Kapitel 16
In der Gemäldegalerie bin ich fast der einzige Besucher. Ich habe Jack und Charlotte nicht gesagt, wohin ich gehe. An diesem Ort fällt der Stress von mir ab, hier kann ich abschalten und gleichzeitig immer wieder neue Eindrücke aufnehmen.
Die Galerie besitzt eine der weltweit bedeutendsten Sammlungen europäischer Malerei vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, Meisterwerke aus allen kunsthistorischen Epochen, darunter Gemälde von Bruegel, Tizian, Caravaggio, Rubens, Rembrandt und Vermeer. Die altdeutsche Malerei der Spätgotik und Renaissance zeigt eine Fülle namhafter Künstler wie Albrecht Dürer, Cranach und Holbein.
Ich betrete den Saal mit Rembrandt-Gemälden, der durch seine zentrale Lage im Museum hervorgehoben ist. Die Sammlung gehört mit sechzehn Werken des Künstlers zu den größten und qualitätsvollsten der Welt, darunter das Bild „Simson droht seinen Schwiegervater“.
In den Neben- und Nieschenräumen um den prachtvollen Rembrandtsaal herum, entdecke ich das eine oder andere neue Gemälde der holländischen und flämischen Malerei des 17. Jahrhunderts mit Bildnissen, Genrebildern, Interieurs, Landschaften und Stillleben. Es ist ein Vergnügen, die gut komponierte Reihung der holländischen Genrebilder mit ihren amüsanten Szenen aus Spiel und Tanz, Genuss und Erotik zu betrachten. Die hohen Räume schlucken jeden Laut, die wenigen inzwischen aufgetauchten Besucher flüstern vor den kostbaren Bildern. Obwohl das Gebäude erst vor einigen Jahren eröffnet wurde, scheint in den verschiedenen Kabinetten der Dauerausstellung eine nach gelagertem Holz riechende Patina zu sitzen, die mich an das jeweilige Mittelschiff von verschiedenen Kirchen erinnert, mit Resten von ausgeblasenen Kerzen, mit Moder und Myrre.
Sicherlich wird dieser spezielle Geruch durch die Konsistenz der verschiedenen Malgründe und der unterschiedlich gefertigten Bilderrahmen erzeugt. Die Bilder leben, nicht nur in ihren Motiven, sie atmen durch ihre vom Künstler grundierten Stoffe der Leinwände und der benutzen Farben.
Die Gemäldegalerie eignet sich für einen Kontakthof, denke ich. Über das Medium der Malerei kann man, wenn man es will, auf einfache Weise zu einem Dialog mit einem anderen Menschen kommen. Der kulturelle Hintergrund dient als Eintrittskarte. Wer in die Gemäldegalerie geht, allein oder mit einer Freundin, hat Interesse an der Malerei, an guter Malerei und ist für eine fortzuführende Kommunikation geeignet. Vielleicht schlage ich zwei bis drei Mal in der Woche meine Zelte in den heiligen Hallen auf, schlendere an den Bildern entlang und suche meine Partnerinnen. Sex, kurz oder langfristig will ich nicht ausschließen. Jedoch, diese Gedanken sind graue Theorie, die Praxis ist von Carol besetzt. Das ist paradox, gerade wegen ihrer permanenten Unsichtbarkeit.
Zum Schluss meines Rundganges suche ich noch einmal das Portrait des Kaufmanns von Gisze auf,
gemalt 1532 von Hans Holbein, dem Jüngeren. Carol wusste alles über dieses Bild, und oft standen wir in den ersten Monaten unseres Kennenlernens vor diesem genau gemalten Portrait mit seinen vielen allegorischen Anspielungen, wie den zarten Nelken in der bauchigen Glasvase, die am Rand des mit einem kostbaren Tischtuch belegten Tisches steht. Der kostbarr gekleidete Kaufmann sitzt mit Notizblättern arbeitend an dem Tisch, den Blick auf den Betrachter gerichtet. Die Nelke gilt in der frühneuzeitlichen Malerei als Verlöbnissymbol, erklärte mir damals Carol, die am Gymnasium als Leistungsfach Kunst wählte und im Abitur über das Holbein Bild referierte. Die meisterliche Bearbeitung, und ich erinnere mich in diesem Augenblick noch genau an ihre Worte, also, die Bearbeitung der verschiedenen Stofflichkeiten wie Glas, Pflanzen, Teppich oder der Kleidung, die mache das Bild zu einem bedeutenden Hauptwerk der Renaissance. Ich gehe ein paar Schritte vom Bild weg, dann nähere ich mich wieder dem Portrait des Kaufmannes. Es ist, als ob Carol neben mir steht, so zeitlos wirken die Bilder an den Wänden. Nichts hat sich verändert. Der Kaufmann hängt am gleichen Ort, in der gleichen Höhe, mit dem gleichen Abstand zu den anderen Bildern, anscheinend schon immer.
