vonErnst Volland 01.02.2024

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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Kapitel 14

Vor dem Lido bewegt sich der Verkehr in ruhigen Bahnen. Es ist angenehm warm, der Tag kann sich nicht entscheiden zur Nacht zu werden. Die Lampen der Straßenbeleuchtung sind bereits von einem imaginären unterirdischen Computer angeschaltet worden, sie zeigen jedoch auf Grund der Tageshelligkeit noch wenig Wirkung. Wir bestellen durch Fingerzeig zwei weitere Gläser Bier und setzen uns auf freie Stühle, die auf dem Bürgersteig dicht an der Hauswand des Lido stehen. Jack dreht langsam drei weitere Zigaretten, stopft zwei davon in seinen Tabakbeutel, steckt sich die Dritte mit einem Feuerzeug an und bläst genussvoll den Rauch in den Himmel.

Lass hören, wie geht’s weiter?“

Ja natürlich, mein Fake. Der geht so weiter. Ich habe einmal in Holland ausgestellt, in einer kleinen Galerie. Ja, da brauchst du nicht so erstaunt zu gucken. War eine schöne kleine und feine Ausstellung. In dieser Galerie stellte auch Joseph Beuys aus. Der Galerist sah es gern, wenn der Künstler persönlich zur Eröffnung kam, denn jeder Künstler musste ein Pflichtprogramm absolvieren. Die Aufgabe bestand zum einen im Kreise seiner Familie eine Erbsensuppe zu essen, ja wirklich Erbsensuppe, zum anderen während der Ausstellungseröffnung mit den Besuchern zu diskutieren, und dabei oder später, aus dem Stand etwas Künstlerisches vor den Augen der Besucher zu produzieren.

Ich wusste, Beuys kam damals direkt von der Hochschule aus Düsseldorf nach Holland, er hatte sicherlich auch die Erbsensuppe gegessen und er hatte, was er sehr liebte, seine künstlerischen Weltanschauungen mit Besuchern diskutiert. Vielleicht hatte er sogar ein künstlerisches Dokument zurück gelassen.

Ich telefonierte also mit dem Galeristen und kündigte meine Ankunft in den nächsten Tagen an.

Den Grund meines Besuches nannte ich noch nicht. Auch ich war damals zu meiner Ausstellung angereist, hatte meine Suppe gegessen und mit den Ausstellungsbesuchern diskutiert und auch ein Original am Abend gezeichnet.

Ich fragte den sehr freundlichen Galeristen kurz nach meiner Ankunft nach der Eröffnung der Ausstellung von Beuys und was dieser an dem Abend anstellte. Ich selbst war ja nicht an diesem Ereignis beteiligt. Der holländische Galerist, übrigens, wenn die Holländer Deutsch sprechen, das hört sich irgendwie niedlich an, niedlich ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, aber nett und irgendwie positiv. Jedenfalls bestätigte mir der Galerist die Anwesenheit von Beuys. Er sei mit dem Taxi aus Düsseldorf direkt in die Galerie gefahren und legte sofort los, über seine soziale Demokratie zu sprechen. Der Galerist hatte Beuys auf Wunsch zwei Schiefertafeln organisiert, auf denen Beuys das, was er sagte, mit weißer Kreide schrieb. Möglich, dass er seine soziale Plastik erklärte. Dann wollte ich natürlich wissen, ob die beiden Tafeln noch im Hause sind oder was mit ihnen passierte. Sie waren noch da und, jetzt halt dich fest. Kurz bevor ich bei dem Holländer auftauchte, bekam der einen Anruf von einem Käufer, der eine Schiefertafel für sage und schreibe damals 40 Tausend DM kaufen wollte, ohne sie gesehen zu haben.

Was macht mein lieber holländischer Galerist? Er geht los und sucht seine Tafeln, die irgendwo in einem Schuppen, sprich Depot, standen. Eine Tafel war hinüber. Die Hauskatze muss sie sehr geliebt haben. Die Katze schubberte im Laufe der Zeit mit ihrem Fell so verliebt an der Tafel, dass von der Beuys’schen sozialen Plastik nichts mehr zu sehen war. Die zweite Tafel war unversehrt. Die haben sie sofort konservieren lassen und im Safe einer Bank deponiert.“

Jenny stellt sich vor die Tür neben uns und raucht ein Zigarette. Sie schaut in den klaren Himmel, an dem jetzt einige Sterne zu sehen sind. Bevor sie in das Innere des Cafes verschwindet, macht sie uns auf ihren Feierabend und die Schließung des Cafes aufmerksam. „Last order“.

Wir bestellen kein weiteres Getränk. Ich rauche mit Jack eine Zigarette.

