Es gibt Künstler, die sich total aus der Öffentlichkeit zurückgezogen haben, kein Portrait in der Öffentlichkeit wünschen, sich rar machen. Sie hüllen sich so sehr in den Mantel des Schweigens, dass man sich neugierig nach ihnen erkundet.
Andere bevorzugen genau das Gegenteil, stellen ihren Reichtum und Erfolg zur Schau und füllen Seiten in der „Gala“. Die Präsenz und Akzeptanz in diesen auch finanziell gut betuchten Kreisen garantiert den Absatz ihrer Bilder.
Lukas Pürtzel genügen die beiden unterschiedlichen Hosenbeine. Mit Frau Pizzalotti im Rücken und der ausgefallenen Idee, geheimnisvolle „Blindbilder“ zu malen, ist er schon ein gutes Stück voran gekommen, weg von der Horizontalen, auf der sich der Durchschnitt bewegt.
In der Hand hält Pürtzel die Titelseite der Berliner Zeitung. Das Verschwinden seines Bildes ist neben einer großen Titelgeschichte über einen kleinen Bären aus dem Berliner Zoo mit einigen Zeilen und einem Foto von Pürtzel erwähnt. Pürtzel ist nervös. Er brennt darauf, in die Galerie zu gehen und die leere Stelle an der Wand zu sehen.
Ich schaue auf das gelbe Hosenbein. Pürztel bevorzugt die Hosen-Variante gelb. In der Höhe des Knies schaut mich ein dunkler, zwei Euro Stück großer Fleck an, der tief im Gewebe des Hosenstoffes sitzt. Der Fleck muss sich schon lange dort befinden, aber warum fällt er mir erst jetzt auf?
Schweigend schließe ich die Tür der Galerie auf, setze mich hinter meinen Schreibtisch und warte ab. Pürtzel geht mit hastigen Schritten zur Wand, an der sein Bild mit den goldenen Streifen hing.
Mit einer ruckartigen Bewegung wirft er die Zeitung auf den Boden, setzt sich in die Hocke, stützt die Ellbogen auf die Knie und verbirgt das Gesicht hinter beiden Händen. Dann springt er auf, ruft „ Wo ist mein Werk? Wer hat mein Werk gestohlen?“
Ich weiß weder, wo es ist, noch, wer es gestohlen hat. Daher antworte ich nicht. Pürtzel kommt zu mir an den Tisch und stellt eine Reihe von Fragen, die ich fast alle mit einem Achselzucken beantworte. Er hatte erfahren, dass ich der einzige gewesen bin, der während der Tat anwesend war, und ich werde das Gefühl nicht los, dass er mich verdächtigt, in den Diebstahl verwickelt zu sein. Schließlich reagiere ich aktiver auf seine Fragen und mache ihm den Vorteil des Diebstahls schmackhaft, beginnend mit der kostenlosen Publicity durch die Presse. Er will davon nichts wissen. Für ihn ist es unvorstellbar, dass jemand seine Kunst stiehlt, eine Kunst, die tief aus seiner Seele kommt, wie er mehrmals betont. Mit ausladenden, spinnenartigen Armbewegungen, ähnlich einem Neapolitaner während des Sprechens im Dialog mit einem anderen Neapolitaner, beginnt Pürtzel seine Malerei in den Kontext der Kulturgeschichte zu stellen, vergleicht seine Arbeiten mit Malern wie Michelangelo und Andy Warhol. Sich selbst in dieser Linie zu sehen, verblüfft mich.
Ein gelbes Hosenbein zu tragen ist ungewöhnlich und zeugt von Eigenwilligkeit. Die Selbsteinordnung auf Augenhöhe mit den Giganten der Kunstgeschichte deutet eher auf Größenwahn hin. Ich muss schmunzeln. Der Anspruch entbehrt nicht der Komik, die in der Situation steckt. Der Kontrast zwischen Michelangelo und Pürtzel kann nicht größer sein und somit entsprechend die Fallhöhe, in der sich gerade Pürtzel befindet. Man stelle sich vor, Michelangelo hätte die Absicht, mit verbundenen Augen den Zyklus für die Sixtinische Kapelle zu malen. Er wäre sicherlich von seinen Auftraggebern, dem Vatikan und Papst Julius II. daran gehindert worden.
