vonErnst Volland 06.09.2023

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

Mehr über diesen Blog

Kapitel 10

Wie in einem Film flimmert diese Erinnerung in meinem Kopf, Schritt für Schritt, Station für Station, Satz für Satz, ausgelöst durch die Gedanken um das gestohlene Bild und die Personen, die unmittelbar und aktuell mit diesem Bild zu tun haben. Der Aufschein der Erinnerung ereignet sich in Sekundenschnelle, gleichwohl es sich um eine längere Sequenz aus der Vergangenheit handelt, die sich über zwei Tage erstreckte. Raoul Dufy, ich buchstabiere diesen Namen und sehe wieder die leicht kolorierte Hafenszene mit den weißen Tupfern auf dem hellblauen Meer, naiv gesetzt, mit einem feinen, dünnen Pinsel. Raul oder Raoul, über die Schreibweise bin ich mir nicht mehr ganz sicher, Dufy aber Dufy mit f und y, Dora Maar, Picasso.

Die Galerietür springt auf. Die Freundin und Agentin des ausstellenden Malers, Frau Pizzalotti, steht einen halben Meter vor mir. Sie nimmt die Gucci Sonnenbrille ab und wedelt damit vor meinem Gesicht. Ihre stark geschminkten Augen starren mich an. Die mit viel Haargel gestärkte, pechschwarze Pagenfrisur bewegt sich keinen Millimeter. So nah vor mir, sehe ich die signalrot gemalten schmalen Lippen. Die Bemalung geht über die Lippenränder hinaus, um den Mund größer und voller erscheinen zu lassen. Die hohen Wangenknochen zittern unter der mit viel Rouge betupften Haut, ein Netz von feinen Faltenlinien unterhalb der Augen ist unübersehbar. Sie muss Mitte Vierzig sein, ein Alter in dem Frauen beginnen nervös zu werden, was ihr Äußeres angeht. Ihr graues Kostüm sitzt perfekt am schlanken, durchtrainierten Körper. Im Ausschnitt entdecke ich den Ansatz einer Tätowierung. Der aus der weißen Bluse herausragende Teil zeigt das Ende einer Schlange oder eines anderen Reptils.

Guten Tag !“, sagt sie, sonst nichts. Ich blicke durch sie hindurch.

Es gibt Personen, die bedienen ein Klischee und merken es nicht. Die vor mir stehende Dame merkt es nicht und bedient es, das Klischee einer gewollt emanzipierten und äußerst selbstbewussten Frau, die alles im Griff zu haben scheint. Nur das Wedeln mit der getönten Brille passt nicht zu diesem Klischee. Es drückt ein völlig übertriebenes, arrogantes Verhalten aus, jedenfalls in meinen Augen. Die Brille bewegt sich einen halben Meter vor meinem Gesicht.

Frau Pizzalotti kennt ihren Stellenwert im künstlerischen Schaffen ihres Partners. Sie kann die entscheidenden Begriffe wie Marketing, Kulturmanagement, und „Promoschn“ vorwärts und rückwärts und ohne jede Mühe, dreisprachig buchstabieren.

Seit Ausstellungseröffnung kommt sie fast täglich zu unterschiedlichen Zeiten in die Galerie, kontrolliert den Verkauf, die Hängung der Bilder, Licht und Klima.

In der letzten Position, der in Museen vorgeschriebenen Zimmertemperatur, hat sie Großzügigkeit bewiesen und ist von der Forderung zurück getreten, klimatische und museumsgerechte Leistungen zu fordern. Mantem sah sich schon genötigt, in jeden der drei Räume eine Klimaanlage zu installieren, da Pizzalotti ihn über die Standards klimatischer Bedingungen bei der Bedeutung des Künstlers hinwies, und überhaupt bekäme sie ein „flaues Gefühl im Magen“, wenn sie sich den konservatorischen Aspekt der Ausstellung näher anschaue.

Frau Pizzalotti huscht einmal durch die Galerie und ist schon wieder draußen. Der Verlust des Bildes ist ihr nicht aufgefallen.

Ich ziehe die Schublade meines Schreibtisches auf, finde einen alten eingepackten Kaugummi, auch noch einen zweiten, und halte plötzlich ein Foto mit Carol in der Hand, auf dem wir zusammen abgebildet sind und mitten auf dem S. Marco Platz in Venedig stehen. Wir bewegen uns nicht, obwohl etwa zehn Tauben an uns kleben.

