vonErnst Volland 24.04.2021

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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Nikolaus

Der Balkon kann sich sehen lassen, die ganze Wohnung ist mit Dielen ausgelegt, es gibt gute Anbindungen an U-oder S-Bahn und den Mietpreis

kann man immer noch als Schnäppchen bezeichnen. Das sind alles Gründe, warum ich seit 30 Jahren die Wohnung nicht gewechselt habe. Fast vergessen, die Wohnung verfügt über mehr als 100qm, genug Arbeits-Fläche für einen Künstler. Ein chaotisches Wohnstudio. Und für Gäste, sofern sie dem Chaos etwas abgewinnen, romantische Herberge, denn sie dürfen bei mir übernachten. Es gibt nur ein kleines Problem. Ich habe so gut wie keinen Kontakt zu meinen Mitbewohnern im Haus. Woran diese Distanz liegt, darüber muss ich spekulieren. Ich bin nicht oft am Ort, manchmal ganze Wochen nicht im Haus. Ein direkter oder sogar freundschaftlicher Kontakt hat sich nie ergeben. Ich vermute, die Hausbewohner können mit mir nichts anfangen. Vielleicht ist es auch andersherum. In jedem Fall habe ich diese einvernehmliche Anonymität akzeptiert, sie über die Jahre sogar gepflegt, bis eines Tages etwas Überraschendes passierte.

An einem 6. Dezember, dem Nikolaustag, an dem Kinder ihre Schuhe vor die Tür stellen und Knecht Ruprecht mit dem Nikolaus aus dem dunklen Winternachtshimmel in einem vierspännigen Schlitten von Haus zu Haus fährt,

hingen an den Wohnungstüren des Hauses zu meinem Erstaunen Säckchen mit einem mir unbekannten Inhalt. Unbekannt, weil an meiner Tür als einziger kein Säckchen vom Nikolaus hing.

Eine echte Überraschung. Ich wartete einen Tag ab, vielleicht hat die Spenderin oder der Spender mich übersehen, oder ein Päckchen, mein Päckchen, vergessen. Trotz aller Distanz beeindruckte mich die Tatsache übergangen worden zu sein, und ich schritt zur Tat. Ein stämmiger großer Nikolaus war schnell gezeichnet und mit den Zeilen versehen: Lieber Nikolaus! Ich bin kein Ausländer und ich stinke nicht. Dieses Blatt hängte ich für alle sichtbar in den Hausflur. Die Zeichnung musste Wirkung gezeigt haben. Drei Wochen später, am Heiligen Abend hingen zwei kleine Geschenke an meiner Wohnungstür, jeweils ohne Absender. Ob eines der Überraschungen vom Nikolaus war? Es interessierte mich, aber Nachforschungen dazu mochte ich nicht anstellen. Lieber wollte ich die Lüftung des Geheimnisses dem Zufall überlassen. Der ließ mich im Stich. Ein Jahr später, am 6. Dezember kam der Nikolaus ein zweites Mal. Wieder hatte er mich übersehen. Diesmal hängte ich keine Zeichnung aus, ich entwickelte stattdessen ein Konzept. Als erste Aktion warf ich jeder Partei im Haus einen Umschlag mit von mir entworfenen Postkarten nebst einem Gruß in den Briefkasten. Bei jeder zufälligen Begegnung im Haus hielt ich einen Moment inne und grüßte ausgesprochen freundlich, ohne Übertreibung oder sogar Ironie. Da einige Mitbewohnerinnen nach 30 Jahren schon betagt waren, ergriff ich jede Gelegenheit, Ihnen auf dem Treppenhaus behilflich zu sein, indem ich schwere Taschen trug, auch wenn ich mich auf dem Weg in eine andere Richtung befand. Kurzum, ich versuchte den Stillstand zu überwinden und ging aktiv auf jeden einzelnen Mitbewohner zu. Im dritten Jahr des Nikolaus hatten meine Aktivitäten noch keine Früchte gezeigt, denn der Nikolaus übersah mich erneut. Im vierten Jahr kam der Nikolaus auch zu mir. Dann, im fünften Jahr blieb er unerwartet ganz weg und tauchte seither nicht wieder auf. Das brauchte er auch nicht. Die Anonymität ist verschwunden, eine Nachbarin kümmert sich um meine Post, wenn ich länger als ein paar Tage nicht im Haus bin, eine andere übernimmt wichtige technische Termine in meiner Wohnung wie Ablesen des Heizungsverbrauchs. Ich spiele als Dank das ganze Jahr über den Nikolaus und hänge nach jeder hilfreichen Tat meinen Nachbarn eine kleine Überraschung an die Wohnungstür.

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