Ich sagte zu dem Galerist, Vierzigtausend sei doch ein guter Preis. Weißt du, was er mir antwortet?

Gestern hat ein weiterer Interessent bei ihm angerufen, der bot Hunderttausend für die Tafel. Hunderttausend!“

Ja und, hat er sie verkauft?“

Nein, hat er nicht. Er hat seine Schiefertafel fotografiert, ganz normal mit seiner Digitalkamera. Dann signalisierte er einem dritten Käufer, der angerufen hatte, dass er zur Beuys Eröffnung nach Berlin komme und dann das Foto persönlich zeigen werde. Da war ich dabei. Aber vorher erzählte ich dem Galeristen, was ich vorhatte.

Ich berichtete ihm vom Streit zwischen Beuys’ Witwe und dem Manager, vom Fettstuhl und von einer realen Linie die man als Lunte zuerst legen muss, damit ein Fake funktioniert.

Das Wort Fake, hatte er noch nie gehört und ich erzählte ihm von einer Simulation, die man in der Realität durchspielt, wie ein soziales Experiment. Naja, ich kürze ab.

Ja und was habe ich damit zu tun?“ fragte der Galerist schließlich.

Ganz einfach, Beuys hat bei dir hier im Haus den eigentlichen, den echten, einzig wahren Fettstuhl gezimmert, den ich dir demnächst bauen werde, hier, so einfach sieht der aus.“

Ich hielt ihm ein Foto des Beuysschen Fettstuhles hin. Er sah einen alten Küchenstuhl mit einem Fettkeil auf der Sitzfläche.

Du bist der Besitzer dieses dritten, aber für uns und bald für die Kunstszene einzig wahren Fettstuhls, denn Beuys war bei dir, er hat bei dir ausgestellt, das ist dokumentiert.“

Du meinst, ich habe einen Fettstuhl?“

Ja, genau, und er ist ganz einfach herzustellen, sozusagen keine Kunst.“

Ich sah, wie es im Gehirn des Galeristen arbeitete.

Ja, kann man das denn einfach so machen, ich meine, also, das musst du mir noch einmal erklären.“

Du musst das alles von der spielerischen Seite sehen“,

begann ich von neuem, „also in der Tradition von Dada und Happening. Das wird ein großer Spaß.“

Am nächsten Tag fuhr ich mit dem Zug zurück. Wir trennten uns mit seinen mehrmals wiederholten Worten, er denke über alles nach und käme zur Beuys-Ausstellung nach Berlin. Dann werde er sich zur Eröffnung mit dem Galeristen treffen, der großes Interesse am Kauf der Schiefertafel zeigte, und dann wäre mein Fettstuhl an der Reihe.

Gemeinsam gingen wir zur Eröffnung in den Martin-Gropius-Bau. Der holländische Galerist traf den Galeristen aus Berlin und zeigte seine Digitalfotos mit der Schiefertafel. Beide unterhielten sich angeregt über das besondere Exemplar der Tafel, auf der Beuys sehr ausführlich mit Kreisen

und Pfeilen seine Intentionen festgehalten hatte. Man kam überein, dass es sich um eine außergewöhnliche Arbeit handelt, die ihren Preis Wert sei. Der Galerist bot jetzt 250 000 Euro.

Mein holländischer Freund, mit seiner kleinen winzigen Galerie, tat etwas, was ich ihm nie zugetraut hätte, er lehnte diesen Preis ab.“

Jack rutscht in diesem Moment die dritte selbst gedrehte Zigarette aus dem Mund und fällt auf den Steinboden genau in eine winzige Wasserpfütze. Er greift mit seinen Händen, ohne den Körper zu verdrehen, nach dem brennenden Rest der Zigarette, die durch seine Berührung in der Flüssigkeit versinkt und auseinanderfällt. Sofort dreht er sich eine neue Zigarette und fordert mich auf, weiter zu erzählen.

Wo war ich stehen geblieben, ja, also. Wir sind dann in die Ausstellung gegangen, haben uns alles angeschaut, und dann habe ich ihn gefragt, warum er einen solch gigantischen Preis ablehne. Er, wörtlich:

Zuerst kommt einer mit Vierzigtausend, dann bietet einer Hunderttausend, ohne die Tafel gesehen zu haben und dieser bietet auf Grund meines unscharfen Fotos von der Schiefertafel Zweihundertfünfzigtausend Euro, dann wird es auch einen geben, der Fünfhunderttausend bietet. Und was deinen Fettstuhl betrifft, den musst du nicht bauen. Aus der Sache wird nichts. Stell dir mal vor, der Fake funktioniert und der Fettstuhl hat seine Schuldigkeit getan, was passiert dann?“

Ich wusste erst gar nicht, was er meinte. Der Galerist:

Na, das ist doch ganz klar. Wenn der Fettstuhl nicht echt ist, aber mir gehört, dann ist doch die echte Schiefertafel auch nicht echt, oder?