Mit einer kleinen Espressotasse in der Hand, versuche ich Pürtzel eine Pause schmackhaft zu machen. Der lehnt die Einladung ab und verlässt ohne Gruß die Galerie.
Vielleicht mache ich mir den Spaß und male das Streifenbild einfach selbst noch einmal neu und bringe es dort an, wo das gestohlen Bild hing. Nur wenigen würde auffallen, dass es nicht das Original ist. Aber dann sehe ich in dieser Wiederholung keinen eindeutigen brauchbaren Sinn, eher einen Gag, den zu realisieren jedoch zu aufwendig werden könnte. Außerdem ist die Sache jetzt ins Rollen gekommen, die Kripo war schon da, Mantem möchte die Variante mit der Versicherung durchsetzen und er ist nach meinen Kenntnissen nicht mehr an einer Aufklärung des Falles interessiert. Ich bin sogar davon überzeugt, dass er auf keinen Fall das Bild wieder zurück haben möchte.
Am Abend, allein in der Wohnung, überfällt mich eine depressive Attacke. Wie immer laufen Radio und Fernseher gleichzeitig und bilden einen Geräuschkulisse zur Vermeidung von Einsamkeitsgefühlen. Es ist kühl in der Wohnung. Unter der heißen Dusche fange ich an, einen Ohrwurm auf zuschnappen, der mich nicht mehr los lässt. Es ist ein Song der Gruppe Oasis, der in einer Endlosschleife durch meinen Kopf schwirrt und nicht zu bremsen ist. Trotz äußerster Anstrengung gelingt es mir nicht, den Titel des Songs mit seinem Namen zu nennen, denn dann hätte ich eine Chance, die Melodie aus meinem Kopf zu entfernen. Ohne den Namen des Titels suche ich immer wieder nach dem Titel und verlängere somit die Melodie. Dann finde ich zufällig einen zurückgelassenen roten Slip von Carol zwischen zwei kleinen Schränken im Bad. Die Melodie ist sofort aus dem Kopf, der Duft von Carols Körper tritt an ihre Stelle.
Bei mir hat sich die Vorstellung eingenistet, dass es ohne Carol nicht mehr geht. Sie muss zurück kommen, basta. Von all den Beziehungen, die ich bisher hatte, war sie die beste. Ich weiß, ich bin nicht in der Lage, eine normale Beziehung zu führen, denn wenn es mit Carol optimal war und ich die Beziehung zum Scheitern gebracht habe, dann kann es dafür keinen Ersatz geben. Entweder ich ändere meine Verhaltensweisen in der Beziehung mit Carol oder bleibe den Rest meines Lebens allein. Bei diesem Gedanken setzt die depressive Phase ein und verursacht sofort Schmerzen in der Herzgegend.
Mit langsamen Schritten öffne ich die Balkontür, stelle mich an das Geländer und schaue in die Tiefe. Mein Herz schlägt laut, ohne dass ich es höre. Es scheint sich im Brustkorb zu bewegen und raus zu wollen, wie ein junges Tier in der Fruchtblase des Muttertieres.
Wenn ich jetzt einfach hinunter springe, mit einem Satz, ohne zu überlegen, dann hat alles ein Ende.
Keinen Schmerz mehr, keine Zukunftsängste, kein Beziehungsproblem, keinen stumpfsinnigen Job in der Galerie. Es wäre die Erlösung. Aber auch keine Tochter mehr.
Nein, ich springe nicht.
Es ist noch nicht lange her, als sich eine Schulkameradin von Veronika, zwölf Jahre alt, an ihrem Bettpfosten des doppelstöckigen Bettes erhängte. Die Mutter saß im Nebenraum und schaute die Sendung „Wer wird Millionär“. Auf der Beerdigung weinten alle, auch ich. Es kann ein Unfall gewesen sein, man hat den Hergang und das Motiv nie entschlüsseln können. Auf dem Weg vom Friedhof sprach ich eindringlich mit meiner Tochter. Ich versuchte sie von der Einmaligkeit und der Schönheit des Lebens zu überzeugen und dass man nicht aufgeben sollte, niemals. Dabei stellte ich mich an einen Baum am Straßenrand, kratze an der Rinde, hielt Veronika ein Stück des würzigen Holzes unter ihre Nase und gab ihr zu verstehen, dass sie noch tausend ähnliche Genüsse auf sie warten.
