vonErnst Volland 03.09.2013

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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Der Weg führt hinauf auf einen hohen Berg. Wir haben gut gefrühstückt, die Wanderstiefel sind geschnürt, der Rucksack auf dem Rücken. Der Weg führt durch eine der schönsten Gegenden Deutschlands. Sie liegt zwischen Freiburg und Basel. Der erste Teil des ausgewiesenen Pfades führt über frischgrüne Wiesen, steigt an, vorbei an Reihen von blühenden Kirschbäumen. Der Anblick der hunderttausend Blüten erweckt in mir Kindheitserinnerungen. Kirschblüten und die daraus wachsenden prallen Kirschen, diese Transformation war für mich immer unerklärlich, und somit Nährboden um an Wunder zu glauben. Noch als Kind pflückte ich an einem Tag im Mai einige Zweige mit Kirschblüten, um die Blütenblätter, den Blütenkelch und die Dolden zu zeichnen. Ich dachte durch das Zeichnen Antworten zu finden, die durch den bloßen Schein nicht zu erfahren waren.

Nachdem der Wanderweg eine großen Bogen anbietet, führt er direkt auf einen der höchsten Erhebungen der Gegend. Wir, drei Freunde, die seit zwanzig Jahren einmal im Jahr im Badischen für ein paar Tage wandern, schweigen bei diesem Aufstieg bis zur Plattform oben am Berg. Konzentriert steigen wir hintereinander gehend, auf dem in kleinen Schleifen stetig ansteigenden Weg, dessen Boden mit Wurzeln und Geröll durchsetzt ist. Die Sonne blitzt durch die Baumkronen des Mischwaldes. Bis auf unser Schnaufen ist nur ab und zu ein schriller Vogelschrei in der Stille zu hören.
Nach Stunden erwartet uns oben ein Lokal mit einem einmaligen Blick bis zu den Alpen. Die Sonne brennt ungewöhnlich heiß. Die Gäste sitzen draußen an langen vollbesetzten Tischen. Müde und verschwitzt finden wir eine Ecke im Schatten und bestellen Getränke, die den ersten Durst löschen. Die meisten Gäste sind mit dem Auto oder Motorrädern hochgefahren. Es gibt einfache Kost, Bratwurst und Brezel. Kaum sind neben uns einige Stühle frei, nähern sich bereits wieder drei Personen, um Platz zu nehmen. Die beiden Frauen sitzen uns gegenüber, der ältere Mann benutzt am Kopf des Holztisches seinen Rollator als Sitzfläche. Beide Frauen sind gut gelaunt, die ältere bestellt für alle drei Getränke und je eine Brezel. Dann wendet sie sich uns zu und beginnt ein Gespräch.
„Sie wandern? Sehr schön. Woher kommen Sie denn?
Wir antworten, dass wir erst heute morgen mit unserer Tour angefangen sind und jetzt eine erste Pause machen.
„Sie sind doch nicht von hier?“ fragt sie und man merkt ihr an, dass sie neugierig ist.
Wir sagen, wo wir jeweils herkommen und sie scheint erst einmal zufrieden zu sein.
Dann beginnt sie erneut.
„Mein Mann bekommt im nächsten Jahr eine Auszeichnung.“ Schweigen. Wir sagen nichts.
„Er wird hundert Jahre alt.“
Wir sind überrascht. Der alte Mann, der kerzengerade auf seinem Rollator sitzt, hat soeben ein großes Stück Schwarzwälder Kirschtorte in kurzer Zeit mit bestem Appetit gegessen.
„Ich bin auch schon 98 Jahre alt. „
Unsere Reaktion scheint der Gattin des alten Mannes vertraut zu sein. Wir bestätigen ihr abwechselnd, dass wir das nicht glauben können.
„Doch, doch. Am 20. April, Führers Geburtstag, werde ich 99.“
Ich zeige Interesse. „Hitlers Geburtstag und ihr Geburtstag, der 20. April 1915, ist ein Datum, dass Sie nicht vergessen. Erinnern Sie sich denn auch an den 8. Mai 1945?
Sie denkt nach.
„8. Mai 1945? Keine Ahnung. Heinz, war war am 8. Mai 45?“
Heinz setzt seine Tasse Kaffee ab und hält eine Hand hinter sein linkes Ohr.
„Wat iss?“
„Schon gut, jetzt weiß ich so ungefähr. Da war ich in Schlesien und dann bin ich hierher gekommen. Wir sind jetzt schon 68 Jahre verheiratet. Unkraut vergeht nicht.“
Wir zahlen, nehmen unser Gepäck auf die Schultern und wandern weiter, durch Weinberge und Wälder. Ich rezitiere nach einigen Minuten ein Gedicht, das mit den Zeilen beginnt,
„Ich weiß nicht was soll es bedeuten,
dass ich so traurig bin.
Ein Märchen aus uralten Zeiten,
das geht mir nicht aus dem Sinn.“

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