An den Rändern der Galerie befinden sich Ruheecken mit großzügigen Holzbänken in hellbraunen Farbtönen. Sie sind so positioniert, das man durch die hohe Glasscheibe nach draußen sehen kann.
Ich setzte mich, blicke auf grüne Büsche und eine Gebäudefront.
Carol geht mir nicht aus dem Kopf und nicht aus dem Herzen. Ich spüre Stiche in der Brust, sie kommen von Carol. Adieu Kontakthof, welcome Carol, always.
Am Abend male ich noch zwei Blaise Vincent Bilder, als Grund dienen mir ein altes weißes Bettlaken und ein Stück Packpapier. Anschließend telefoniere ich mit Jack und wir treffen uns im Lido. Wir sprechen über die weitere Vorgehensweise des Fakes. Jack schwört mit drei Fingern in der Luft, „kein Sterbenswörtchen habe ich mit Charlotte geplaudert, Charlotte ist übrigens eine wunderbare Frau.“ Ich vertraue ihm. Die vorläufig einzige Schwachstelle sehen wir in der permanenten Abwesenheit des Künstlers. Ich schlage vor, mit Vlavio unter dem Deckmantel größter Verschwiegenheit prophylaktisch zu sprechen, um auszuloten, ober er überhaupt willig ist, sich an der Aktion zu beteiligen. Bei der Eröffnung der Ausstellung von Blaise Vincent wird es ins Profil des jungen französischen Künstlers passen, dass er mit der Geste der Abwesenheit eine gewisse Unbekümmertheit und Coolness zeigt, später wird seine punktuelle Anwesenheit notwendig sein.
Jack trinkt nur ein Bier. Auf meine Frage, warum so wenig, meint er, Charlotte hätte ihm geraten, weniger zu trinken und warum soll er nicht auf Charlotte hören. Sie sei für ihn eine „respektable Person“. Er wisse nicht mehr, was es heißt verliebt zu sein, aber sein jetziges Gefühl käme dieser Vorstellung sehr nahe.
„Jack, das wird schon schief gehen. Ganz langsam kommen lassen, aber was sage ich dir. Für mich gibt es keinen neuen Ansatz, keine Variante, immer wieder kehre ich zurück zu Carol. Ich denke, ich kann ohne sie nicht leben.“
„Du musst es ja nicht gleich jedem weiter erzählen, aber, er ist eine wunderbare Sache, jemandem plötzlich wieder ganz vertraut zu sein. Ich dachte, das funktioniert bei mir nicht mehr, ich bin damit durch. Aber nix da, es kommt wieder etwas Neues und so sollte es bei dir sein, loslassen heißt die Devise, einfach loslassen.“
„Ja, das sagst du so, du hast jetzt deine Ablösefrau gefunden, bei der du sicherlich nicht lange bleiben wirst, arme Charlotte.“
„Moment, Moment, keine Ahnung, was aus uns wird, vielleicht ist Charlotte meine zweite Frau fürs Leben oder auch nicht, bitte rede nicht so soziologisch, psychologisch verquer von einer Ablösefrau. Das klingt so desillisionierend, das mag ich überhaupt nicht.“
Ich gehe an den Tresen und frage Jenny, ob sie einen Vlavio kennt.
„Du meinst den netten Vlavi, ja natürlich kenne ich den, warum?“
„Hast du irgendeine Telefonnummer oder Adresse von ihm?“
„Nein, aber die kann ich leicht bekommen, wann brauchst du sie?“
„Eigentlich schon gestern, aber hier hast du meine Nummer, vielleicht kann er mich anrufen. Wenn du ihn siehst, sag ihm, es geht um einen Job.“
Jack bestellt einen Radler, ich ein normales Pils. Zwei Themen beherrschen unseren Dialog, Blaise Vincent und unser Verhältnis zu Frauen. Jack sieht sich jetzt schon fest in einer neuen Beziehung mit Charlotte, ich sehe einen neuen Kometen am Kunsthimmel, Blaise Vincent.