In etwa zwei Sekunden fällt der Körper vom 5. Stock in die Tiefe. Der Tod tritt direkt beim Aufprall ein. Ist das sicher?
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, auf Augenhöhe, küssen sich zwei Menschen hinter einem verschlossenen Fenster.
Aus der Wohnung unter mir steigt Bratenduft. Hängt mein Leben jetzt an einem seidenen Faden?
Krampfhaft suche ich nach einem Sinn, der jenseits von Küssen und Bratenduft liegt. Beides steht mir nicht zur Verfügung. Wo ist das Licht am Ausgang des Tunnels. Warum weiter leben?
Das Telefon klingelt. Der schrille Ton zieht mich in das Innere meiner Wohnung. Der schrille Ton setzt sich fort, ich zögere, dann greife ich zum Hörer. Maria, eine langjährige Freundin ist am Apparat. Sie empfiehlt mir eine Bachblütentherapie, von der ich noch nie etwas gehört habe. Sie sei sehr sanft und bestehe aus der Anwendung von Blütenblättern.
Meine Frage, ob man diese essen muss, versteht sie nicht und ruft bei ihr sofort eine negative Reaktion hervor. Sie will Ernst genommen werden mit ihrem Angebot und reagiert empfindlich auf Ironie. Dabei habe ich nicht die Absicht, ironisch zu sein. Alles Zynische und Ironisierende ist von mir abgefallen, eigentlich wäre ich für eine Bachblütentherapie prädestiniert. Dennoch bin ich nicht überzeugt. Von den Farben der Blüten und ihrer Anordnung geht eine heilende Wirkung aus, meint Maria mit leiser Stimme.
Ich lade Maria spontan zu einem Wein ein. Sie lehnt ab. Ich lege auf.
In manchen Nächten höre ich einen Nachbarn, dessen Wohnung direkt neben meiner liegt, mit einer Freundin nach Hause kommen. Der Nachbar ist Tenor in der Komischen Oper.
Nach genau fünf Minuten schreit die Freundin so laut beim Geschlechtsverkehr, dass ich mich sofort auf das Sofa des zweiten Raums in der Wohnung zurückziehe. Auch dort verfolgt mich schwach das vom Schrei in Stöhnen übergegangene Geräusch der Frau. Dann schlafe ich ein.
Die letzten Autos fahren durch die Nacht, wenn es hell wird, die ersten. Die Stadt erwacht. Aufstehen, Kaffee kochen, Kaffee trinken, duschen, rasieren, anziehen, aus dem Haus gehen, Arbeit.
Jeder Tag ist ähnlich, nie gleich. Aus den Häusern strömen die Menschen zu ihren Autos und Bussen. Ich nehme heute das Fahrrad, um in die Galerie zu kommen.
Einige Zeitungen haben bereits über den Diebstahl berichtet. Manche nutzen die Meldung für ein persönliches Portrait von Lukas Pürtzel. Die Kontakte mit den Journalisten liefen an mir vorbei. Die Presse sprach ausschließlich mit Mantem und Pürtzel. In zwei Zeitungen sind Fotos abgebildet, jeweils mit Pürtzel vor Bildern in seinem Atelier. Ich googele alle Informationen im Zusammenhang der Ausstellung. Neben der sachlichen Information über den Diebstahl berichteten fast alle Positives über die Ausstellung und den Künstler.
Um diese frühe Uhrzeit, es ist kurz vor zwölf Uhr, war bisher noch kein Besucher in der Galerie. Heute sind es schon über zehn Personen, die von der Veröffentlichung angelockt wurden und neugierig die Galerie betreten. Mantem ließ kein neues Bild an die leere Wand hängen. An die freie Stelle klebte er Ausschnitte und Ausdrucke der Zeitungen über den Diebstahl, die er in aller Frühe selbst angebracht haben muss. Am Abend zuvor war noch kein einziger Artikel zu sehen.
