, die Realität der schrecklichen Konsequenzen von Prostitution und der des Menschenhandels überall auf der Welt. Der Sex hat es auch nicht verdient so in den Schmutz gezogen zu werden,
so vergiftet. Sie vertreten doch sonst keinen Neoliberalismus und halten Menschenrechte hoch, lassen sich zumindest mal ab und zu auf einen Dialog, Fakten und Argumente ein – oder ist es alter Hass auf “die” Feministinnen, die gar nicht per se Gegner wären, sondern nur beinahe die einzigen, die mutig genug sind sich dieses Themas anzunehmen (das ist ja nicht mal mehr die CDU)?

Vielleicht verherrlichen sie es auch nur um die Freier, die schließlich Teil ihrer Redaktion und ihres Leserkreises sind (ein widerlicher Gedanke), nicht zu verärgern, nicht zu verlieren? In dem Fall beziehen sie ihre Werbekunden doch bitte gleich aus den Anzeigenteilen des Axel-Springer-Konzerns. Und geben es wenigstens zu.

Wir leben im 21. Jahrhundert, erwachsene und nüchterne Reflektion ist angesagt, da draußen gibt es nämlich aktuelle und reale Probleme, bleiben sie doch um Gottes Willen nicht auf alten Mustern hängen, den reaktionären Kräften in diesem Land ist es egal, wenn sie in das Bordell gehen, damit rebellieren sie nicht mehr, sondern verschaffen ihm mehr Werbekunden/Wähler. Der “Markt” freut sich auch. Nur die Prostituierten und diese Gesellschaft sind die Leidtragenden und für die ist dieses Ach-so-sexuell-offen-und-rebellische eben kein Spaß. Sie erhöhen die Nachfrage durch diese verniedlichende-verharmlosende Propaganda und vergrößern damit den Markt, ist das wirklich ihr Ziel? Sollte das in Kauf genommen werden von einer Zeitung, die sonst für Solidarität einsteht?

Das ist Pseudoliberalismus und ich halte sie für zu intelligent um das nicht einzusehen. Sie halten sich doch sonst auch nicht in jedem Punkt an die Grünen. Ich versteh es nicht.

Mein Ton ist zum Ende hin wohl etwas barsch und moralisch geworden, dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass mir diese Kritik, vor allem aber meine Fragen vollkommen am Herzen liegen. Ich würde mich über eine Antwort sehr freuen, denn ich halte viel von dieser Zeitung als größtes linkes Medium in Deutschland, der Alternativen sind leider wenige. Und würde gern ihre Leserin bleiben.

Und nämlich irgendwann in einer Gesellschaft leben, in der dieses Verbrechen gebührend misachtet wird und Menschen sich respektieren und Sex miteinander haben statt ihn zu kaufen. Biologismus ausgemerzt haben, keine falschen Mythen über Libido und Sex mehr fabrizieren. Nicht bei jedem Mann denken müssen, dass er es beging, das Verbrechen. Ein offener respekt- und würdevoller Umgang mit dem aus der Gosse geholtem Sex, Aufklärung. Keine Gewalt und keine Ausbeutung. Das ist meine Utopie. So aber jetzt ist auch gut.

Mit freundlichen Grüßen
Judith Berendsen

Meine Antwort

Sehr geehrte Leserin,

wie interessant – ich arbeite in einem anderen Ressort der taz und hatte mit dem Text vorher nichts zu tun, habe ihn aber heute ganz anders gelesen. Als ich las, wie die Frauen dort auf ihre Freier warten, als ich die Beschreibung des Gestanks las, die Wünsche der Gäste, die Sprache der Huren, die Gesundheitsprobleme wegen der Heizungsluft, des Nikotins und des Schlafmangels, die wirtschaftlichen Zwänge, die Frauen zu dieser Arbeit zwingen, das monotone und im Text ständig wiederholte Aufrufen der Huren, denen offenbar Zahlen zugeordnet werden wie in einer Fabrik – da dachte ich mir nicht: Oh, was für ein schöner Ort, da will ich auch unbedingt einmal hin. Ich dachte mir: Igitt. Und: Was für ein Skandal, dass es solche Zustände in dieser Gesellschaft gibt. Und: Gut, dass da in meiner Zeitung drüber geschrieben wird. Dass der Text „mit allen Mitteln dieses Verbrechen, das Freiertum, propagieren“ will, kann ich dort überhaupt nicht herauslesen. Ich finde jeden Satz in dem Text eine Anklage gegen diese Zustände.

Mit freundlichen Grüßen
Sebastian Heiser

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