Draußen, auf dem nach Hauseweg, spüre ich die Wärme der ersten schwül heißen Nacht in diesem Jahr. Durch den fast vollen Mond wirkt die Nacht hell wie am Beginn des Abends. Mein Körper wirft unter der Straßenbeleuchtung in der Bewegung einen immer größer werdenden Schatten, der in der Dunkelheit verschwindet, und unter dem nächsten Lichtkegel am Boden wieder als kleine gestauchte Figur auftaucht, sich erneut zu einem schmalen Riesen auf einer Hauswand streckt und dann verflüchtigt.
In der Wohnung sortiere ich die Blaise Malerei, wähle von den bisher elf Bildern neun aus, wickele jedes einzelne in eine Noppenfolie und beschrifte die Bilder mit immer der gleichen Adresse des Absenders: Blaise Vincent, Paris, rue Edith Piaf 77.
Nach den ersten drei Adressen werde ich unsicher, ob die Adresse überhaupt in Paris existiert.
Im Internet finde ich keine „rue“, sondern einen Place Edith Piaf. Ich ändere daher die Adresse in
Blaise Vincent, Place Edith Piaf 7, 75020 Paris. Ich unterbreche die Beschriftungsaktion. Mir wird plötzlich bewusst, auf was für dünnem Eis ich mich bewege. Ich lege mich auf das Bett und atme langsam.
Mit einem Ruck stehe ich wieder auf. Nach einer viertel Stunde ist jedes Bild ist mit einem Absender versehen, schwarz auf weiß. Es gibt jetzt kein Zurück mehr.
Das Telefon klingelt und sofort vermute ich in einem nicht abzustellenden Automatismus, Carol ist am Telefon. Es meldet sich eine Stimme, die ich zuerst nicht erkenne. Es ist die Stimme von Vlavio, dessen Anruf ich heute nicht mehr erwartet habe. Wir verabreden uns für den nächsten Tag in der Mundbar.
In der Nacht schlafe ich unruhig, wache auf, koche einen Tee, der mich nicht beruhigt. Am dunklen Himmel steht der volle Mond. Ich stehe vor dem Fenster, blicke auf die ruhige Straße. Der erste Fußgänger geht zur Arbeit, es wird langsam hell. Der Tag beginnt und ich versuche noch ein wenig zu schlafen.
Um neun Uhr steht der Fahrer des Transportunternehmens vor der Tür, um die Bilder von Blaise in die Galerie zu bringen. Gemeinsam tragen wir die eingepackten Bilder in das Auto. Obwohl es aus versicherungstechnischen Gründen nicht erlaubt ist, als Beifahrer mit zu fahren, frage ich den Fahrer ob ich ihn bis zur Galerie begleiten darf. Er ist einverstanden, sagt auf der ganzen Fahrt jedoch kein Wort. Die Eröffnung der Ausstellung mit dem Titel „Blaise Vincent- frische Malerei“ wird in vier Tagen sein.
Vlavio begrüßt mich mit einem Handschlag. In der Mundbar ist es um zehn Uhr, eine Minute nachdem die Tür geöffnet wird, noch völlig leer. Wir bestellen beide einen Espresso und ich beginne jetzt erst zu überlegen, wie das Gespräch mit Vlavio laufen könnte. Vlavio trägt dunkle und längere Haare, die man ab und zu bei besonders gut aussehenden Männern in seinem Alter sieht, ganz im Gegensatz zur offiziellen Mode, bei der die meisten fast kaum noch Haare zeigen, ihre Frisur besteht aus Millimeter langen Haarstoppeln. Wie ein Schatten liegen seine frisch rasierten Barthaare auf Backenknochen und Kinn. Er benutzt das gleiche Rasierwasser wie ich, Dior No 5.
„Ah, ich rieche etwas. Ich benutze auch Dior 5, meine Freundin mag diesen Geruch, sie hat mich drauf aufmerksam gemacht, und jetzt bleibe ich dabei.“
Vlavio reagiert sofort auf meine Bemerkung.
„Ich haben diese Duft auch von Freundin, aber nur eine Flasche, ist zu teuer, war Geschenk. Freundin weg, Flasche fast alle, nur Tropfen.“
Mit einem kleinen Löffel kratze ich den braunen Zucker aus dem Boden der Espressotasse und fange an, Vlavio mit einfachen Worten den Grund unseres Treffens darzustellen. Ich erkläre ihm seine mögliche Rolle als französischer Künstler und die Anlässe seines Einsatzes. Zuerst versteht Vlavio überhaupt nicht, was ich will, dann sagt er plötzlich zu, verlangt für seine Tätigkeit aber auch ein Honorar, das ich ihm spontan zusage.