Charlotte taucht mit einer Zeitung unter dem Arm Punkt zwölf Uhr in der Galerie auf.
Wir trinken einen Espresso zusammen und sprechen über die Berichterstattung in den Medien.
Mit so viel Resonanz haben wir beide nicht gerechnet. Dann wechselt Charlotte das Thema. Sie möchte heute nicht wie verabredet mit mir essen gehen, sondern an einem anderen Tag. Als Alternative bietet sie mir einen gemeinsamen Gang ins Kino an. Sie befürchtet, ich erzähle bei unserem Treffen zu viel über Carol. Dann zieht sie auch ihr Kinoangebot zurück und empfiehlt mir ein zweistündiges Holotropisches Atmen, entwickelt von einem Ungar mit dem Namen Stanislaus. Man liegt bei diesem therapeutischen Atmen auf einer Matte, hört sanfte Musik und lauscht gleichzeitig seinem Atem.
Sie hat Recht, meine Gedanken kreisen immer wieder um Carol. Der Diebstahl und die Folgen haben das permanente Druckgefühl in der Magengegend zwar etwas abgefedert, es ist jedoch immer noch präsent. Unter dem stressigen Druckgefühl, das wie ein schwerer Steinblock auf mir lastet, spüre ich eine leichte Bewegung, einen befreienden Luftzug, den ich verfolge, der stärker wird, wieder verschwindet, um dann um so deutlicher wieder zu erscheinen. Carol bleibt.
Mantem betritt die Galerie. Er ist bester Laune. In seiner Begleitung befindet sich ein Ehepaar, das mir flüchtig vorgestellt wird. Dann führt Mantem die beiden durch die Galerie. Er tänzelt um das Ehepaar herum, fuchtelt mit den Händen in der Luft, deutet auf einige Stellen vor den Bildern, hebt den Zeigefinger und wandert zum nächsten Bild. Nach dem Rundgang gehen alle drei mit einem knappen Gruß in meine Richtung aus der Galerie. Zwei Minuten später kommt Mantem wieder zurück. Er holt seine Brandy-Flache aus dem Schränkchen, schenkt diesmal nur sich selbst das Glas voll, und trinkt das braun glänzende Getränk mit einem Schluck herunter. Sein zufriedener Gesichtsausdruck wird noch zufriedener. Ich erfahre, dass der Bauunternehmer und Kunstliebhaber, dessen Namen ich noch nie gehört habe, gerade vier Bilder reserviert hat, denen ich sofort einen roten Punkt verpassen soll. Ich ziehe die Schublade für Büroutensilien auf, finde den dünnen Streifen mit aufgeklebten grünen und roten Punkten, und schreite mit Mantem die gerade verkauften Bilder Schritt für Schritt ab. Vor jedem Bild zeigt Mantem mit einem Finger, an welcher Stelle er den roten Punkt angebracht haben möchte.
Die Fixierung des 1-Euro großen roten Aufklebers begleitet er jedes Mal mit einer Art Posaunenstoß, den er zwischen den Lippen durch Blähung seiner Backen hervor presst und mich an einen Sketch von Loriot erinnert, in dem dieser in einer Szene, am Fuße des Weihnachtsbaums, eine CD in den Händen haltend, die kurze Passage einer Marschmelodie, ich glaube mich an den Radetzymarsch zu erinnern, intoniert. Taramtamatamm, Taramtammtamm., dadieda dadieda.
Das Verhalten von Mantem entbehrt nicht der Komik, die ihm selbst nicht auffällt. Für ihn scheint dieser „Rote-Aufkleber-Tanz“ der Ausdruck höchster Freude und Glück zu sein.