Mir war klar, er wollte keinen dritten Fettstuhl. Und es wäre so schön gewesen.“

Mit einer Handbewegung schnippt Jack die kalt gewordene vierte Zigarette auf die wenige Meter entfernte Straße. Bevor er mich fragt, was denn nun aus der Schiefertafel des Galeristen geworden ist, sagt er nur.

Pech, Pech. So ein Pech.“

Da hast du Recht, und los geworden ist er die Tafel sehr viel später für Hunderttausend. Die Preise für Beuys waren gefallen.“

Wir stehen auf, strecken unsere Körper, bezahlen als letzte Gäste bei Jenny und gehen wieder ohne unser Dauerthema Trennung überhaupt einmal an diesem Abend erwähnt zu haben in verschiedene Richtungen.

Zu Hause wartet Carol wieder auf mich. Ihr Geruch steckt im Spiegelschränkchen des Badezimmers. Ihr Foto steckt im Glas eines gerahmten impressionistischen Bildes, das ich irgendwann einmal abhängen werde, eine Sommerlandschaft von Monet, mit einem von rotem Mohn übersäten grünen Feld. Warum hat Carol das Bild nicht mitgenommen?

Auf dem Boden finde ich neben dem Bettpfosten einen Haarkamm, so groß wie eine Streichholzschachtel. Der kurze Kamm liegt nicht auf dem Boden, sondern lehnt senkrecht an der Fußleiste. Die Stellung ist sehr ungewöhnlich, und es ist für mich nicht nachzuvollziehen, wie der kleine Kamm es unbemerkt schaffen konnte, diese Position einzunehmen, zumal ich ihn bisher nicht bemerkt hatte. Bilder von Rene Magritte fallen mir jetzt ein, Interieures mit überdimensionalen Alltagsgegenständen. In einem Bild bestehen die beiden Seitenwände und die Rückwand aus einer Tapete mit hellblauem Himmel und weißen Wolken. Der Betrachter blickt in einen Raum, der sich auch in den Wolken eines herrlichen Sommertages befinden kann. Ein langer Kamm steht auf einem unbenutzten Bett und ragt bis an die Decke. Der Kamm ist größer als das Bett. Ein Rasierpinsel hockt wie ein schlafendes Tier auf einem Schrank. Die Mitte des Raums dominiert ein schlankes, grünes Weinglas, links liegt ein Streichholz, rechts ein riesengroßes Stück Seife. Der surreale und verblüffende Effekt besteht in der überproportinalen Größe normalerweise kleiner Alltagsgegenstände, die Magritte in einem trockenen, naturalistischen Stil malte.

Ich bücke mich, um mich zu vergewissern, dass es ein Haarkamm ist und nicht eine durch Müdigkeit und Alkohol phantasierte Wahrnehmung. Ich spreche mit dem schmalen Objekt, behandle es wie ein schutzbedürftiges, winziges Lebewesen. Der Kamm und ich, wir sind in diesem Moment beide sehr einsam. Carol steckte den Kamm morgens vor dem Spiegel beim Ordnen ihrer Frisur in ihre Haare.

Langsam drehe ich das kleine Stück weiblicher Kultur und Schönheit zwischen meinen Fingern. Die Zacken gehen von einem dunklen braunen Ton über in ein mattes Gelb. Vor meinen Auge füllt sich der kleine Kamm mit den festen blonden Haaren von Carol. Augen, Nase, Mund, ihr ganzes Gesicht erscheint vor mir, zum Greifen nah. Ich küsse den Mund und lasse mich auf das Bett fallen. Der Kamm rutscht mir aus der Hand. Ich gleite in eine andere Welt.

Am nächsten Tag stehe ich sehr früh auf und schlendere mit einigen Unterbrechungen bis zur Galerie, obwohl ich einen freien Tag habe. Mich interessiert der weitere Ablauf der Ausstellung. An einem türkischen Gemüse- und Obststand kaufe ich frische Zutaten für einen Salat, den ich mir heute selbst zubereiten werde: Schafskäse, Oliven, Petersilie, Strauchtomaten. Direkt neben den türkischen Angeboten verkauft ein sympathischer Mann mit weichen Gesichtszügen und offenem Lächeln regionale Produkte aus dem Alpenvorland. Lange habe ich den Laden nicht mehr betreten. Mit einer großen Papiertüte und altem Bergkäse, einer Krakauer Wurst und einem halben Pfund Butter verlasse ich zufrieden das kleine Geschäft.