Italien. Der ganze Stiefel, von Sizilien bis zum Comer See, liegt mir quer im Magen beim Anblick des Fotos, und der Erinnerung an die dort verbrachte Zeit. On the Road, wir beide, Carol und ich, in ihrem Strich- Achter Diesel, dunkelgrün. Sie am Steuer, die filterlose Zigarette im prallroten Mund, die Brüste wippten leicht bei jeder Unebenheit der Straße und dem weißen T- Shirt. Überhaupt ihre Brüste, von denen viele Männer annahmen, dass sie sehr groß waren, was in keiner Weise stimmte. Sie waren weder groß noch klein, sondern genau richtig. Jetzt im Augenblick an sie zu denken, kann sentimentale Gefühle hervorrufen, zu Sehnsüchten verführen, zwischen ihre Schenkel zu fassen und den Kopf zwischen ihrer Brüste zu legen.

Einige Stunden vor dem Fototermin vögelten wir am Fenster des Hotels im Stehen a tergo, mit Blick auf die breite Öffnung des Canale Grande. Die Sonne legte sich glitzernd auf die kurzen Wellenkuppen, die ein heißer, sanfter Südwind wie glänzende Schuppen eines Fisches erscheinen ließ. El Torro hieß das Hotel. Bis spät in die Nacht rieben sich die anlegenden Vaparettos an den Planken der schaukelnden Haltestelle in unmittelbarer Nähe und erzeugten durch das klatschende Wasser ein schmatzendes Geräusch, bis kein Boot mehr fuhr. Wir wunderten uns über den spanischen Namen des Hotels an einer Ecke des Markus Platzes, der zum Inbegriff der italienischen Kultur und Geschichte gehört.

Am Steuer rührte sie keinen Tropfen an. Zum Essen trank sie immer Bier, selten Grappa, der in vielen deutsch-italienischen Restaurants gern zur Rechnung gratis ausgeschenkt wird. Wenn wir in Italien ab und zu ein Restaurant aufsuchten, dann schien die Person oder der Körper von Carol einen solchen Eindruck auf das männliche Personal auszuüben, dass uns schon ein Prosecco angeboten wurde, bevor wir das Essen bestellten. Wir sahen so gut wie keinen Italiener Grappa trinken. Den letzten Saft ausgepresster Traubenstrunkreste, einen Trester, den sich traditionell die Weinbauern für die eigene Küche brannten, und auf wenige Flaschen zogen, als Massenware weltweit als Grappa zu verbreiten, ist eine sehr junge Geschäftsidee. Am Grappa selbst sind die Italiener wenig interessiert, am anderen Geschlecht, das aus dem Norden kommt, schon eher.

Italienische Kellner sind sehr clever und charmant, sie können sich auf jede Kundin einstellen und wie eine Prinzessin bedienen. Carol forderte durch ihre bloße Anwesenheit ihren Machismo heraus, mit ihrem körperlichen Profil, das auf die junge italienische Frau passte, wie man sie aus den Filmen von Vittorio de Sica oder Fellini kannte, sie war sozusagen die blonde, nordische Variante, ohne kühl zu wirken. Mir war das in Deutschland überhaupt nicht aufgefallen oder sie hatte dort nicht die Wirkung auf Männer, wie in Italien.

Man konnte das bereits beim Grenzübergang bemerken. Der erste Grenzbeamte hielt uns an. Alle anderen wagen winkte er durch.

Bei der Frage, ob wir etwas zu verzollen hätten, starrte er schamlos auf Carols verschwitztes T- Shirt, dass ich die Befürchtung hatte, er werde seinen Oberkörper durch das Fenster klemmen, und für lange Zeit die Weiterfahrt blockieren.