„Vier Bilder auf einen Streich, vier Bilder“, ruft er immer wieder entzückt in den Innenraum der Galerie, in dem sich im Augenblick niemand aufhält. In seiner Euphorie bemerkt er nicht meine schlechte Laune, die diesmal nicht aus dem Erinnerungsareal der Carol’schen Beziehung herrührt, sondern aus der Demütigung, die Mantem erzeugt, wenn er mich von Bild zu Bild schickt, um die kleinen Aufkleber anzubringen. Er klebt diese Punkte nicht selbst an die Wand. Er führt mich wie ein Ochse am Nasenring von Bild zu Bild und demonstriert mit dieser Geste das Verhältnis von Herr und Knecht. Ich hatte mich bisher immer auf Augenhöhe mit ihm gesehen, auch wenn ich in seiner Galerie in einer Art Angestelltenjob arbeitete. Mantem kennt meine künstlerische Produktion, er weiß, dass auch ich gern bei ihm ausstellen möchte. In dieser Sache einmal angesprochen, vorsichtig, und nur in Andeutungen, verhielt er sich ambivalent, druckste herum und schob die Angelegenheit auf die lange Bank.
Inzwischen habe ich Erfahrungen mit solchen Kommunikationsformen und kann ihre wahre Aussage analysieren. Mantem kann mir gegenüber nicht eindeutig Nein sagen, ich bin ihm als Person durch meine permanente Präsenz zu nahe. Wäre ich für ihn ein unbekannter Künstler und käme mit einer Mappe oder einem Laptop in die Galerie, wäre ich wie hundert andere nach drei Minuten wieder draußen. Sein unbestimmtes Verhalten kann man sogar nachvollziehen, meine Arbeiten sind nicht „heiß“, folgen keinem Trend und haben etwas Unspektakuläres. Es ist seine Galerie und er entscheidet, was er ausstellt. Dabei versucht er das finanzielle Risiko niedrig zu halten, indem er auf Künstler setzt, die sich auf dem Markt bewährt haben und gut verkäuflich sind.
Ich entschuldige mich für ein paar Minuten und gehe am verdutzten Mantem vorbei vor die Tür auf die Straße. Dort atme ich tief durch, denke dabei an einen ungarischen Atemtherapeuten, den ich jetzt gut gebrauchen könnte, und laufe an den Geschäften vorbei zu einem kleinen Park.
Der Weg führt zwanzig Meter in eine Senke an einen künstlich angelegten Teich. Eine Bank steht
direkt am Wasser. Den kleinen und flachen Teich bevölkern immer eine Anzahl Enten, die ihren Kopf ins Wasser stecken, gründeln und wieder auftauchen. Von diesen Vögeln ist heute nichts zu sehen. Auf den Planken der Bank läuft ein ungewöhnlich großer Vogel unruhig auf und ab. Er lässt sich durch mich nicht stören, trippelt behäbig auf dem Holz hin und her. Ich bin der einzige Zuschauer, mittags kommen manchmal Spaziergänger zum Teich, setzen sich auf die Bank, die wie eine Pritsche aussieht und keine Rückenlehne hat. Es ist ein Pfau, ja, tatsächlich, ein blaugrüner Pfau, wahrscheinlich ein Männchen. Der üppige, mit den typischen Pfauenaugen besetzte Federschwanz, hängt wie eine Schleppe von der Bank zusammengefaltet herunter. Das Federrad ist geschlossen.
Jetzt hüpft der Pfau von der Bank, es sieht aus, als ob er mir seinen Platz anbieten wollte. Anstatt zu fliegen, kann ein Pfau überhaupt fliegen?, läuft er am Ufer des kleinen Sees entlang. An einem Baum bleibt er kurz gurrend stehen, schlägt, mir die Rückenansicht zugewandt, mit seinen rasselnden Federn ein Rad, lässt die Federn wieder zusammen schnurren und verschwindet im dunklen Gebüsch.
Zurück in der Galerie suche ich sofort nach „Pfau“ im Internet. Es ist tatsächlich ein blauer männlicher Pfau. „Trotz ihrer Größe und des langen Schwanzes können auch männliche Pfauen fliegen, jedoch weder weit noch hoch. Bei Gefahr erheben sie sich in die Luft, flüchten ins Gebüsch oder suchen auf einem Baum Schutz. Auf Bäumen verbringen sie auch die Nacht, um vor Raubtieren geschützt zu sein.“
Ein Pfau, mitten in der Stadt.