Das Gespräch mit Jack sitzt in meinem Kopf und erzeugt ein angenehmes Gefühl, das erste positive Gefühl seit der Trennung von Carol. Mein Körper strafft und dehnt sich innerlich, es ist als ob neues Blut durch meine Adern fließt. In den nächsten Tagen werde ich Jack zu mir nach Hause einladen und für uns kochen. Ich hoffe, er hat noch nie Currybananen gegessen. Currybananen ist eins von drei Gerichten, das ich perfekt beherrsche.

Eine Stunde vor der offiziellen Öffnungszeit erreiche ich die Galerie.

Dort treffe ich Charlotte. Bevor ich mich wundere, warum sie bereits so früh in der Galerie ist, erfahre ich eine Neuigkeit, die für mich unvorstellbar ist. Pizzalotti ist tot, oder scheint tot zu sein. Am frühen Abend wurde ihr lebloser Körper in ihrer Wohnung gefunden. Ich kann diese Meldung über Pizzalotti, der Freundin und Managerin von Lukas Pürtzel nicht glauben.

Für Mantem scheint die Information schon Realität zu sein. Lukas Pürtzel schickte ihm noch in der Nacht eine SMS, die er heute morgen erst gelesen hat, wie mir Charlotte erzählte. Sie erhielt durch Mantem die Nachricht über den Tod.

Die Information kam nicht per SMS zu mir, wahrscheinlich weil ich kein Handy besitze und man mich spät in der Nacht nicht auf meinem Festnetz anrufen wollte.

Unruhig läuft Mantem in der Galerie hin und her. Er grüßt ohne mich anzusehen, nuschelt unverständliche Wörter, die ich nicht verstehe. Ihn auf den Tod anzusprechen, scheint zwecklos zu sein. Ich mache ihn darauf aufmerksam, dass sich ein Schnürsenkel am rechten Schuh gelöst hat. Hätte ich schweigen sollen? Er schaut mir mit offen stehendem Mund ins Gesicht, von der etwas vorstehenden Zunge hängt ein Tropfen Speichelflüssigkeit herunter. Der Blick von Mantem erinnert mich an einen spanischen Stier in der Arena von Gerona, vom Torero gehetzt, mit verschwommenen Augen, seinen glänzenden Schädel immer wieder auf die vom Stierkämpfer hingehaltene rote Muleta stößt. Mantem ignoriert meinen Hinweis auf seinen Schnürsenkel. Er schaut auf seinen Schuh, dann wie abwesend auf mich und wieder auf seine Schnürsenkel. Mantem sagt jetzt kein Wort und auch Charlotte schweigt.

Zuerst denke ich, es geht bei Mantem’s aufgeregtem Verhalten um den Tod Pizzalottis, bis ich genauer hinhöre und merke, dass Mantem sich Sorgen um das Bild mit den sieben Streifen macht. In seinem Hirn geistert die fixe Vorstellung, das Bild kehrt unversehrt zu ihm in die Galerie zurück, an die gleiche Stelle. Daran ist er überhaupt nicht interessiert. Wiederholt höre ich, wie er Pizzalotti verdächtigt, irgend etwas mit dem Diebstahl zu tun zu haben. Von Mantem ist kein Bedauern über ihren plötzlichen Tod zu hören.

Mantem sitzt auf seinem Stuhl und starrt an die Decke. Charlotte hat die Hände von der Tastatur des Computers zurückgezogen und in ihren Schoß gelegt. Mit gesenktem Kopf schaut sie auf ihre gepflegten Finger. Ich lehne mich an eine Wand und bewege mich nicht.

Es ist nicht Pizzalottis Tod, der für einige Sekunden unseren Herzschlag unterbricht, es ist eher die Gewissheit des eigenen Todes.

Vor der milchigen Glastür der Galerie tauchen Schatten auf. Es sind die ersten Besucher an diesem Tag. Mantem steigt zuerst aus der erstarrten Bewegung, steht auf und läuft mit kurzen Schritten langsam zu der Wand, an der das Bild mit den sieben Streifen hing. Er bleibt davor stehen, verschränkt die Arme auf dem Rücken. Dann wendet er seinen Kopf in Charlottes Richtung.