Es war auf unserer ersten Fahrt nach Italien. Nach dieser Erfahrung einigten wir uns darauf, zukünftig vor dem Eintritt in das Land, in dem die Zitronen blühen, das Steuer zu wechseln. Niemand konnte wissen, dass es nur der Auftakt, zu einem Dauerflirt italienischer Männer war. Ich bin selbst ein Dunkler Typ, sogar etwas größer als der Durchschnittsitaliener, in dieser Sache war ich jedoch machtlos. Für die italienischen Männer existierte ich nicht, sie nahmen keine Notiz von mir. Ihre mentale und physische Konzentration richtete sich auf meine Begleitung. Das Begehren der Männer parierte Carol stets mit einem freundlichen Lächeln, das Offenheit und Akzeptanz zum Gegenüber signalisierte. Auf mich wirkten die Blicke der Männer stimulierend, sie erregten mich, denn ich wusste, dass keiner der Blickenden zum Fickenden wird. Carol liebte mich, und keine liebende Frau ersetzt spontan einen geliebten Mann durch einen anderen. Sie war treu, sie bestand auf Treue und erwartete diese ebenfalls von mir. Obwohl Statistiken zum Thema Fremdgehen immer wieder ähnlich gleich hohe Prozentzahlen bei Männern und Frauen veröffentlichen, kommt es mir vor, als ob Frauen nie fremd gehen.

Ich könnte eine schiefe Nase und zwei abstehende Ohren haben, meinte Carol nach einem Glas Wein, als wir das Thema Fremdgehen streiften, und sie eine kurze Passage aus der Zeitschrift Brigitte zum Thema zitierte. Mein Aussehen sei ihr völlig gleichgültig, da sie mich liebe.

Natürlich fühlte sich Carol durch die Flirts geschmeichelt. Sie verstand aber andererseits jede Begegnung mit dem anderen Geschlecht als Spiel und spielte mit.

Mit einem durchgängigen Riss zerteile ich das Foto in der Mitte. Die beiden Teile sinken langsam in den Papierkorb. Ich nehme die Stücke wieder heraus und zerreisse die übereinandergelegten Fragmente so lange, bis sie sich zu einem Knäuel verschoben haben. Dann flattert das Puzzle Foto noch einmal in den Korb. Der symbolische Akt verschiebt meine Sentimentalität in Traurigkeit, einen Zustand, den ich im Kontext einer Beziehung bisher noch nicht kannte.

Du musst durch das Leiden durch, Trennung ist wie ein kleiner Tod, bringt dir aber auch neue Erkenntnisse,“ war einer der vielen Sätze, die ich erinnere,bei meinen chaotischen Gesprächen mit Personen aus dem Bekanntenkreis. Leiden? Tod? Ich will nicht leiden, ich bin nicht Jesus Christus, ich will meinen Spaß. Beim Gedanken an das Wort Spaß zucke ich zusammen. Alles Positive, Freude, Lachen schien zur Zeit ausgeblendet und obwohl die Tage immer länger werden, verdunkelt sich für mich der Horizont von jeder Position, auf der ich stehe. Die Luft erscheint in einem gleich bleibenden Grau, auch wenn die schon hoch stehende Sonne die Stadt in das immer wiederkehrende Helligkeitsspektrum taucht.

Das Telefon klingelt. Ich lasse es klingeln, bis der Anrufbeantworter eingeschaltet ist.

Hallo, wie geht’s, wie steht’s? Wahrscheinlich schlecht, wie ich dich kenne, haha. Also, da habe ich was für dich. Du brauchst einen Therapeuten, einen Gesprächstherapeuten. Eine gute Bekannte macht das schon ein paar Jahre. Sie hat noch Kapazitäten frei. Ich war auch schon bei ihr. Telefonnummer 7918868 oder Handy. Ruf mich an. Bis dann, mach’s gut.“

Dann folgt ein Name, der nicht zu verstehen ist. Ich spule das Band zurück, lasse den gesprochenen Text noch einmal durchlaufen und entscheide mich, die Nummer nicht zu notieren. Den Namen kann ich nicht erkennen.

Mein unkontrolliertes, spontanes Sprechen mit jedem, den ich sofort motivieren konnte, meine Misere anzuhören, barg gefährliche Momente und zeigte Blößen, die ungeschützt irgendwann von Nachteil für mich werden könnten. Ich habe mir eine Liste aufgeschrieben mit Personen, an die ich mich noch erinnern kann, gesprochen zu haben. Es waren fünfzehn Gespräche. Die Liste ist mir peinlich, wenn ich sie sehe, jedoch nicht, wenn ich den Drang verspüre, sprechen zu müssen.