In diesem Augenblick kommt mir die Idee, die sich rudimentär schon vor einiger Zeit angekündigt hatte, jedoch lange im Ungefähren schlummerte. Der überraschend aufgetauchte Pfau gibt den entscheidenden Impuls für eine geplante Aktion, mit der ich schon lange schwanger gegangen bin. Wer weiß, vielleicht hat sie eine solche Wirkung, dass Carol wieder auf mich aufmerksam wird, vielleicht zurück kommt.
Ich werde einen Künstler erfinden, seine Bilder malen, einen Namen und seine Biografie erfinden und ihn dann in die Kunstszene einführen. Es soll keine Fälschung werden, nein, keine Fälschung, eher ein Fake, also eine Simulation. Eine Fälschung ist eine Fälschung, also eine Lüge. Es geht mir nicht um Geld, das man durch eine geschickte Fälschung verdienen kann. Es geht mir darum, einmal selbst durchzuspielen, wie ein frischer Künstler von Galeristen, Journalisten und Sammlern lanciert wird und dadurch einen Marktwert bekommt, auf den sie dann kontinuierlich wieder Einfluss nehmen können.
Ich muss mit vertrauten Person darüber sprechen, was nicht ungefährlich ist, da ein Fake in aller Stille, hinter verschlossenen Türen mit dem Stempel „Top secret“ durchgeführt werden sollte. Es macht keinen Sinn, einen Fake zu etablieren, den von Beginn an ein Dutzend Personen kennen. Niemand kann einen Sack mit Flöhen zubinden, denn nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird eher einer von Zwölf mit anderen über den Fake plaudern, als einer von Drei. Aber noch ist alles nur ein Gedankenspiel.
Jack ist der richtige Mann, Jack wird in meine Fake-Geschichte eingeweiht, mit ihm werde ich heute im Lido sprechen.
Wir beide sind Brüder im Leiden. Vor Kurzem hat sich die Frau von Jack von ihm getrennt, nach zwanzig Jahren, von einem Tag auf den anderen.
Vor einer Woche saßen wir wir zusammen, zwei Männer, die nur ein Thema an diesem Abend kannten: Frauen, die weglaufen und die möglichst wieder zurück kommen sollten. Der Abend mit Jack war sehr angenehm. Einen klugen und sympathischen Leidensgenossen zu finden, der jedes Detail der Trennung und ebenso das Spektrum des Trennungsschmerzes nachvollziehen kann, ist selten. Dabei konnte es nicht ausbleiben, dass ein Bier nach dem anderen bestellt wurde und später der gemeinsame Getränkewunsch in 4cl Wodkas überging. Jack neigte an diesem Tag zu Monologen.
„Genau, ja genau wie bei mir, genau das gleiche Muster. Da kannst du reden und reden, so viel du willst, die sind alle gleich, können wir noch Zweibierhaben? Guck mal, die da drüben und dann hab ich gesagt, das geht nicht, das kannst du nicht machen, wer bist du denn, genau so, genau so wie bei mir, und dann ist sie doch, du kennst das ja, genau, das ist das Letzte, ich wollte ja die Finger davon lassen, von der anderen, aber nach zwanzig Jahren mit derselben, also, das war mal wieder fällig, ich hab mir nix dabei gedacht, wollte nur mal probieren, obs überhaupt noch geht, hamse doch alle gemacht, große Literatur ist da draus geworden, nicht nur bei Henry Miller, wenn du den noch kennst, die Franzosen sind da ja besonders gut, haben was drauf, Erotik, da geht was ab. Können wir noch Zweibierhabn, die Weltliteratur iss voll davon, Männer gehen nu mal fremd, na und, ich bin vielleicht ’nbischen zu oft aber, ich hänge an ihr und ich will die wieder zurück sonst keine, können wir noch Zweiwodkaham?“
Wir kennen uns von einer zufälligen Begegnung in einem der vielen internationalen Restaurants hier im Stadtviertel. Das preisgünstige Tagesmenü, mit einem Angebot von acht verschiedenen Gerichten für je fünf Euro, lockt zahlreiche Gäste an, die in der Gegend arbeiten. Die meisten Gäste kommen aus einem Fabrikgebäude, in dem sich Verlage und Druckereien befinden. Am Tresen der „Mundbar“ liegen etliche Tageszeitungen aus, die häufig benutzt werden. Jack wartete eines Tages auf die Rückgabe einer FIZ, die ich in den Händen hatte. Mir war seine Begehrlichkeit nicht aufgefallen, als ich mich zum Tresen bequemte und dort die FIZ wieder an der üblichen Stelle deponierte. Bevor sie lag, fragte er höflich, ob er sie lesen könnte. Die Frage war etwas unsinnig für mich, da ich die Zeitung ja gerade zurück legte, bis ich verstand, dass er eine höfliche Floskel benutzte, die grundsätzlich eine Kommunikation leichter macht, aber auch etwas über seinen Charakter aussagte.
Seit dieser flüchtigen Begegnung setzen wir uns, jeweils aus einer anderen Richtung kommend, immer an einem Tisch in der Mundbar zusammen, bestellen meistens das preisgünstige Menü und unterhalten uns über lokale Ereignisse, oft auch über bundespolitische Themen, informieren uns gegenseitig über die Fußball-Bundesliga und die amerikanische Basketball Liga NBA, empfehlen auch mal ein Buch, und sprechen über erhöhte Krankenkassen-Beiträge.
Jack meint, er sei zu groß gewachsen, mit seinen 1,97. Er legt Wert auf die drei Zentimeter unterhalb zwei Meter.
Ich öffne heute schon um sechs Uhr die Tür vom Lido. Jack sitzt bereits allein an dem Tisch, an dem er immer sitzt, wenn dieser frei ist und liest die FIZ. Er trägt ein weißes Hemd und Jeans. Eine andere Kombination habe ich bisher nicht bei ihm gesehen. Über der Stirn lichtet sich das kurze dunkle Haar, die Ohren stehen etwas ab, am Kinn changiert der kurz geschorene Bart zwischen schwarz und grau. Jack hat einen Bart, den er pflegt, auch wenn er manchmal wie ein Fünf-Tagebart aussieht. Die Brillengläser sind in ein dünnes aber stabiles Draht-Gestell eingefasst. Die gesamte Brille erweckt den Eindruck, für seinen langen schmalen Kopf etwas zu klein zu geraten zu sein. Man könnte den Effekt der Brille für eine intellektuelle Adittüde halten, die Personen einsetzen um intelligent auszusehen. Jack ist intelligent, sehr sogar, wie ich im Laufe der Zeit entdeckte. Er legt keinen Wert darauf, mit einem körperlichen Accessoire besonders aufzufallen. Seine Dioptrinwerte hatten sich in den letzten fünfzehn Jahren nicht geändert und so lange trägt er auch schon seine Brille. Ich merkte mir solche Einzelheiten bei unseren Gesprächen in der Mundbar und erinnere mich noch an den Tag und die Uhrzeit, als wir über Brillen, Augen, Sehfähigkeit und den Führerschein sprachen.
Bei Jenny bestelle ich einen Kaffee und eröffne unseren Dialog mit der Frage, ob Jack das Wort Fake schon einmal gehört habe. Jack beginnt sofort auf die Frage zu reagieren, die Wörter sprudeln förmlich aus seinem Mund.
„Das hat ja auch etwas mit dem, wie hieß er noch, Kalau, nein Kujau zu tun und seinen Hitler- Tagebüchern. Erinnerst du dich? Das war ne dolle Sache, später mit Juhnke, Götz George und dieser unmöglichen blonden Tussi verfilmt, wie heißt sie noch, Fussel, Fasel oder so.
Der Kujau konnte dem „Stern“ in den 80er Jahren in Serie etliche Hitler-Tagebücher andrehen, ein Fall, der eine nähere Betrachtung verdient, auch schon deshalb, weil man aus den Fehlern lernen kann, falls du tatsächlich einen Fake realisieren willst. Sorry, ich bin skeptisch.
„Halt, halt, das geht mir zu schnell, was hat das alles mit meinem Fake zu tun, Jack, bitte, bleib beim Thema.“