Dann lassen Sie die Meute jetzt rein, Charlotte.“

Mit einem Bleistift zeichne ich erste Skizzen meines neuen französischen Künstlers in ein linienfreies Heftchen. Auf dem Flohmarkt kaufe ich für ein paar Euro alte stabile Tapetenrollen und finde auch hell gelbe Fenster Rollos oder Jalousinen, preiswertes Material, das ich anstelle von teurem Leinen als Malgrund benutzen kann. Rollos sind ideal, sie hängen wie eine Filmleinwand herunter und haben eine Befestigung, mit der man das fertige Bild einfach an die Wand hängen kann. Die Tapetenstreifen werde ich an den langen Seiten zu großen Formaten aneinander kleben. In meinem Keller finde ich auf Keilrahmen aufgezogenes Nessel mit Motiven, die ich längst verworfen habe. Der junge Franzose ist ein unkonventioneller Typ. Er verwendet ein Mix von rohen und billigen Material für seine Bilder. Das ist originell und authentisch. Im nächsten Baumarkt besorge ich große Tuben wasserlösliche Acylfarbe. Ölfarben in Tuben sind zu teuer, der junge Franzose kann sich solch kostspieligen Materialien nicht leisten.

In meiner Wohnung räume ich eine Ecke in meinem Zimmer frei und benutze es als Atelier.

Aus den Acryltuben presse ich verschiedene Farben in zwei Plastikschüssel und Marmeladengläser.

In den vermischten Farbenbrei schütte ich Wasser zum Verdünnen der Konsistenz. Farbe, die nicht verdünnt wird und direkt aus der Tube kommt, streiche ich auf ein großes Stück Pappe eines zerlegten Umzugskartons eine provisorische Malpalette. Mein ältestes Handtuch wird zum reinigen meiner Pinsel geopfert.

Die ersten zusammengeklebten Tapetenstreifen hängen jetzt mit Tesakrepp befestigt an der Wand.

Es ist elf Uhr in der Nacht. Ich schiebe eine CD mit klassischer Musik in meine Anlage, Johannes Brahms, ziehe die CD nach einigen Takten wieder heraus, wähle einen Sender, der zu dieser Zeit oft gute Ryth’m and Blues Musik sendet und beginne das erste Werk des noch unbekannten und namenlosen französischen Künstlers.

Ich weiß nicht, wohin die Reise mit meinem Franzosen geht, aber ich denke auch nicht viel darüber nach.

Zwei Stunden später ist das erste Werk vollendet. Es zeigt einen krähenden gallischen Hahn, mit groben dicken Pinselstrichen formatfüllend (200 x 180 cm) gemalt, auf Tapete. Der Hahn kräht in der Nacht, im Dunkeln, vor tiefblauem Hintergrund, was ihn von den Abbildungen der

kraftstrotzenden Morgenhähnen unterscheidet. Diese stehen oben auf einem Misthaufen und strecken ihren Kopf mit geöffneten Schnabel in den blauen Himmel der früh aufgehenden Sonne.

Mein Hahn dagegen steht auf dem Kopf eines Mannes, von dem die obere Hälfte des Kopfes am unteren Rand des Bildes zu sehen ist. Auf dem gesamten Gefieder des Tieres liegt kein Glanz, es ist eher mit schmutzigen Farbtönen durchsetzt, ein Aspekt, den die Journalisten sicherlich aufgreifen werden.

Mein Künstler übt verhaltene Kritik an der französischen Nation durch das bekannte Symbol des Wappentieres. Er ist noch jung, er darf. Der Staat, in Gestalt eines Hahns, trampelt auf dem Kopf der Bürger herum.

Stand by me“, ein Moderator kündigt den wunderbaren und schmalzigen Song mit krächzender Stimme an. Ich höre zu und rauche ein Zigarette. Carol. Wenn sie mich jetzt sehen könnte! Die Stimme im Radio erzählt eine Geschichte über den Hintergrund des Liedes von Sam Cooke, der in den 60er Jahren unter mysteriösen Umständen in der Lobby eines Hotels in Los Angeles erschossen wurde.

Der Gedanke an Carol verschwindet, dafür erscheint Pizzalotti, mit Gucci-Brille und unbeweglicher Miene, genau so, wie sie vor einigen Tagen leibhaftig vor mir stand.

Noch weiß niemand, auf welche Weise sie gestorben ist. Es gibt einige Gerüchte, sie sei sehr krank gewesen, allerdings auch nicht so krank, dass sie von einem Tag auf den anderen stirbt.

Andere haben gehört, dass sie zu Hause verunglückt ist, man spricht sogar von Selbstmord.

Einen Zusammenhang mit dem gestohlenen Bild ist nicht zu erkennen.

Ich schaue auf den gemalten Hahn. In diesem Augenblick fallen mir drei Namen für den Künstler ein. Cha Gallione oder Mark Monett oder Blaise Vincent. Sofort schicke ich Jack eine Email mit diesen drei Vorschlägen, vielleicht kann er sich für einen davon entscheiden.

Inzwischen sitzt Jack an einer Homepage und der Email Adresse des Künstlers.

Die kurze, fiktive Biografie des Künstlers liegt Jack schon vor:

Biografie

1979 geboren in Paris. Eltern beide Künstler

1986- 88 lebt in Fontainebleau

1989 Paris

1996 erster längerer Aufenthalt in Berlin

1997- 2000 Beaux Arts, Paris Akademie de Grandes Terres. (Bei Rene Vidal)

2002 Aufenthalt in London

2003 Aufenthalt in New York

2002- 2005 Gastsemester an der Cite Internationale des Arts., Paris

öfters in Berlin

Ausstellungen

2001 Adca Longjumeau (Gruppe)

2004 bei Sandy Walker, New York (Einzel)

2005 Cite des Artes, Paris (Gruppe)

Den getrockneten Hahn trenne ich von der Wand. Für das zweite Werk benutze ich ein blaßgelbes Rollo. Die Malerei fließt mir aus der Hand, ich benutze keine Skizze, sondern gehe mit der Farbe direkt auf das Rollo. Das Bild ist nach einer Stunde fertig und zeigt Hilter und Stalin im offenen Wagen bei einer Fahrt durch den Arc de Triomphe in Paris. Da man Stalin nicht gut erkennen kann, schreibe ich den Titel mit einem Pinsel in Großbuchstaben in das Bild hinein. „HITLER UND STALIN AM ARC DE TRIOMPHE“. An eine Wand gelehnt, betrachte ich das Werk aus der Ferne. Ich bin zufrieden. Müde gehe ich ins Bett. Kurz vor dem Einschlafen stehe ich noch einmal auf und reinige die Pinsel in sauberem Wasser. Der Blick fällt auf mein Portrait von Carol. „Gute Nacht, Liebling,“ flüstere ich und schlafe ein.

Der Tod von Pizzalotti ist weiterhin Thema, auch für Mantem, der bester Laune ist, man könnte besser sagen, er ist völlig aus dem Häuschen.

Acht Tage nach Pizzalotis Tod betritt ein Mann die Galerie, der sich als Kurator und Kunstagent zu erkennen gibt und für einen ungenannten russischen Geschäftsmann alle restlichen Bilder aus der Ausstellung kauft. Mantem ist froh und gleichzeitig etwas verbittert, da der Kurator sich als harter Verhandlungspartner entpuppt, dem Mantem nur widerwillig mit großzügigen Preisnachlässen entgegen kommt. Froh, weil er nicht mehr Pizzalotti im Boot hat und er ohne ihre Einwilligung agieren kann. Lukas Pürtzel nimmt er in geschäftlichen Angelegenheiten nicht ernst, er stellt ihn vor vollendete Tatsachen.

Inzwischen liegt der Obduktionsbefund des Polizeipathologen vor und ist allgemein bekannt. Pizzalotti starb bei der Ausübung, so die Formulierung der Polizei, „extremer Sexualpraktiken“. Niemand liest den genauen Text des Berichtes, er ist nicht zugänglich. Um so mehr brodelt die Gerüchteküche, an der sich einige beteiligen, von denen ich es nicht erwartet hatte. Sogar Jack spekuliert über die mögliche Art ihres Todes. Schließlich erfahren alle die ganze Geschichte.

Pizzalotti gehörte einem lockeren Kreis von fünf Personen an, die sich regelmäßig privat zu Sexspielen trafen. Die Gruppe kontaktierte sich im Internet und kannte untereinander nur die Vornamen. Private Details wurden bei den jeweiligen Treffen nicht ausgetauscht. Anonymität war garantiert. Außerhalb des Sextermins nahmen die Beteiligten keinen Kontakt auf, weder persönlich, noch per Telefon. Man verabredete sich im Internet unter falschen Vornamen.

Lukas Pürtzel wusste nichts von den Treffen, sie wurden spontan einberufen, fanden tagsüber an verborgenen Orten statt und machten es durch diese Verdunkelungstaktik der Kriminalpolizei unmöglich, den Tod aufzudecken. Durch einen anonymen Anruf in einem Zwei Sterne Hotel fand die Polizei Pizzalotti mit Lederriemen an einem Bettpfosten angebunden. Der Besitzer des Hotels, ein Deutsch-Albaner, wurde verhaftet, wegen Mangels an Beweisen aber wieder frei gelassen.

Mantem kontaktierte die Polizei und das Hotel, um einen Zusammenhang mit dem gestohlenen Bild zu erfahren. Fehlanzeige. Es bleibt verschwunden.

Inzwischen habe ich ich drei weitere Bilder fertig, neun sollen es insgesamt werden.

Auf Packpapier male ich etwa zwanzig kleine Formate in DIN A 4-Größe, die Jack scant und auf die Homepage stellt. Jack beschriftet sie mit Titel und Formatangaben, wobei ich ihm freie Hand überlasse. Die kleinen, schreibpapiergroßen Formate stehen im Netz mit Größenangaben der Bilder zwischen 2 und 4 Metern. Einige sind als verkauft deklariert, andere befinden sich bereits in Privatbesitz, zwei von ihnen hängen sogar in Museen. Ich gehe davon aus, das niemand die Angaben recherchiert.

Die neu gemalten großformatigen Bilder tragen die Titel: „Sprung von der Siegessäule“ und

La duce nuit a Kreuzberg“.

Das vierte Bild ist zweiteilig, es hat zwei Titel.

Der Weg nach Fontainebleau“ und „Der Weg zurück von Fontainebleau.“ Auf einem Teil des lang gestreckten Formats ist eine Panorama Landschaft zu sehen, mit sich nach hinten verjüngenden Bäumen und auf dem anderen Teil die spiegelverkehrte Variante des gleichen Motivs.

Nach fünf Nächten habe ich so viele Bilder zusammen, wie ich für eine Ausstellung benötige.

Die komplett verkaufte Ausstellung lässt Mantem keine Ruhe. Über eine vorzeitige Beendigung der Pürtzel-Ausstellung spekulierte er länger in einem Gespräch mit Charlotte und spricht auch mich zu diesem Thema an. Lukas Pürtzel liefert keine neue Ware. Es stellt sich heraus, dass er doch verärgert ist, über die großzügige Abwicklung seiner Bilder beim Verkauf an den „russischen Mafiosi“, mit bis zu 80% Rabatt. Er fühlt sich ausgetrixt und kann nicht mehr nachvollziehen, wie Mantem es geschafft hat, plötzlich einen nach seiner Meinung modifizierten Vertrag aus dem Hut zu zaubern, in dem Mantem bei der Preisgestaltung völlige Freiheit besitzt. Nach dem Tod Pizzalottis und der Sache mit dem gestohlenen Bild drängt er Mantem auf sofortige Bezahlung, die Mantem gewährt, aber nicht ohne ihn noch einmal zu schröpfen, indem er ihm das Geld bar auszahlt, jedoch um mehrere Tausend Euro gekürzt. Pürtzel akzeptiert schließlich das Bargeld. Dann verbreitet er tagelang in der Szene negative Informationen über Mantem und verschwindet für einige Monate nach Brasilien.

Manchmal kommt der Zufall ins Spiel, und die richtige Idee im richtigen Augenblick.

Mantem ist sich nicht sicher, wie er jetzt weiter mit einer komplett verkauften Ausstellung verfährt. Er tendiert dahin, die Ausstellung von Pürtzel abzuhängen und danach sofort die Zeit für einen weiteren Künstler nutzen. In gut zwei Monaten ist die nächste Ausstellung mit einer jungen Malergruppe aus Dresden geplant. Wenn er jetzt alle Bilder an die Käufer ausliefert, hat er eine Lücke frei von fast zwei Monaten für eine weitere Ausstellung, erklärt er mir.

Seine Galerie sei jetzt „heiß“, und „das Eisen muss geschmiedet, solange der Schmied was in der Hose hat oder so,“ . Die Dresdner Maler sind leider, leider bekannt für ihre Unzuverlässig. Es könnte sein, dass die erfolgreichen Dresdner sich an keine Abmachung halten und eventuell den Termin hinauszögern oder ganz absagen.“

Aber wen kann ich so kurzfristig ausstellen?“ , fragt er mich und legt dabei seine Hand auf meinen Unterarm.

Den ganzen Morgen hat es geregnet. Auf den Tischen des gegenüber liegenden Cafes steht das Wasser in kleinen Pfützen, in denen Spatzen nach winzigen Brotresten picken. Mantem und ich schauen aus dem Fenster. Der Regen verzieht sich, und hinter den Wolken kommt die Sonne hervor. Ein Sonnenstrahl streift kurz über Mantems Gesicht und lässt es einen Moment aufleuchten. Mantem zuckt unmerklich zusammen, greift sich an die Augen und setzt seinen Monolog fort.

Die Galerie für diese Zeit zu schließen, sei nicht möglich, er habe ja Angestellte, er sagte Angestellte, nicht Mitarbeiter, die Miete für die Räume astronomisch hoch, die laufend anfallenden Kosten erheblich. „Aber wen stelle ich aus?“, wiederholt Mantem seine eher rethorisch gemeinte Frage.

Ich erinnere mich an den Arzt der Musterung für die Bundewehr, der mich vor Jahrhunderten fragte, ob ich Stimmen höre und so erwidere ich die erste Frage von Mantem mit einem eindeutigen:

Ja, abhängen“.

Dann mache ich ihm einen frischen, jungen französischen Maler aus Paris schmackhaft. Ich hatte seinerzeit für Mantem den Kontakt mit Pürtzel organisiert, und da er sich daran erinnert, zeigt er auch für den Franzosen Interesse. Etwas ungehalten reagiere ich auf seine Vorbehalte bei der Erwähnung meiner Arbeiten, die ich selbst nicht ins Spiel bringe. Ich konzentriere seine Aufmerksam ausschließlich auf den französischen Künstler.

Ich wundere mich, dass du mir nicht deine neuesten Arbeiten anbietest, wäre doch eine gute Gelegenheit, aber im Ernst, da tue ich mich schwer. Aber wie heißt das junge Pariser Talent? Hast du Material? Oder ist das alles nur Gequatsche?“

Noch habe ich Mantem nicht an der Angel. Er umkreist den Köder, schnuppert ein wenig daran und scheint zu überlegen, ob er wirklich Appetit hat.

Er heißt Blaise Vincent und ich halte ihn für ein großes Talent, noch jung, hat aber schon einige Ausstellungen gezeigt. Ich lernte ihn vor Kurzem kennen, hier in Berlin. Er hat mir Bilder auf seiner Homepage gezeigt, nicht schlecht. Der hat was drauf, guter Typ.“

Mantem nähert sich wieder dem Köder, der ihm jetzt größer erscheint als zuvor und auch leckerer aussieht.

Die Wolken haben sich ganz verzogen. In der heißen Sonne sind alle Pfützen verschwunden.

Mit langsamen Schritten geht Mantem zu seinem Schreibtisch, holt zwei Gläser und die fast leere Brandyflasche aus seinem Schränkchen, gießt den Rest in die Gläser und reicht mir eins davon.

Mit einer Armbewegung deutet er einen Trinkspruch an, dann trinkt er in einem Schwung das Glas leer. Ich stelle mein noch unbenutzte Glas auf den Tisch, drehe mich weg von Mantem und spreche in Richtung Fenster.

Ich bin mir aber nicht sicher, ob das junge französische Talent hier ausstellen will. Ich hörte, er bereite in Paris eine größere Ausstellung vor und auch in London sei man an ihm interessiert. Seine Eltern sind ja ebenfalls Künstler, Ballett und Regie, glaube ich, die müssen wohl gute Beziehungen haben. Auch soll er gerade irgendeinen Förderpreis bekommen und will mit dem Preisgeld demnächst in Berlin arbeiten.“

Blaise Vincent. Das scheint dann ja unser Mann zu sein. Kannst du bitte so freundlich sein und in den nächsten Stunden einen neuen Brandy kaufen. Aufs Haus natürlich. Morgen reden wir weiter über Blaise Vincent. Du zeigst mir dann seine Webside. Wie sich die Zeiten ändern. Homepage.“

Endlich läutet das Anglerglöckchen. Der Fisch ist an der Angel.

Später zeige ich Jack eine kleine metallene Greifklemme mit je einer Schelle am Ende, die durch leichtes Schütteln einen hellen Ton erzeugen. Ich verbinde das Objekt mit einem Rätsel und biete Jack 50 Euro, wenn er mir sagen kann, welche Funktion das Gerät hat. Jack ist kein Spielverderber.

Eine Klemme für eine Tischtuch? Ein Gerät für einen Katzenschwanz, damit man sie überall findet. Ein, äh, hmm, eine Klemme für Sexspiele?“

Alles falsch, du siehst hier einen Bissanzeiger, auch Aalglocke genannt. Rate mal wer heute angebissen hat?

Ist Carol wieder zurück?“

Dann wäre ich doch nicht hier!“

Jack kann es nicht glauben und fragt immer wieder: Blaise Vincent an der Angel von Mantem? Phantastisch, phantastisch. Wir verlassen das Lido zur Überraschung von Jenny nach einem Bier und gehen in meine Wohnung. Jack hat die Bilder des jungen Malers noch nicht im Original gesehen. Es ist spät am Abend, aber noch hell. Am Himmel stehen die Sonne und der Mond gleichberechtigt nebeneinander. Das menschliche Auge kann beide erfassen, als ob sie nur hundert Meter voneinander entfernt am blassen, dunkelblauen, Himmel hängen. Eine ungewöhnliche Konstellation an einem ungewöhnlichen Tag.

Kunst ist das Höchste im Leben“, sage ich beim betreten meiner Wohnung zu Jack. „Der Spruch ist nicht von dir“, antwortet Jack unaufgefordert und ich gebe ihm zu verstehen, das ich kein Copyright auf diesen Satz von Goethe beanspruche.

Nix Goethe, Fürst Pückler, der tolle Pückler, Gartenarchitekt, Perfektionist, Preuße und Militarist, kannste mir glauben, Königsgrätz, schon 80 Jahre alt, will der noch mal in die Schlacht.“

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