Kapitel 15
Wir stehen mitten im Zimmer. Mit einem Kochlöffel schlage ich auf einen Topfdeckel.
„Achtung Achtung, Radio Frankenstein berichtet. Sie sehen jetzt die Erfindung eines neuen Kunst- Genies. Blaise Vincent.“
Dann zeige ich Jack der Reihe nach jedes Bild. Er macht mit seiner Digitalkamera mehrere Aufnahmen, um die Bilder in der Homepage von Blaise zu stellen. www.blaise.vincent.com.
E-mailadresse: blaisevincent@freenet.de .
Jack verspricht die Homepage bis morgen früh mit den restlichen Bildern zu ergänzen und dann freizugeben.
Wir setzen uns auf das blanke Parkett des Fußbodens. Jack holt seinen Tabak aus der Gesäßtasche, fischt das Blättchenheft heraus und ein in Silberpapier eingewickeltes Stück Haschisch. Mit seinen langen Fingern dreht er einen Joint, zündet ihn an und überlässt mir den ersten Zug, ohne mich zu fragen.
Nachdem er drei tiefen Züge genommen hat und das ganze Zimmer mit Rauchschwaden vernebelt ist, fragt mich Jack, ob das Portrait an der Wand Carol darstellt.
„Du liebst sie immer noch.“
„Ich möchte, dass sie zurückkommt.“
„Hat sich die Wodkagrenze nicht verschoben? Ich meine, hast du jetzt Distanz zu ihr. Distanz ist wichtig.“
„Es fällt mir schwer. Wenn ich ehrlich bin, widme ich die ganze Blaise Aktion Carol. Irgendwann
werden wir den Vorhang lüften und dann wird sie stolz auf mich sein.“
„Ich beginne, mich mit dem Weggang meiner Partnerin abzufinden, nach zwanzig Jahren. Das hätte ich auch nicht gedacht, aber es geht, es geht.“
„Mach mir bitte die komplette Homepage fertig, ich brauch’ sie morgen. Jetzt möchte ich schlafen, sorry, ich bin verdammt müde. Das ist kein Rausschmiss.“
Jack streicht mit der Hand die Krümel vom Parkettboden in seine Plastiktabaktüte, schüttelt sie in der Luft und faltet sie dann zu einer kleinen Rolle zusammen.
„Ei, ei Sir, wird gemacht, Homepage Blaisevincentdottcom.“
Ich öffne das Fenster und lasse die warme Frühlingsluft herein. Im Badezimmer sehe ich vor dem Spiegel in mein Gesicht. Wie könnte Blaise aussehen? Wird das Foto eines Anonymen für die Aktion reichen oder brauche ich eine reale Person? An den Schläfen entdecke ich erste graue Haare.
Mit den Fingerspitzen greife ich eins davon und ziehe es mit einem Ruck heraus. Den Rest fasse ich nicht an. Unter der 60 Watt- Birne ist die graue Farbe des dünnen Haares nicht zu erkennen. Vielleicht habe ich ein falsches erwischt.
In der Nacht treten verschiedene Personen an mich heran. Es sind Portraits von Künstlern, gemalt oder als schwarz/weiss Fotografien. Das Selbstportrait von Albrecht Dürer, en face, in vorwiegend brauen Tönen gemalt mit einem Bart und langen Locken, die bis weit über die pelzbesetzten Schultern hängen und jeder Rastalockenpracht Konkurrenz machen könnte. Die seltsam gespreizte Hand genau in der Mitte des Bildes, die den Mantel zusammen hält, bewegt sich mechanisch und lässt den Blick frei für ein weiteres Portrait, das auf der jetzt geöffneten Brust Dürers erscheint:
Van Gogh, mit rotem Bart und roten Haaren vor einem aufgewühltem Himmel. Wie in einem Sciencefiktion-Film fährt die Filmmontage ganz nah an die hohen Wangenknochen des Malers heran. Sie zeigt die pastose, heftige Pinselführung und das Gemisch der Farben, die zur Haut werden. Ein kurzer Schwenk zum linken Auge des Künstlers, dann durchdringt die Linse der Kamera mühelos die grau-blau-braune Farbe der Iris und öffnet die Sicht auf das Gesicht von Frida Kahlo mit den zusammengewachsenen Augenbrauen und der Kontur eines Oberlippenbartes. Den langen Hals Links und rechts flankieren zwei pechschwarze Tiere, ein verspielter Affe und eine düster blickende Katze. In den hochgesteckten Haaren prangen zwei silberne Schmetterlinge, während ein schwarz-gefiederter Vogel in der Größe eines Sperlings mit ausgebreiteten Flügeln als Amulett am Hals der Künstlerin hängt. Hals und Schulter tragen eine aufgelöste Dornenkrone, deren braune Verästelung wie ein Kettenhemd über der Haut des Halses und dem schneeweißen Gewand der Malerin liegt. Der schwarze tote Sperling bewegt sich und fliegt auf das Foto- Selbstportrait von Max Ernst, verharrt neben den mit Kreide gemalten amöbenartigen Figuren, die über das Kinn und die Wangen des Künstlers kriechen. Auf dem Rücken einer Amöbe setzt sich die Reihung der auftretenden Künstler fort, Velasquez, Goya, Grosz, Heartfield, Beckmann sehe ich deutlich vor mir. Allein George Grosz tritt plötzlich als reale Figur auf und spricht mich an:
„Du bist ein Künstler und ein Fake ist Kunst, las dir da nix vormachen.“
Ich wache auf.
Von meinem Fenster kann ich hinter der Häuserfront auf der anderen Straßenseite das erste Licht der aufgehenden Sonne sehen. Die Straße selbst liegt noch im Schatten der Nacht. In der Baumkrone vor dem Haus haben sich Vögel festgesetzt und beginnen mit ihren Morgengesprächen. Das aufdringliche Geräusch eines herannahenden Autos kommt näher, wird stärker und verebbt wieder.
Jetzt würde ich gern einen Kaffee für mich und Carol machen und ihn ans Bett bringen, in dem Carol liegt. Bei diesem Gedanken versteift sich mein Glied und bewegt sich in einer Sekunde in die waagerechte Position, verlässt diese Stellung und verharrt in einem spitzen Winkel zum Körper. Mit einer Hand drücke ich die Versteifung herunter, was nicht gelingt. Mit der Erektion wandere ich durch die kleine Wohnung, stelle mich vor ein Blaise Vincent Bild mit einem gemalten, riesigen Kopf im Profil, einem imaginären Selbstportait, denke an Dash Snow, einen jungen New Yorker Künstler, so alt wie Blaise, der die von Warhol urinierten Bilder, die Piss pictures, in einer Weise steigerte, indem er auf einen Zeitungausriss mit einem Foto von Saddam Hussein wichste und das mit Sperma übersäte Bild in einer Ausstellung zeigte, es für fünfzigtausend Dollar auspreisen ließ und verkaufen konnte. Vielleicht bringt es Glück, wenn ich auf ein Bild wichse. Dieser Vorgang bliebe jedoch ohne Effekt, ein interner Joke. Wie ein tollwütiger Hund reisse ich an meinem Glied, immer schneller rutsch die Hand am Penisschaft rauf und runter, bis zur schmerzverzerrten Grimasse bei der Entleerung. Die Einsamkeit könnte nicht monströser sein, der Kontrast zwischen Nähe und Entfernung nicht größer. Eine gebrauchte Serviette aus dem Lido fängt die Ejakulation auf, ein ganz normales langweiliges Stück Papier, das sofort in den Abfluss der Toilette wandert, eine Befreiung.
Den Kaffee trinke ich allein.
Im Lido trinke ich den zweiten Kaffee, wie immer einen Latte machiato. Ich habe alle italienischen Varianten der Kaffeezubereitung mit Roberto durchprobiert, praktisch und theoretisch, es bleibt beim Latte, den vor ein paar Jahren noch niemand außer Roberto im Lido kannte.
Am Tresen steht ein junger Mann, der mit Krissi spricht, der Mitarbeiterin von Roswitha und Roberto, die morgens bedient. Christine, von allen nur mit Krissi angesprochen, steht heute allein hinter dem Tresen. Der junge Mann, Krissi nennt ihn Vlavi, schiebt seinen Milchkaffee in Richtung Krissi:
„Kaffee is kalt, kannst du bitte machen neu, aber heiß wie Sonne?“
Dabei neigt er seinen Kopf etwas in ihre Richtung und lächelt ihr ins Gesicht. Krissi beantwortet Frage und Lächeln ohne einen Kommentar, stellt die benutzte Tasse neben die Kaffeemaschine und beginnt mit der Zubereitung eines neuen Milchkaffees, bei dem der Kaffee heiß ist und auch die Milch. Ich habe Vlavio schon öfter im Lido gesehen, es kam sogar zu einem Wortwechsel, und ich erfuhr dass er aus Slovenien stammt, seit einigen Jahren in Deutschland lebt und irgend ein Musikinstrument spielt, klassisch.
Wir schauen beide auf die professionellen Hände von Krissi, ohne ein Wort zu sagen. Sie lässt sich bei diesem Milchkaffee sehr viel Zeit.
„Der wird richtig gut,“
kommentiere ich die ruhigen Aktivitäten an der Maschine. Vlavio schaut mich an.
„Kaffee muss heiß sein, das ist normal odär? Auch wenn mit Milch. Ich kenne das nicht anders.“
Wir stehen am Tresen, Krissi schiebt Vlavio den neuen „garantiert heißen „ Milchkaffee mit einem Grinsen im Gesicht direkt bis an seine Hände heran, die auf dem blank geputzten Tresen übereinander gefaltet liegen. Dabei stößt sie ohne Absicht die Untertasse gegen seine Hände und etwas Milchkaffee schwappt über den Rand der Tasse auf die Finger von Vlavio. Mit einem Satz springt Vlavio ein Stück vom Tresen und reibt sich die Hand.
„Ich muss aufpassen mit Hände, muss übän jede Tag. Für Orchester, Cello, ich spiele Cello.“
Krissi wischt mit besorgtem Gesicht die Kaffeeflecken von der Oberfläche des Tresen.
„Das wollte ich nicht, sorry, es tut mir Leid. Willst du einen neuen Milchkaffee?“
Der Inhalt der Tasse ist zur Hälfte ausgeschüttet. Bevor Vlavio antworten kann, beginnt Krissi mit der Produktion einer dritten Tasse für Vlavio.
Ich erfahre, dass Vlavio mit seinem Musikstudium fertig ist, in einem privaten Quartett mit dem Namen „Die vier Instrumente“ ab und zu in der Öffentlichkeit spielt und sich auf die Prüfung als Mitglied in einem großen Orchester vorbereitet.
„Ich weiß noch nicht, wälches, aber ich weiß, dass ich es schaffen werde. Dann ist endlich auch Job in Bücherei vorbei. Bücher sortieren, stundenlang Bücher, die die Leute zurück gäben, wieder einsortieren.“
Ich beiße mir auf die Zunge, um Vlavio nicht sofort einen Job als Blaise Vincent anzubieten, ohne auch im Geringsten zu wissen, auf welche Weise ich den Job vergüten könnte, und ob Vlavio überhaupt eingesetzt werden will, geschweige kann. Entweder sitzt mein positives Gefühl in der Magengegend oder versteckt sich in der Gehirnrinde, aber für mich ist Vlavio die ideale Besetzung.
„Parlez wu francaise?“ frage ich ihn
„Bien sur, tout ma familie parl francais, pourqois.“
„Ne fasch mall. Rien, petätre javä Ün job pur toa, mai nespas ojurdui.“
„Wieso sprichst du so gut Französisch, Vlavio?“
„Meine Vorfahren kommän aus Frankreich und meine Eltern haben sich immer nach Frankreich orientiert, Musik, Kultuur, Malärei, unsere kleine bescheidene Wohnung in Ljubiljana war voll davon. Ich habe sogar zwei Semester in Paris studiert, kenne Paris wie meine Hosentasche, teuer teuer. Seitdem meine Eltern ein paar Mal in Paris waren, ist die Euphorie etwas ab geebt und ich mag Berlin sowieso mehr. Berlin iss geil, Paris ist wie ein Musäum und London zu teuer, also bleibt Berlin, c’est vrais.“
Jetzt bin ich mir sicher. Vlavio könnte Blaise spielen, wenn es notwendig werden sollte.
Ich habe im Schulorchester Cello gespielt, aber schon lange aufgehört. Der Musiklehrer sprach mich eines Tages an, ob ich ein paar Übungsstunden nehmen möchte, es sei ein Schüler im Schulorchester durch Krankheit ausgefallen und mit ein paar Griffen könnte ich sofort einspringen. Ich sagte damals zu, spielte ein Jahr im Orchester und stieg danach wieder aus. Mein Interesse war gering. Meine Eltern sahen das anders und kauften mir sofort ein teures Instrument aus braunem dünnen Holz. Es steht immer noch in meiner Wohnung, ich schleppe das gute Stück bei jedem Ortswechsel von Haus zu Haus, ohne jemals einen Ton darauf zu spielen, als Dekoration macht sich das schlanke Instrument immer wieder gut.
Mit einem Fünf-Euro-Schein zahle ich beide Kaffees. Vlado bedankt sich für die Einladung und antwortet mit einem überraschenden Angebot.
„Vielen Dank, vielleicht kann ich einmal etwas für dich auf dem Cello spielen.“
Vielleicht wird es sogar ein Duett, denke ich, zwei Celli, aber dann gehen meine Gedanken mehr in die Richtung Fake und Vlavio. Ich muss ihn von dieser Aktion überzeugen.
Die Ausstellung von Lukas Pürtzel wurde inzwischen von Charlotte und Mantem abgehängt und die verkauften Bilder den jeweiligen Käufern ausgeliefert. Bei einer Tasse Espresso spricht mich Charlotte auf meinen seelischen Zustand an. Sie vermutet weiterhin Depressionen bei mir und empfiehlt eine Yoga-Lehrerin, die sie vor einigen Tagen im Berliner Zoo kennen gelernt hatte.
„Ich stehe gerade am Flamingokäfig, also kein Käfig, ich meine am Gelände der Flamingos, das sind die mit der schönen rosa Farbe und den dünnen Beinen, als neben mir eine Frau die Bewegung eines Flamingos imitiert und regungslos auf einem Bein steht. Ich schaue mir das eine Weile an, niemand weit und breit. Sie schaut mich an, dann fordert sie mich auf, ebenfalls den Flamingo zu machen. So sind wir ins Gespräch gekommen. Yoga, ich sage dir Yoga, das bringt es. Yoga wäre gut für dich und deine Carol-Qualen. Ich habe sie gefragt und sie hat mir gesagt, Yoga hilft gegen alles.“
Mit einem Ruck stehe ich auf, ziehe mir einen Schuh aus und mache zur Verblüffung Charlottes „Den Flamingo“, die Stellung, mit seitlich angewinkeltem Bein. Dabei drückt die Fußsohle in Höhe der Kniekehle auf das zweite Bein. Das Gleichgewicht ist schwer auszubalancieren. Ich strenge mich so sehr an, dass ich nach einigen Sekunden aufgebe und umkippe.
„Die Yoga-Lehrerin und der Flamingo standen mindestens zehn Minuten in völliger Ruhe in dieser Position. Da muss man hinkommen, dann kann einem nichts mehr passieren.“
Mit einer japanischen Höflichkeitsverbeugung, die zusammengelegten Hände mit den Fingerspitzen am Mund, bedankte ich mich für die Aufmerksamkeit bei Charlotte.
„Mantem hat mir erzählt, du kennst da so einen jungen talentierten Maler, aus Paris, ist der wirklich so gut? Also, Mantem denkt daran, den auszustellen, obwohl er noch nichts gesehen hat.“
„Na ja, so gut kenne ich ihn auch wieder nicht, sehr sympathisch, Mitte zwanzig, hat echt tolle Bilder. Ich zeige dir seine Homepage. Blaise heißt er, Blaise Vincent, ist Franzose, lebt in Paris, hat aber vor, nach Berlin zu ziehen. „ Berlin arm, aber sexy“, sagte er mir. Für den würde ich mich ins Zeug legen, mal sehen, vielleicht spiel’ ich den Agenten. Quatsch, aber ich habe ihn Mantem wärmsten empfohlen und auch schon Bilder organisiert. Sie sind bei einem Bekannten von mir zwischengelagert, der kennt eine Frau, die hat eine Schwester und deren Freund ist Blaise begegnet und bei dem Freund sind die Bilder.“
Wir sitzen vor dem Bildschirm. Ich schaue zum ersten Mal auf die Homepage von Blaise Vincent.
Jack hat gute Arbeit geleistet. Die Bilder stehen auf weißem Grund. Der knappe Text ist durchgängig in englischer Sprache. Die sehr schnell angefertigten „ 5- Minuten Bilder“ von Blaise wirken in kleinem Format auf dem Monitor sehr professionell. Insgesamt macht die Homepage einen guten Eindruck. Ich werde Jack heute Abend ein Extra-Bier ausgeben und ihm als Honorar ein Bild exklusiv von Blaise Vincent anbieten. Der Mann ist jetzt schon eine Aktie.
„Der ist ja wirklich nicht schlecht. Eltern Künstler, sehr interessant, und ausgestellt hat er auch schon. Ich bereite schon mal eine Einladungskarte vor. Mantem sagte mir, er wolle ruckzuck die Bilder an der Wand haben, für einen Monat, bis die Dresdner kommen.“
Am Nachmittag schaut Mantem auf die Homepage, klopft mir mit der flachen Hand kurz auf die rechte Schulter und gibt dann grünes Licht. Mit fällt ein Stein, mehr noch, ein ganzer Felsbrocken vom Herzen, und ich strahle Mantem an, so als ob er mir gerade eine Retrospektive meiner eigenen Arbeiten in seinen Räumen angeboten hätte, mit Katalog, durchgängig in Farbe.
„Dann probieren wir das Mal mit dem Franzosen. Du kümmerst dich um den, ist das klar! Das ist dein Mann. Nächste Woche ist Eröffnung. Umsatz. Raus, es muss alles raus.“
Diese spontane Aktivität von Mantem erzeugt bei mir ein unangenehmes Gefühl. Ich mache mir plötzlich selbst Vorwürfe, bekomme sogar leichte Skrupel. Ist das alles richtig, was ich gerade mache? Schnell verscheuche ich diese Gedanken, sie könnten den Fluss meiner Aktivitäten behindern. Schließlich verstehe ich das Experiment als post-dadaistische Kunstaktion und bin daher für alles legitimiert. Es geht um eine gewisse Transparenz auf dem Kunstmarkt. Es geht um die Mechanismen, die greifen, damit ein Künstler auf dem Kunstmarkt überhaupt erst einmal wahrgenommen und dann aufgebaut wird. Ich erinnere mich erneut wieder daran, dass das ganze Vorhaben eine komplexe Performance ist mit kritischen Aspekten ganz im Sinne von John Heartfield, Raoul Hausmann und George Grosz, die mit radikalen Auftritten gegen das bürgerliche Kunstestablishment, Anfang der 20er Jahre, mit ihrem DADA Salon und der „Ersten Internationalen DADA -Messe protestierten. Damals provozierten Montage und Collage, Simultangedichte und Alltagsgegenstände die an bunt gemalte Bilder gewöhnten Bürger.
Die Spuren sind gelegt, jetzt heißt es konkret, den Maler zu positionieren, auch auf Kosten eines wütenden Galeristen, der mich in die Wüste schicken wird. Aber vielleicht scheitert das Experiment, vielleicht interessiert sich niemand für den Künstler. Ich werde selbst an der Publicityschraube drehen müssen, damit der optimale Effekt für den Maler herausgeholt wird.
Aber wie? Irgend etwas wird mir schon einfallen. Marketing.
Jack ruft an und schlägt vor, da er unvorhergesehen zwei Stunden Zeit hat, mich in der Galerie zu besuchen. Ich äußere meine Begeisterung über die gelungene Webside von Blaise Vincent und verabrede mich in der nächsten halben Stunde mit ihm in der Galerie, die er noch nie gesehen hat. Wir schauen uns die Webside noch einmal gemeinsam an.
Charlotte beginnt ihre Arbeit in der Galerie, einen Blumenstrauß in der Hand. Ich habe vor, sie nicht in die Aktion einzuweihen. Nach der üblichen Begrüßung, mache ich sie mit Jack bekannt. Danach zieht Charlotte sich in die Küchenecke der Galerie zurück. Dort ikebanisiert sie lange und sorgfältig die Blumen in einer durchsichtigen Glasvase.
„Ich mache mir einen Espresso, wollt ihr, oder Sie auch einen?“
Wir stimmen diesem Vorschlag sofort zu und besprechen den Transport der Blaise Vincent Bilder in die Galerie. Da die Ausstellung in der Galerie Mantem gezeigt wird, ist es nicht notwendig, konspirativ zu arbeiten. Charlotte beteiligt sich an der Diskussion über die kommende Ausstellung und übernimmt Teile der Organisation. Jack lobt den guten Espresso und Charlotte strahlt. Beim Absetzen der Tasse rutscht ihre Hand mit der Tasse aus und landet auf dem Knie von Jack. Die Tasse liegt am Boden, Jack hebt sie sofort auf und bemerkt einen kleinen Kaffeefleck auf seiner Jeanshose. Mit dem Satz „Der geht gleich weg, eine Sekunde,“ springt Charlotte zum Spülbecken und holt ein feuchtes Handtuch, mit dem sie lange auf dem Knie von Jack reibt. Anstatt das Handtuch selbst zu benutzen, reagiert Jack wie eine Schaufensterpuppe und bleibt steif sitzen. Das muss der Augenblick gewesen sein, wie mir Jack später erzählte, an dem er ein leichtes Kribbeln im Bauch spürte. Ich hatte von der Annäherung der beiden nichts bemerkt, meine Gedanken kreisten nur um Blaise.
Jack bringt die benutzte Tasse in die kleine Küchenecke der Galerie, in der Charlotte erneut die Anordnung der Blumen in der Blumenvase ändert. Es dauert lange, bis Jack aus der Blumenecke zurückkommt und ich schon etwas ungeduldig werde. Es gibt noch eine Menge zu besprechen.
Die roten Ohren, die mir sofort auffallen, leuchten hell, seine Hände zittern.
„Jack, was ist los? Ist dir nicht gut?“
„Alles in Ordnung, kein Problem. Ich habe da einen Vorschlag, was Misjö Blaise Vincent betrifft, hör zu. Oder besser noch, wir gehen zu Curry 36, ich habe plötzlich so einen Heißhunger auf eine ohne Darm, aber mit Curry und Mayo, Pommes vielleicht.“
Charlotte kommt aus ihrer Blumenecke hervor und fragt, ob es uns etwas ausmache, wenn sie uns begleitet. Sie hat großen Hunger. Charlotte, die Vegetarierin, möchte eine Currywurst essen, mit mir und Jack, seltsam. Jack ist einverstanden, ich nicht. Mir ist es lieber, Jack geht mit mir allein zur Curry-Bude, damit wir uns über den Fake unterhalten können.
„Also gut, gehen wir alle drei zu Curry 36“, aber jeder muss eine Wurst essen.“
Millionen Fliegen können sich nicht irren, dieser Satz fällt mir immer wieder ein, wenn ich an der Curry 36 Bude vorbei komme. Aus arbeitstechnischen Gründen passiere ich fast täglich diese bekannte Berliner Futterkrippe, die seit dem Mauerfall nur eine Konkurrenz in der 3,5 Millionenstadt hat, Konopke, Schönhauser Allee, Prenzlauer Berg. Meine Straßenführung führt mich etwa fünfzig Meter an diesem Currystand vorbei, so dass ich nicht durch den Wurst- Curry- und Ketschupgeruch, gemischt mit dem Duft frisch gebratener Pommes, vom Fahrradweg abkomme, scharf nach rechts abbiege und mich in eine der Schlangen stelle, die auf die heiß ersehnte Ware wartet. Ich habe diesen traditionellen Curry-Standort noch nie leer gesehen, weder um neun Uhr morgens noch um elf Uhr abends. Immer hängen Trauben von vier bis sechs Essern um die brusthohen weißen Tische vor der Ausgabe, auf dem Bürgersteig und jeder Einzelne lächelt vor sich hin und pickt mit einer daumenlangen Holzgabel mit drei kleinen Zacken in das beliebte Standardgericht,Currywurst mit Pommes, je nach Wunsch „mit“ oder „ohne“ Darm. Manch einer fragt auch nach einer Portion Mayonaise, die meisten bleiben jedoch bei ihrem Klassiker, dem Set von Pommes mit Currywurst. Die Variante mit Darm sieht etwas rosiger, fleischiger aus und wirkt bissfester, die ohne Darm, hat eine hellere Farbe, die auch weicher zwischen den Zähnen schmeckt.
Einigen reicht eine Portion nicht, sie fassen nach und stellen sich wieder in die nicht abreissende Schlange und warten geduldig, bis sie an die hohen Glasscheiben herantreten können, hinter denen in zwei parallelen Abteilungen acht bis zehn Braterinnen und Brater agieren. An diesem Ort gibt es keine Kurzarbeit, hier wird rund um die Uhr gebruzzelt und immer wieder neue Würste auf das heiße flache Eisen gelegt.
“Mit oder ohne Brot? Zwei Cola bitte. Eine mit Darm, eine ohne. Auf die Pommes bitte auch noch Ketchup“ Curra mit, Curry ohne!
Das ist das Vokabular, das man hört, wenn man den Widerstand aufgegeben hat und sich einreiht, um an diese Köstlichkeit zu kommen. Ich höre, dass einige aus Tegel angereist sind, um sich hier, an der belebten Kreuzung aufzuhalten, zwei bis drei Portionen genießen und danach einen Kneipenrundgang durch Kreuzberg beginnen. Am Ende der Nacht kehrt man wieder bei der Station Curry 36 ein, nimmt eine letzte ohne Darm und fährt vergnügt in den Norden der Stadt zurück.
Wer der Erfinder der Currywurst gewesen ist, lässt sich nicht mehr ganz genau beweisen. Uwe Timm, ein Schriftsteller aus Hamburg, meint in seinem Buch „Die Erfindung der Currywurst“, dass diese unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg von einer Frau in seiner Verwandtschaft kreiert wurde, doch einen Beweis ist auch Timm bisher schuldig geblieben. Dass die Currywurst
ausgerechnet bei den Fischköpfen in Hamburg das Tageslicht erblickt haben soll, ist eher unwahrscheinlich, denn so wie Havel und Spree oder Brandenburger Tor und Wowereit, so passt die „Cörriwurscht“ doch eher zu Berlin als zu Hamburg. Sie ist eine der wenigen kulinarischen Größen, in der sonst eher ärmlichen Küche in und um Berlin. Auch wenn sich auf diesem Gebiet in den letzten Jahren einiges geändert hat durch den Zuzug internationaler Küchen, wie der italienischen und der türkischen (dem heiligen Vater und Allah sei Dank).
Hier spricht niemand über die laufende oder anstehende Diät, Trennkost und Atkins sind nie gehörte Begriffe, hier wird gegessen, was auf den Tisch kommt, in schalenförmigen Pappbechern, die am oberen Rand in muschelartigem Design auslaufen. An den Seiten stehen ein Meter hohe Papierkörbe, schnell bis an den Rand gefüllt. Nie habe ich eine Rest Pommes oder Currwurst im Korb gesehen, achtlos weggeworfen. Hunderte übereinander geschichtete, mit rotem Ketschuprest verschmierte Pappschalen warten auf ein Recycling.
„Drei Mal im Jahr ist kein Mal, also los jetzt,“ sage ich zu Jack und Charlotte, die einfach nur im Raum herum stehen und sich anschauen. So sympathisch Charlotte auch ist, gerade in diesem Augenblick wünsche ich sie mir an einen anderen Ort.
Schweigend gehen wir auf der Straße entlang. An einer Bushaltestelle liegen Papierfetzen und Zigarettenkippen. An den Straßenbäumen hat sich das zarte Grün der aus den Knospen geschlüpften Blättchen in fast ausgewachsene, sattgrüne Blätter verwandelt. Je näher wir dem Currywurststand kommen, um so schneller bewegen sich unsere Füße. Am Stand hat sich eine Menschentraube gebildet, es ist Mittagszeit und wir reihen uns in die anstehende Schlange ein.
An einem gerade frei gewordenen Stehtisch hält Charlotte ihr erstes Stück Currywurst in die Luft und bewegt es mit einem Lächeln in die Nähe von Jacks Mund. Der schnappt sich den Bissen und lobt die perfekte Herstellung.
„Das ist ja köstlich, auch in Anbetracht der tausend Kalorien, die in so einer Wurst stecken. Die Franzosen kennen ja keine Currywurst, jedenfalls habe ich noch nie eine dort gegessen,“ sagt Jack und schluckt ein weiteres von Charlotte angebotenes Stück Wurst.
„Wir können ja demnächst einmal unseren neuen Künstler Blaise Vincent fragen, ob er in Frankreich schon einmal eine Currywurst gegessen hat, Charlotte, was meinst du?“
„Das ist mir so was von egal, Hauptsache, er malt gute Bilder, jedenfalls solche, die mir gefallen.
Wie sind die denn im Original, du hast ja schon einige gesehen oder?
„Also, ich finde sie gut, Blaise Vincent besitzt einen interessanten Strich, sehr farbig und nicht ohne Ironie. Jack hat auch schon Bilder von ihm gesehen. Sie haben ihm gefallen, er konnte aber nicht viel dazu sagen, weil er mehr Theoretiker ist, Sprache usw. Sag doch auch mal was Jack.“
„Ich wollte eigentlich in Ruhe meine Currywurst essen und werde mir noch eine zweite holen. Nein, besser, wir teilen uns eine,zu dritt, Ok?“
Ohne eine Antwort abzuwarten stellt sich Jack in die Schlange.
„Der ist aber nett, der gefällt mir. Warum hast du mir den noch nicht eher vorgestellt?“
„Ja, nett ist er wirklich, aber jetzt kann ich dir auch mal einen Tipp geben, aber nur, weil wir uns so gut verstehen. War zwanzig Jahre mit der gleichen Frau verheiratet. Da ist aber nix mehr, sie sind getrennt, richtig getrennt, pssst, er kommt zurück, du kannst mich jederzeit ansprechen.“
Gemeinsam machen wir uns mit jeweils einer kleinen Holzgabel über die neue Currywurst her, auf der sich Jack noch einen Klacks Mayonaise spritzen ließ. In zehn Sekunden sind die klein geschnittenen Stücke aus der roten Soße verschwunden. Charlotte schlägt eine weitere Runde Currywurst vor, die wir beide ablehnen, genug ist genug.
„So, jetzt lasse ich euch allein. Charlotte, ich bin in einer Stunde wieder zurück, Jack, habe die Ehre, wir sehen uns.“