„Ich wollte schon immer große Schauspieler werden, nicht wie Hamlet eher wie Jonny Depp, das ist große Mann, ist auch mit Französin verheiratet und hat Kinder. Bin ich auch verheiratet in Rolle?“
„So weit sind wir noch nicht, du wirst erst eingesetzt, wenn es notwendig ist.“
„Aber ich kann Cello spielen schon bei die Vernissage und Künstler sein, warum nicht. Ich sprechen französisch, ich liebe Picasso, warum nicht und ich sagen kein Wort zu niemand über diese Sache, wirklich zu niemand, ich schwöre bei meiner Mutter.“
„Du musst nicht schwören, ich vertraue dir, das ist Männersache. Aber du bleibst im Hintergrund, darfst die Sache nicht übertreiben, ganz ruhig bleiben. Also, du bist dabei. Wie heißt du?“
„Ich bin Blaise Vincent, eine junge geile Künstler aus Frankreich, der nach Berlin geht in die geile Stadt und dort große Erfolge haben wird.“
„Genau so ist es. Hier, sind die Daten aus deinem Leben. Die musst du dir merken.“
„Aber mon Dieu, ich kann doch gar nicht malen, ich meine, geht das denn, kann man das denn einfach so machen, diese Fake?“
„Natürlich kann man machen und du musst cool bleiben, ganz cool. Das ist eine Performance und du spielst diesen Künstler, alles klar? Also, ich rufe dich an, wenn wir dich als französischen Künstler brauchen. Du bist Blaise, meinetwegen kannst du bei der Vernissage Cello spielen, vielleicht macht sich das ganz gut, wenn du dein Instrument in der Hand hast und auch spielen kannst. Aber das kann ich nicht alleine entscheiden, das entscheidet der Galerist, Herr Mantem. Einen Moment…..“
Ich unterbreche das Gespräch und renne auf die Straße. An den großen Fensterscheiben der Mund Bar sah ich eine Frau vorbei gehen und ich bin mir sicher, es war Carol. Ein Blick nach rechts, ein Blick nach links, gerade sehe ich, wie Carol an der nächsten Straßenecke verschwindet.
Mit schnellen Schritten laufe ich, wie mit einem Schlüssel im Rücken und aufgezogener Feder, in ihre Richtung. Mein Herz schlägt laut, ich höre es, ich spüre eine ansteigende Feuchtigkeit auf meiner Haut, verlangsame das Tempo, starre im Gehen auf ihren Rücken, auf das gut sitzende graue Kostüm. Sie öffnet die Tür eines Knopffachgeschäftes und betritt den Laden Ich bleibe still stehen und finde nicht den Mut , zwanglos in den Knopfladen zu gehen, bleibe an der Fensterscheibe stehen, den Blick auf Carol im Laden gerichtet. Sie wendet mir jetzt im Gespräch mit einem Verkäufer, ihr Profil zu und….
Was für eine Enttäuschung, es ist nicht Carol, es ist eine Frau, die ich nicht kenne. Erst jetzt werden meine Knie weich, ich verspüre einen trockenen Hals, lehne mich an die Hauswand, auf meiner Netzthaut setzt sich ein grauer Schleier fest. Im Magen verschieben sich Kaffee, Alkohol und Speisereste zu einem übel werdenden Gemisch. Ich lehne mich mit dem Rücken an die Hauswand, suche mit den Händen Halt im porösen Farbauftrag. Gleichzeitig schießen mir Gedanken durch den Kopf, wie lächerlich meine Körperhaltung auf der Straße wirken könnte, besinne mich, wieder langsam, in langen Zügen, auf meinen Atem zu konzentrieren.
Die Frau kommt aus dem Laden, geht an mir vorbei, bleibt stehen.
„Geht es ihnen nicht gut. Kann ich helfen?“
„Nein, danke, ja, es geht schon, vielen Dank.“
„Sind sie sicher? Sie sind ja ganz blass im Gesicht. Am besten, Sie setzten sich auf die Stufe des Einganges hier.“
„Nein, nein, danke, das ist nicht nötig, alles in Ordnung. Mir war nur kurz etwas flau, aber jetzt ist wieder alles im Lot, vielen Dank.“