Einige Spam-Nachrichten erscheinen auf dem Bildschirm des Computers. Kein Antiprogramm ist vor ihnen sicher. Besonders resistent sind einige Viagra Angebote, die ich wegklicke, ebenso wie geschickt formulierte Lockrufe für eindeutige Kontakte.

Obwohl der Computer in der Galerie steht, nutze ich ihn auch für persönliche Zwecke. Mantem drückt ein Auge zu. Seitdem ich Pürzel für seine Galerie an Land gezogen habe, erfahre ich etliche Annäherungen, die zuweilen ins kumpelhaft Körperliche gehen. Sie sind mir unangenehm, jedoch nicht zu vermeiden.

Eine neue Email erscheint, vertrauenerweckend mit einer gmx- Adresse versehen, also sicherlich

nichts Geschäftliches. Eine Person, die ich nur flüchtig kenne.Sie fehlt auf meiner Liste, schickt eine „dringende Information“. Ich lese:

Zehn Rettungsinseln für stürmische Zeiten!

– Nehmen Sie die Herausforderung an: Überlegen Sie, was Sie an sich selbst

verändern können. Verwandeln Sie Ihre Furcht in Energie, indem Sie

handeln, statt jammern.“

Ich unterbreche den Text und schiebe den Bürostuhl einen halben Meter zurück. Jammern, warum nicht jammern, wenn man sich wie eine ausgepresste Zitrone fühlt?

Ich rücke wieder näher an den Bildschirm.

– Analysieren Sie ihre Situation. Für einen klaren Kopf sorgt Tiefenentspannung und

Meditation.

Vor allem aber, denken Sie positiv. ‘Wo kein Wille ist’, sagte schon George Bernhard Shaw, da ist auch kein Weg. Engagieren Sie sich für Ihre Ziele, auch wenn sie unerfüllbar erscheinen. – Machen Sie eine Liste mit zwanzig Dingen, die Sie liebend gerne tun wollen., das können Sex, Surfen oder ein gemütliches Essen sein.

– Trainieren Sie, einen kühlen Kopf zu bewahren. Akzeptieren Sie Ihre Situation. Analysieren Sie, ohne sich etwas vor zumachen. Sollten Sie anfällig über die veränderte Situation in Panik geraten, halten Sie den Atem so lange wie möglich an, am besten eine Minute…..

Meine Augen überfliegen den Rest des Zehn-Punkte Kataloges, dann schieb ich die Email in den Papierkorb.

Nach einer halben Stunde verabschiede ich mich mit einigen genuschelten Sätzen von Charlotte, eine Stunde bevor ich normalerweise die Galerie verlasse. Charlotte erwidert meinen Abgang mit einem frischen „Na, dann bis morgen und nix vergessen!“ Ich ziehe die Tür zu und vergesse im gleichen Augenblick alles, was hinter der geschlossenen Tür existiert.

Der Rückweg führt mich am Cafe von Roswita und Roberto vorbei. Ohne lange zu überlegen betrete ich das Lido. Bei dieser Tageszeit, am frühen Abend, fühle ich mich nicht besonders wohl im Lido. Die Abneigung siegt über die häusliche Perspektive, den Abend allein zu verbringen. Im Lido hängen vom späten Nachmittag, bis zum Feierabend immer die gleichen drei bis vier Männer in meinem Alter herum, denen man das Single-Dasein nicht nur an der Nasenspitze ablesen konnte. Seit der Trennung von Carol habe ich einen Blick für diesen Typus entwickelt. Lang alleinstehende Männer sind an ihrem etwas heruntergekommenen Äußeren zu identifizieren. Einige können ihren unruhigen, inneren Zustand nicht mehr durch ein gefälliges Äußeres kaschieren, vernachlässigen ihre körperliche Pflege oder tragen ihre Oberhemden ein ganze Woche, ohne sie zu waschen.

Die einsamen Alkoholiker sind an ihrer oft rötlichen Gesichtsfarbe zu erkennen, den trüben Augen und Sieben -Tage Bärten, im Gegensatz zu den akzeptierten Drei- Tagebärten, die auch Frauen gefallen können. Der Alkoholiker bleibt immer Raucher, sehr gut an den Fingerkuppen zu sehen, die zum Nagelbett hin vom dunkelgelb in eine bräunliche Färbung übergehen.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/vollandsblog/2023/09/06/aus-dem-leben-eines-gescheiterten-7/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert